Jenseits der Zeit - Historischer Mystery-Thriller. Michael Vahlenkamp

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Название Jenseits der Zeit - Historischer Mystery-Thriller
Автор произведения Michael Vahlenkamp
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753180083



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Silhouette in der Dunkelheit. Jacob geriet aus der Puste und verwünschte innerlich den Müller, der vor langer Zeit sein Haus nicht direkt an der Mühle, deren Bauplatz ja wahrscheinlich windgünstig ausgewählt worden war, sondern am See haben wollte.

      Kurz bevor er bei der Mühle ankam, hörte er Rufe. Zuerst Herolds Stimme, dann riefen sich zwei fremde Männerstimmen etwas zu. Anschließend erklangen Schritte in verschiedene Richtungen.

      Er erreichte die Mühle, stolperte über einen am Boden liegenden Gegenstand, fing sich wieder und ging vorsichtig hinein. Es war niemand mehr dort.

      Stattdessen fiel ihm, neben einem strengen Geruch, sofort auf, dass der Mahlstein nicht dort war, wo er hingehörte, sondern auf dem Boden lag. Er nahm eine Laterne und entzündete sie. Als er nacheinander alles ausleuchtete, erkannte er das ganze Ausmaß der Beschädigungen.

      Die Ursache des Geruchs befand sich gleich neben dem Mahlstein auf dem Boden: Der Übeltäter hatte dort seine Notdurft verrichtet. Nach der Größe des Haufens zu urteilen, musste er lange damit zurückgehalten haben.

      Neben dem Haufen wiederum lag ein längliches Stück Holz. Jacob brauchte eine Weile, bis er begriff, dass es sich dabei um den Hebel der Bremse handelte. Das Mehlrohr lag dort herum und viele Holzsplitter, die offenbar von den Getrieberädern stammten, denn die lagen ebenfalls auf dem Boden. Die Namen der Räder bekam Jacob ständig durcheinander: Eines war das Stockrad und eines das Stirnrad. Und dann gab es noch das Kammrad. Welche auch immer das waren, sie waren kaputt. Den Namen des riesigen, senkrechten Bauteils kannte Jacob: Das war die Königswelle. Auch dort hatten sich die Rabauken zu schaffen gemacht. Aber mehr als ein paar Macken, die wohl von Äxten stammten, hatten sie der Königswelle nicht beifügen können.

      Als Jacob den Umfang des Schadens realisierte, wurde sogar ihm klar, dass die Mühle nicht mehr funktionieren konnte. Somit hatten sie jetzt keine Möglichkeit mehr, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

      Er ging hinaus und fand einen Mühlenflügel auf dem Boden liegend. Darüber war er also gestolpert.

      In einiger Entfernung sah er Herold auf einem größeren Stein sitzen, das Gesicht in die Hände gestützt. Ihm wurde klar, dass es für seinen Bruder noch viel schlimmer sein musste als für ihn. Beiden war die Mühle ein Mittel, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Müllerei hatten sie von ihren Eltern gelernt. Etwas anderes konnten sie nicht. Aber für Herold war die Mühle wesentlich mehr: Sie war sein Ein und Alles. Das war eine Sache, die Jacob nie verstanden hatte. Herold hatte immer für die Mühle gelebt. Wenn sie ihre normale Arbeit verrichtet hatten, arbeitete und flickte er noch an der Mühle herum. Und danach dachte er darüber nach, wie er sie weiter verbessern konnte. Er konnte sich beim besten Willen nicht ausmalen, wie sich sein Bruder jetzt fühlen mochte.

      »Wer war das?«, fragte Jacob.

      Es dauerte einen Moment, bis Herold antwortete, ohne seine Körperhaltung zu verändern.

      »Ich weiß es nicht. Sie sind in verschiedene Richtungen geflohen. Ich musste mich für einen entscheiden und der ist mir entkommen. In der Dunkelheit konnte ich ihn nicht erkennen.«

      Aber Jacob konnte sich denken, wer es war. Gestern war er zwei Mal Männern entkommen, die ihm nichts Gutes wollten. Und heute Nacht passierte das hier. Er konnte sich nicht vorstellen, dass das ein Zufall sein sollte.

      Herold erhob sich ruckartig. Er machte ein grimmiges Gesicht.

      »Irgendwann muss ich mir den Schaden ja ansehen«, sagte er.

      Mit großen Schritten ging er an Jacob vorbei, nahm ihm dabei die Laterne aus der Hand und betrat die Mühle. Nach kurzem Zögern folgte Jacob ihm.

      Jacob schritt neben seinem Bruder daher, über den Marktplatz auf das große, weiße Gebäude zu, und ihm war zugleich freudig und mulmig zumute. Einerseits war es das erste Mal in seinem Leben, dass er das Rathaus betreten würde. Von außen hatte er es ebenso oft gesehen, wie er den Marktplatz überquerte, und deshalb war er gespannt darauf, wie es von innen aussah. Ob es so prunkvoll war, wie er es sich vorstellte? Andererseits war der Anlass für diesen Besuch wenig erfreulich. Schließlich mussten sie melden, dass die Mühle zerstört war.

      Herold wollte ihn dabei haben, falls es etwas aufzuschreiben gab. So gut sein Bruder in technischen Dingen auch war, wenn es um den Umgang mit der Feder ging, stellte er sich äußerst unbeholfen an. Also hatte Jacob Papier, Löschpapier, Tintenfass, einen Federkiel und noch einen als Ersatz in die Tasche gepackt, um Herold zu begleiten.

      Kurz bevor sie bei den beiden Männern der Rathauswache ankamen, schaute Jacob an der Fassade des Rathauses hoch. Über dem Eingang zierte es auf halber Höhe das Oldenburger Wappen, direkt zwischen den zwei Fensterreihen. Und ganz oben zeichneten sich die drei dreieckigen, verzierten Dachausbauten vor dem mit Schleierwölkchen bedeckten Himmel ab.

      Die Wachmänner sahen ihnen grimmig entgegen. Das gehörte bestimmt zu ihrer Aufgabe dazu. Ihre Röcke waren so weit zurückgeschlagen, dass die Griffe ihrer Degen zu sehen waren. Na, die würden sie bei Herold und ihm nicht brauchen.

      »Guten Tag«, sprach Herold die beiden an. »Wir müssen in einer dringenden Angelegenheit jemanden sprechen, der entscheidungsbefugt ist. Am besten den Bürgermeister oder einen Ratsherren.«

      Der linke Wachmann, dessen Antlitz eine enorm große Hakennase zierte, sah Herold geringschätzig an.

      »Habt ihr einen Termin vereinbart?«, fragte er.

      »Nein.«

      Der Wachmann sah kurz seinen Kollegen an, der ziemlich stark schielte, sie lachten, wurden dann aber sofort wieder ernst.

      »Ohne Termin werdet ihr nicht vorgelassen, oder glaubst du, jeder Dahergelaufene könne so einfach hier reinspazieren«, fuhr er Herold an. »Scher dich hier weg und nimm diesen Hänfling gleich mit.«

      Jacob setzte zu einer frechen Erwiderung an, ein warnender Seitenblick seines Bruders hielt ihn jedoch davon ab. Herold war einen Kopf größer als die beiden Dummköpfe und wesentlich breiter gebaut. Doch dank seiner besonnenen Art, die ihnen in dieser Angelegenheit wahrscheinlich nützlicher war als Jacobs Temperament, antwortete er ruhig und gelassen.

      »Wie ich schon sagte, ist es wichtig«, wandte sich Herold an die Hakennase. »Das Eigentum des Herzogtums Oldenburg ist zerstört worden.«

      Nun wurden die Wachmänner hellhörig.

      »Was meinst du damit?«

      »Ich meine die Nordmühle. Jemand hat sie zerstört und wir sind hier, um über das Ausmaß des Schadens zu berichten.«

      Hakennase fasste sich ans Kinn.

      »Hm, ohne Termin kann ich euch auf keinen Fall vorlassen. Aber etwas so Schwerwiegendes muss natürlich berichtet werden. Ich werde einen Rathausdiener losschicken. Der soll zusehen, dass irgendein Amtsmann euch anhört. Wartet hier.«

      Er drehte sich um, lehnte sich gegen die solide Tür bis diese aufschwang und betrat das Rathaus.

      Ratsherr von Zölder saß an seinem Schreibtisch und ging die Liste der städtischen Einnahmen vom letzten Monat durch. Er verglich sie mit den Listen der Vormonate. Vielleicht ließ sich an der einen oder anderen Stelle zukünftig noch mehr herausschlagen. Seite um Seite blätterte er um, fuhr mit dem Zeigefinger an den aufgelisteten Fällen entlang und schaute sich die dazugehörigen Beträge an. Aber ihm fiel einfach keine Möglichkeit ein, seine persönlichen Einnahmen, die neben einigen Privilegien 45 Reichstaler jährlich betrugen, noch weiter zu erhöhen. Die Stirn voller Konzentrationsfalten flog der Blick fortwährend von einem Blatt zum anderen.

      Als er nach etwa zehn Minuten das Ende einer Seite erreichte, hielt er inne. Er raufte sich die restlichen grauen Haare, die sich links und rechts von seiner Glatze befanden. Warum eigentlich musste er sich über solche Dinge noch Gedanken machen? Wollte er nicht schon längst so weit sein, dass er sich in einen Sessel zurücklehnen und bedienen lassen konnte? So weit, dass er das Sagen hatte und alle auf ihn hören mussten? Dass er nicht ganz nach oben kommen konnte, war ihm klar. Schließlich konnte er ja nicht Herzog werden. Doch zumindest zum Bürgermeister hätte es