Die Nähe der Nornen. Kerstin Hornung

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Название Die Nähe der Nornen
Автор произведения Kerstin Hornung
Жанр Языкознание
Серия Der geheime Schlüssel
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754182079



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unter Druck gesetzt. Ich war so besessen von der Vorstellung, dass Rond’taros Prophezeiung eintreten würde, dass ich nicht bedacht habe, was das für dich bedeuten muss.«

      »Ach Leron’das …« Philip setzte sich auf einen Stein und stützte seinen Kopf in die Hände. Er schien den Tränen nahe zu sein, aber seine Augen blieben trocken. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Das hier ist kein Platz für mich, und es scheint nirgendwo einen Platz für mich zu geben.« Er sah Leron’das von unten herauf an. »Was ist aus Olaf geworden? Ist er Hilmar nachgereist?«

      Leron’das setzte sich neben Philip. »Er wartet.«

      »Aber worauf?«

      »Auf dich. Ich habe versucht, ihn zurückzuschicken, aber er hat sich geweigert, zu gehen. Er sagt, dass nur sein Herr ihn irgendwo hinschicken kann.«

      »Ich bin doch nicht sein Herr, wann wird er das verstehen. Eine Zeit lang glaubte ich, wir wären Freunde, doch dann eröffnete er mir, dass er mir verpflichtet ist, durch den Titel den mir Hilmar verliehen hat. Ich will das nicht. Verstehst du das?«

      »Jeder hier versteht das. Wir sind Elben. Wenn wir dienen, tun wir das aus freien Stücken, doch wir dienen nur denen, die wir lieben. Keiner gebietet über einen anderen und wir folgen nur, wem wir vertrauen. Bei den Menschen ist das anders … aber das weißt du selbst. Trotzdem glaube ich, dass unser elbisches Prinzip in gewisser Weise auf Olaf zutrifft. Er ist dir verbunden, er vertraut dir. Natürlich folgt er den Gesetzmäßigkeiten der Menschen, aber da er die Wahrheit kennt, wäre es ihm freigestanden, zu seinem Grafen zurückzukehren. Was ihn daran hindert, ist seine Loyalität dir gegenüber.«

      »Dann werde ich ihn wohl zurückschicken müssen. Irgendjemand wird Hilmar und den anderen sagen müssen, dass der König nicht kommen wird.«

      »Du bist grausam.«

      »Die Realität ist grausam.«

      »Ist es dir vollkommen gleichgültig, was aus ihnen wird?«, fragte Leron’das.

      »Gleichgültig!«, rief Philip. Tränen standen in seinen Augen. »Wie könnte es mir gleichgültig sein. Aber ich kann ihnen nicht helfen, ich bin der Sohn eines Schmieds aus Waldoria.« Eine Träne löste sich und tropfte auf seine Hände. »Ich wünschte, dem wäre wirklich so«, flüsterte er. »Ich habe Feodor gesehen. Weißt du, wie sich das anfühlt, wenn alles, was gut und standhaft schien, von jetzt auf gleich zusammenbricht. Ich habe darauf gebaut, doch jetzt fühle ich mich wie ein Baum ohne Wurzeln.«

      »Aber du hast Wurzeln, die bis in die Gebeine der Erde hineinreichen, alles, was dir genommen wurde, ist die Stütze, die dich zu einem aufrechten Baum hat wachsen lassen.«

      »Ich bin kein Baum! Das kann man nicht vergleichen.«

      »Du hast damit angefangen, und ich finde, es ist ein schöner Vergleich. Bäume flüstern mit meiner Seele, seit ich denken kann. Viele ihrer Sprossen müssen gestützt werden, damit sie gerade wachsen, bis sie aus eigener Kraft stehen können.«

      Philip schwieg und starrte hinunter. Er hatte schon lange keinen Baum mehr gesehen. Wie lange versteckte er sich bereits auf diesem Berg?

      »Hast du mit Feodor gesprochen?«, fragte Leron’das unvermittelt.

      »Nein. Ich ... konnte nicht.«

      »Glaubst du nicht, dass er gerne mit dir gesprochen hätte?«

      »Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll.«

      »Dann hör ihm zu. Lass ihn sprechen. Er liebt dich. In erster Linie bist du sein Sohn.«

      »Sein Sohn«, wiederholte Philip tonlos und wünschte sich, er müsste in der Schmiede den Ambos reinigen, den Boden fegen oder das Feuer schüren, während Feodor, die dicke Lederschürze umgebunden, mit konzentrierter Miene das glühende Eisen prüfte.

      Die Zeit schien rückwärts zu laufen. Am Tag seines Abschieds wirkte Feodors Gesicht nachdenklich und traurig, obwohl Philip nur für einige Tage in den Wald gehen wollte, um Pal’dor zu finden. Philip erinnerte sich, dass er ihm und auch sich selbst Mut machen wollte, als er sagte, dass er die Stadt finden würde. Feodor hatte geantwortet: So wird es sein. Das waren die letzten Worte, die er zu ihm gesagt hatte: So wird es sein.

      Jetzt, da sie ihm eingefallen waren, fühlte er sich seltsam erleichtert.

      »Ich werde mit ihm sprechen, wenn Isi’la mir den Weg öffnet.« Am liebsten wäre er sofort losgerannt, aber Leron’das hielt ihn zurück.

      »Ala’na ist noch nicht kräftig genug. Du wirst einige Tage warten müssen, ehe die beiden Spiegel wieder in Verbindung treten können.«

      Die Tage waren unendlich lang. Rastlos wanderte Philip auf den Pfaden von Munt’tar. Frendan’no war wortkarg wie die Steine, die ihn umgaben. Er saß auch wieder öfter an dem Hang, der das Grab seiner Tochter barg und starrte in die Ferne. Manchmal unterhielt sich Philip mit Leron’das, doch auch der wirkte getrieben. Frendan’no hatte ihm offensichtlich noch nichts von dem Verschwinden Almira’das erzählt.

      Warum nicht? Wäre sie Philips Schwester, wäre er schon längst aufgebrochen, um selbst nach ihr zu suchen, und er hätte jeden mitgenommen, der bereit wäre, ihm bei der Suche behilflich zu sein. Philip fand, das Leron’das es wissen sollte. Er dachte an Arina, aber der Gedanke raubte ihm den Atem. Entschlossen stapfte er den Hang hoch und setzte sich neben Frendan’no.

      »Du musst es ihm sagen«, begann er hastig, ehe er es sich anders überlegen konnte.

      »Wozu? Er kann sowieso in keine Stadt gehen, in der sich ein Zauberer aufhält.«

      »Dann begleite ihn!«

      »Das kann ich nicht!«, knurrte Frendan’no.

      »Was? Wieso kannst du nicht?«

      Frendan’no antwortete nicht.

      »Ich habe dich was gefragt. Warum kannst du nicht mit ihm gehen? Sie ist deine Schwester und ich sehe doch, wie sehr dir ihr Verschwinden zu schaffen macht.«

      Frendan’no sah Philip an, dann richtete er seinen Blick wieder in die Ferne. »Isi’la kann jetzt mit Pal’dor sprechen«, sagte er.

      »Was?«, fragte Philip erneut, aber da sah er die Elbin selbst. »Ich komme wieder. Wenn du es ihm nicht sagst, mach ich es.«

      Frendan’no sah ihn nicht an, aber er nickte geistesabwesend. Philip schüttelte den Kopf. Er hatte das unangenehme Gefühl, das Frendan’no seinetwegen hier oben blieb. Langsam ging er den Hang hinunter.

      In einer elbischen Stadt gab es nie einen Grund zur Eile. Philip hatte noch keinen hier laufen sehen. Er selbst tat es nicht, weil er ungern in den nächsten Abgrund stürzen wollte.

      Isi’la wartete geduldig zwischen den spitzen, schlanken Steinhäusern. Sie begleitete ihn auf den engen Pfaden, vorbei an zarten, mit Blumenranken verzierten Säulen und unter Durchgängen mit kuppelförmigen Dächern, zu dem springenden Quell Violen’ta. Als sie sich neben dem Wasser niederließ und ihre Hand kurz in die eiskalten Fluten tauchte, spürte Philip sein Herz bereits bis zum Hals schlagen. Er zwang sich zur Ruhe, konnte aber nicht verhindern, dass seine Finger zappelten und er von einem Bein aufs andere trat. Schließlich sah er Bäume im Wasser. Ihr Grün erfüllte seine Augen und ließ ihn die Luft anhalten, dann stand er unvermittelt Feodor gegenüber.

      Was sollte er sagen? Guten Tag, Vater, wäre normal gewesen, aber Feodor war nicht sein Vater. Er sah schlecht aus. Dunkle Augenringe und eingefallene Wangen erzählten von den Sorgen, die ihn quälten. Wieso war er überhaupt bei den Elben? Wo waren die Jungs und Mutter …?

      »Philip«, flüsterte Feodor.

      »Vater«, sagte Philip. Seine Stimme zitterte und Tränen brannten hinter seinen Augen.

      »Ich bin froh, dich zu sehen. Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht.«

      Philip lächelte tapfer. »Auch ich bin froh, dich zu sehen. Es tut mir leid, dass ich beim letzten Mal …«

      »Ach