Die Nähe der Nornen. Kerstin Hornung

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Название Die Nähe der Nornen
Автор произведения Kerstin Hornung
Жанр Языкознание
Серия Der geheime Schlüssel
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754182079



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es jetzt schon«, brummte Feodor. »Aber es ist nicht gut für sie, sie lehnt es ab«, fügte er hinzu, ohne auf Ala’nas hochgezogene Augenbraue zu achten. »Sie ist ein Kind und will auch so behandelt werden. Was sie braucht, ist Schutz und Liebe. Erwartungen und Ehrerbietung machen ihr Angst.« Er war sich plötzlich ganz sicher, dass dies Lume’tais Problem war. »Sie ist ein Kind«, wiederholte er.

      »Möglicherweise hast du recht. Wir sind ein altes Volk, in unserem Leben währt die Kindheit nur einen Augenblick, und Kinder haben wir nicht viele. Jedes für sich ist etwas Besonderes, aber Lume’tai ist noch mehr als das. Sie hat den See Waldo’ria geöffnet – im Schlaf! Und auf der Warte hat sie meine Worte der Macht gebündelt und den Lichtkreis geschlossen. Weißt du, was das bedeutet, Feodor?«

      Feodor schüttelte den Kopf.

      »Pal’dor war eingeschlossen. Der Zauberer hatte seine Macht unter den Bäumen verteilt und uns in dieser Stadt eingesperrt. Als ich meine Kraft gegen seine richtete, um Josephine zu suchen, bin ich ein allzu großes Risiko eingegangen. Möglicherweise hätte er die Stadt danach finden können, aber Lume’tai bündelte meine Worte und schloss den Kreis. Dadurch ist nicht nur Pal’dor frei, der ganze Wald bis zu Warte ist der Radius eines Kreises. Kein Zauberer kann in diesen Kreis eindringen. Es ist der stärkste Schutz, der jemals bestand.« Ala’na lächelte. »Lume’tai ist das mächtigste Wesen, das seit Nuri’ja der Seefahrerin geboren wurde, und sie hat sich dafür entschieden, ihre Liebe den Menschen zu schenken.«

      »Nun, ganz so ist es nicht, denn ich bin der einzige Mensch in meiner Familie. All die Jahre war mir das nicht wirklich klar. Der elbische Urahne meiner Frau hatte keine Bedeutung für mich. Erst seit ich die Kinder in diesen Wald führen musste, spüre ich es …« Seine Stimme brach und er schämte sich dafür.

      Ala’na lächelte milde. »Armer Feodor«, flüsterte sie. »Du bist einsam.«

      Ihre Worte waren Trost in seinen Ohren.

      »Aber bedenke, Feodor, in welch außergewöhnlicher Situation du dich befindest. Nate’re schenkte dir fünf Kinder. Kein Mensch hat jemals so viel Liebe erfahren.«

      Feodor kämpfte mit dem Kloß in seinem Hals. »Sieben«, murmelte er. »Sie sagte: Jedes Kind, das in unserem Haus aufwächst, ist unser Kind. Aber jetzt ist sie nicht hier. Ich fürchte um sie aber auch um meinen ältesten Sohn, Philip.« Es kam Feodor vor, als ob ein Damm gebrochen wäre und er erzählte Ala’na alles. Er erzählte, wie er vor siebzehn Jahren unverhofft Philips Vater geworden war. Er erzählte von den Jahren danach, bis zu dem Tag, an dem Philip in den Wald aufbrach. Ala’na lauschte und stellte ab und zu eine Frage. Als Feodor erschöpft endete, fühlte er sich von einer schweren Last befreit.

      Ala’na nickte langsam. »Die Fäden des Schicksals laufen an einem Punkt zusammen. Große Veränderungen liegen in der Luft. Die Dinge fügen sich ineinander und ergeben langsam einen Sinn. Leider gibt es nicht viel, was ich sagen kann, um dich zu beruhigen, Feodor. Ich war zu lange krank und noch nicht in der Lage, eine Verbindung zu den anderen Elbenstädten aufzunehmen. Von meinem Sohn Alrand’do habe ich allerdings erfahren, dass Leron’das, der aufgebrochen war, um einen rechtmäßigen Thronerben zu suchen, inzwischen denjenigen, den er suchte, gefunden hat. Bis heute jedoch ahnte ich nicht, dass es dein Sohn ist.« Sie lächelte aufmunternd.

      Feodor konnte nicht umhin, den Kopf stöhnend in seine Hände zu pressen. Leron’das hatte damals in Waldoria nicht gesagt, mit welchem Auftrag er zu den Menschen geschickt worden war. Weder Feodor noch Josephine waren auf den Gedanken gekommen, dass es wichtig sein könnte, ihm von Philips Herkunft zu erzählen. Sie waren nicht auf den Gedanken gekommen, weil es nicht wichtig war. Damals ging es nur um ihren verlorenen Sohn, und um den ging es Feodor heute immer noch.

      »Wenn du etwas über Philip erfahren könntest … Wenn ich doch nur wüsste, wie es ihm geht.«

      Es vergingen mehrere Tage, in denen Feodor nichts von Ala’na hörte. Wäre er nicht immer und überall von dieser stillen, geheimnisvollen Welt umgeben, hätte er glauben können, das Gespräch mit ihr sei seiner Fantasie entsprungen. Wenn er alleine mit geschlossenen Augen in seinem Bett lag und nur den ruhigen Atem seiner Kinder im Schlaf hörte, spürte er immer noch die faszinierende Macht, die von Ala’na ausgegangen war.

      Sie verwirrte ihn, trotzdem wünschte er sich, sie wieder zu sehen. In seinem Bauch fühlte es sich an wie eine jugendliche Schwärmerei. Wie das ungeduldige Warten eines verliebten Knaben auf die nächste Begegnung mit dem Mädchen seiner Wahl. Gleichzeitig wusste er, dass dem nicht so war. Natürlich war Ala’na eine bemerkenswerte Frau. Eine sehr schöne Frau. Aber was er sich von ihr erhoffte, war, dass sie ihm über die berichten konnte, die ihm mehr als alles andere auf der Welt fehlten.

      Wenn er schlief, kam Phine zu ihm, doch sie war wie Nebel. Sie zerfloss. Zurück blieb nur ihr Gesicht. Doch noch im Erwachen merkte Feodor, dass es Ala’nas Gesicht war. Von Angst und Reue gepeinigt warf er sich den Rest der Nacht in seinem Bett herum. Die Schlaflosigkeit der Nächte machte die Erlebnisse der Tage noch unwirklicher. Schließlich kam er endgültig zu dem Schluss, dass die Welt der Elben nicht seine Welt war. Doch wenn er drauf und dran war, seine Sachen zu packen, um selbst nach Phine zu suchen, sah ihn Lume’tai aus großen blauen Augen an, und er wusste, dass er nicht gehen konnte.

      Feodor neigte nicht dazu, sich zu wichtig zu nehmen, aber er spürte, dass sie ihn hier brauchten. Auch wenn seine Kinder in der Stadt sicher waren, durfte er sie nicht im Stich lassen. Phine hätte das nicht gebilligt. Aber sie war irgendwo dort draußen und möglicherweise brauchte sie ihn auch.

      Er fühlte sich zerrissen.

      Dann kam endlich eine Nachricht von Ala’na. Ein junger Elbe – der mindestens hundert Jahre älter war als Feodor – näherte sich ihm leise und sagte, dass Ala’na sich nun stark genug fühlte, um den See Latar’ria zu befragen. Feodor nahm seine Worte zur Kenntnis, konnte allerdings so wenig damit anfangen, dass ihm nicht einmal eine Frage dazu einfiel. Als er nichts erwiderte, redete der Elbe weiter. »Sie lässt fragen, ob du sie begleiten willst.« Feodor wusste immer noch nicht, worum es ging, aber er begriff, dass es eine große Ehre war, die ihm zuteilwurde.

      »Ich werde sie sehr gerne begleiten«, antwortete er.

      Der Elbe neigte leicht seinen Kopf und entfernte sich dann ebenso leise, wie er gekommen war.

      Feodor war versucht, ihm hinterherzurufen, wann er sie denn begleiten sollte, aber rufen war vollkommen unüblich in dieser Stadt, in der die lautesten Wesen eindeutig seine übermütigen Söhne waren. Also wartete er. Ungeduldig, aufgeregt und bang.

      Erst am nächsten Tag kam der Elbe wieder und brachte ihn zu Ala’na.

      Sie stand am grasbewachsenen Ufer eines Teiches, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den ganzen Wald zu spiegeln, und redete leise mit einem Elben, den Feodor im ersten Moment für Rond’taro hielt. Als der sich jedoch zu ihm umdrehte, erkannte er, dass es Alrand’do war.

      Feodor hatte ihn nicht mehr gesehen, seit er mit schmerzenden Gliedern in Pal’dor aufgewacht war. Das Wiedersehen versetzte ihm einen Stich, der ihm die Luft nahm und ihn taumeln ließ.

      Alrand’do neigte den Kopf und entfernte sich wortlos, aber Ala’na lächelte schöner als die Sonne und streckte Feodor beide Hände entgegen.

      Ohne ihn sehen zu können, merkte sie dennoch, dass er Alrand’do nachsah.

      »Du kennst meinen Sohn«, sagte sie. »Ich habe ihn gebeten, zu bleiben, aber er fürchtet sich vor Menschen.« Sie lächelte schelmisch.

      »Das glaube ich nicht«, erwiderte Feodor, hielt dann aber erschrocken inne. Er wollte Ala’na auf keinen Fall das Gefühl geben, dass er ihren Worten nicht traute.

      »Doch«, widersprach sie. »Er hat große Furcht vor den Menschen. Er fürchtet sie, weil sie sein Herz erwärmen. Er fürchtet sie, weil sie ihm Kummer bereiten. Alrand’do hält Menschen für wankelmütig, weil sie so schnell sterben und sein weiches, liebendes Herz damit nicht umgehen kann.«

      »Es ist sehr schmerzhaft, jemanden zu verlieren, den man liebt«, erwiderte Feodor leise.

      Ala’na