BÄR: CHIMÄRA. Michael Nolden

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Название BÄR: CHIMÄRA
Автор произведения Michael Nolden
Жанр Языкознание
Серия BÄR - Die seltsamen Abenteuer des Kootenai Brown
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754171875



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Übersichtskarte der Zisterne markierte für die Gemeinschaft die zu reparierenden Stellen. Ich übergab ihr zwei Masken, die für dauerhaftes Tauchen umgebaut waren, beschrieb die Verwendung und wie alles nach Gebrauch zu reinigen war. Babbellies nickte zu den Geschenken, lächelte freudig und bedankte sich mit einem intensiv ausgeführten Händeschütteln, das in mir die Befürchtung weckte, sie wolle mich nie wieder loslassen. »Bär«, meinte sie flüsternd. Das Übersetzungsgerät raspelte dasselbe Wort mit der Feinfühligkeit eines Schneidbrenners darüber. »Bär, ich bedanke mich im Namen der Kolonne 50. Sie werden uns immer willkommen sein.«

      Ich deutete eine Verbeugung in der Enge der Beratungskammer an. »Leider kann ich nicht mehr für Sie tun. Ich habe keinen Spielraum in meinem Zeitplan.«

      Babbellies bot mir an, zu meiner bevorstehenden Abreise ein irdisches Essenspaket zu schnüren. So könne ich die Inhaltsstoffe an Bord zuvor einer Prüfung unterziehen, ob Allergene oder sonstige für mich unverträgliche Zutaten darin waren.

      Die öffentlichen Einrichtungen, all jene Anlagen einer Gemeinschaft, in denen die Verrichtungen zum Erhalt einer Gemeinde stattfinden, vornehmlich Energiegewinnung, Produktion und Lagerhaltung, waren mir gezeigt worden. Nun führten die Treppen noch tiefer in die Eingeweide der Erde hinab, und je weiter es hinunter ging, desto älter waren die Gänge, poröser. Nachrichten waren ins Gestein geschlagen worden. Netze aus Linien, zackig wie ein Schaltplan, auf rechteckig gestreckten Plaketten. Farben darüber geschmiert, einst unterschiedlich, jetzt alles Grau in Grau, verschnörkelt. Ich erkannte Worte. Kacke und Crap hatten es ins Marsianische geschafft. Herzchen, aufgerissene Mäuler, explodierende Körper. Kurz vor der untersten Ebene, vor den Gemeinschaftsräumen, wo das Treppenhaus heller wurde, waren die Bilder an den Wänden besonders schräg und zeugten von dem, was Menschen einander antun können. Oder einstmals getan hatten.

      »Bilder und Nachrichten des Krieges«, erläuterte Babbellies. »Wir haben diese Graffitis nie entfernt. Werden es auch nicht. Die Vergangenheit soll uns eine ewige Mahnung sein.«

      Mein Zeigefinger deutete auf ein sehr grausames Abbild von Folterungen, vielleicht eine massenhafte Gefangenenhinrichtung. Die Gepeinigten waren von Figuren in einheitlicher Kleidung, Uniformen, umgeben. »Das da ist doch eine Fantasie? Oder Propaganda?«

      Die Vorsteherin schüttelte betrübt den Kopf. Was hätte sie auch sagen sollen?

      Es war äußerst surreal, dort zu stehen, die Niederungen menschlicher Eigenschaften zu betrachten, und gleichzeitig wurden einem Essensdüfte in die Nase geweht. Ich betrat nach Babbellies einen breiten und sehr gestreckten Korridor, welcher der Länge nach von zwei Vertiefungen geteilt wurde. Darin standen Tische, unterschiedliche Sitzgelegenheiten, viele belegt mit Erwachsenen und Kindern im vorherrschenden Kleidungsgrün. Unter letzteren entdeckte ich das Mädchen Liv. Nichts an ihrem Verhalten ließ vermuten, dass sie vor Kurzem noch nicht dazu gehört hatte. Dank ihres weiß geschminkten Gesichts hätte ich sie fast nicht erkannt. Teller und Schüsseln waren vor ihnen platziert. Die Menschen aßen, schwatzten, ein freundlicher Singsang erfüllte das Gewölbe. An einer Reihe von Kochstellen holten andere einen Nachschlag. Das Essen sah appetitlich aus, was nicht hieß, dass ich es vertrug.

      »Vieles ist auf Algenbasis. Wir essen sie oder düngen mit getrockneten Algen. Wir haben Früchte, Getreide, Gemüse. Von Karawanen handeln wir mitunter Milch ein«, sagte Babbellies.

      »Milch?«, fragte ich erstaunt. »Von welchen Tieren?«

      Die Vorsteherin sagte ein Wort. Der Translator ließ es unübersetzt, wiederholte es bloß. Sie ahnte meine Ratlosigkeit wohl und ahmte die Konturen des milchgebenden Tieres mit den Händen nach.

      »Kamelartige?«, entfuhr es mir verblüfft. Ich skizzierte in der Luft den Kopf dieser merkwürdig aussehenden Geschöpfe und erntete ein von einem Lächeln untermaltes Nicken. Daraufhin stutzten wir beide.

      Zuerst war es ein mehrsekündliches, noch piepsiges Heulen aus der Dunkelheit des Tunnels, an dessen finsterem Schlund der Küchenbereich der Gemeinschaft endete und zwei Wachen standen, welche die bescheidene Völlerei im Blick behielten. Nichts zum Ernstnehmen, dachte ich. Ein Ruf des Kochs zum Nachtisch, oder so. Aus dem leisen Geheule, auf das niemand reagiert hatte, wurde eine gräßliche Sirene, die jedes Gespräch erstickte, Körper zum Erstarren brachte und Besteck und Geschirr aus zittrigen Händen fallen ließ.

      »Wir werden angegriffen«, schrie Babbellies. Laut genug für den Translator, ihre Stimme aufzufangen und den Inhalt zu übersetzen.

      Ich sah mich schockiert um. Im Gegensatz zu mir wusste jeder um das richtige Verhalten in einem solchen Augenblick. Ich beschloss, mich nach Babbellies zu richten. Die gab mir Zeichen. Ich rannte ihr hinterher. Wir drängten uns die engen Gänge hinauf. Die kleine Vorsteherin verschaffte mir, dem violetten Brocken unter all den grünen flatternden Gestalten, ausreichenden Raum. Keuchend, die verdammte Atemmaske im Gesicht, überwand ich zwei, drei Stufen mit einem Schritt. Vorangepeitscht von der klagenden Sirene. Schüsse hallten von unten herauf, Querschläger pfiffen, Schmerzensschreie überlagerten die Knallerei. Ich hatte mein Messer, auch geglaubt, ich werde nichts anderes brauchen. Mein Verzicht auf Schusswaffen rührte von den guten Erfahrungen zu Beginn her. Die eingeschworene Gemeinschaft gedieh unter einer Kuppel ausgeklügelter Sicherheitssysteme. »Jiminy«, rief ich in den Kommunikator, »die Zisterne wird angegriffen. Unterirdisch.« Es krachte von oben. »Und von der Oberfläche!« Feinstes Rauschen antwortete mir. War ich zu sehr durch das Gestein abgeschirmt? »Jiminy?« Ein paar Stufen höher angelangt, versuchte ich es erneut. »Jiminy? Hörst du mich?«

      Einige Verantwortliche scharten sich um Babbellies. Sie erhielten von ihr Befehle. Die ersten Einheimischen mit Schusswaffen verteilten sich unter den Fliehenden. Die Menschen liefen zu den Produktionsstätten und den Wasserrädern, den Herzstücken der Gemeinschaft. Immer mehr Erwachsene mit Gewehren kehrten aus Seitengängen zurück und schirmten die Flüchtenden gegen die nachfolgenden Eindringlinge aus dem Tunnel ab. Feuerblitze und Geschossknallen kündeten vom Aufholen der Angreifer. Einzig die schmalen Gänge verlangsamten ihre Attacke und gab den Verteidigern die Gelegenheit, sich an Ecken und Treppenabsätzen einzuigeln.

      »Jiminy? Jiminy?« Ich war noch ein paar Stufen nach oben gelaufen. Eine Mutter und ihr Kind hatte ich mir dabei einfach rechts und links unter den Arm genommen und setzte sie etliche Meter entfernt vom Getümmel ab. »Jiminy?«

      Im Ohr kratzend tönte der Roboter aus dem Kommunikator: »Bär? Endlich höre ich deine Stimme! Das Signalzeichen schlug in den letzten Minuten aus, eine Übertragung fand aber nicht statt! Ich habe mir Sorgen gemacht!«

      »Wir werden angegriffen, Jiminy! Kannst du von draußen sehen ...«

      Mein robotischer Freund ratterte dazwischen: »Die Karawanenmenschen. Mehr als bei unserer Ankunft. Annähernd sechzig. Sie haben das Tor gestürmt. Sie ignorieren die SCHILDKRÖTE III und sind nur mit der Zisterne beschäftigt.«

      Eine Kugel schlug neben mir ein. Die Betonwand unter einem der Graffitis zersplitterte neben meinem Kopf. »Das ist – Jiminy! Hier wird’s brenzlig. Die kommen von unten. Wie haben die ...«

      »Ich habe herausgefunden, was die von Babbellies so genannten Bunkeranlagen sind, Bär. Die Rekonstruktion alter Schienenwege legt nahe, dass es sich um ehemalige Bahnhöfe einer Untergrundbahn handelt. Von da aus haben die Einheimischen uns beobachtet. Beobachten sie alles. Sie gehen unter dem Sand durch, geschützt. Einer der Bahnhöfe muss eingenommen worden sein. Was wirst du tun?«

      Ich riss die Augen auf. Ein Mann hatte sich zu weit aus der Deckung gewagt und wurde von mehreren Kugeln durchsiebt. »Was ich – was kannst du tun? Jiminy? Mit der Bordkanone?«

      »Ich fürchte, Bär«, erwiderte Jiminy sachlich, »wenn ich das Gaussgeschütz abfeuere, werden die Geschosse mehr Schaden an der Zisterne anrichten als alles andere. Dieser marode Beton hält den Einschlägen kaum stand. Kurzum, ich habe keine Möglichkeit dir beizustehen.«

      Noch geduckt, gab ich ein perfektes Ziel ab. Trotzdem versuchte ich es, hielt mich so gut es ging aus der Schusslinie. Die Angreifer nahmen derweil Verteidiger weiter die Treppe runter, zum Tunnel hin, unter Feuer. Meinen Vandalenkrawall vermissend, nahm ich das Gewehr des Gefallenen an mich. Eine simple Konstruktion,