Название | Die deutschen Auswanderer |
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Автор произведения | Jakob |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783754184851 |
Jakob Maul
Kapitel 1.
Migrationsprozesse in Europa
und Deutschland im 18. Jahrhundert
1.1. Entstehung von Migrationstraditionen
Das Europa des 18. Jahrhunderts, so seltsam dies von unserem heutigen Standpunkt aus auch erscheinen mag, war relativ mobil und verfügte über ein stabiles Migrationssystem mit festen Migrationstraditionen. Auf seinem Territorium legten Migrantengruppen jedweder Art große Entfernungen zurück: Bauarbeiter und Schreiner, Architekten, landwirtschaftliche Arbeitskräfte, Künstler und umherziehende Schauspieler, die allesamt auf der Suche nach einer saisonalen oder festen Arbeit waren. Die Menschen verließen Regionen mit schnell wachsender und überschüssiger Bevölkerung, die von Dürre und jahrelangen Missernten geplagt waren, und zogen an Orte innerhalb und außerhalb des Landes, die in dieser Hinsicht angenehmere Bedingungen versprachen.
Genaue statistische Angaben über die Migrationsprozesse und sonstigen Prozesse, die Mitte des 18. Jahrhunderts abliefen, liegen uns heute nicht vor. Dieser Umstand lässt uns keine andere Möglichkeit, als uns auf veröffentlichte historische Auswertungen aus jener Zeit zu stützen. So führt Klaus J. Bade in seinem Buch „Europa in Bewegung“ Daten des Historikers J. Lucassen an, der die Befragungsbögen von ins Land einreisenden Migranten analysierte, die noch von Präfekten aus der Zeit Napoleons für den französischen Innenminister Graf de Montalivet ausgefüllt worden waren. Diese gehen zum Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts von etwa 20 Migrationssystemen in Europa aus, wovon sieben große Systeme darstellten, in denen jedes Jahr mehr als 300.000 Menschen 250 bis 300 Kilometer auf der Suche nach Arbeit zurücklegten und dabei zum Teil auch die Grenzen ihrer Staaten überquerten.1
Identische Migrationsströme fanden auch zwischen Händlern aller Art statt, die ständig oder nur in der landwirtschaftlichen Zwischensaison große Entfernungen zurücklegten, welche sie auf der Suche nach Absatzmöglichkeiten für ihre Waren und Dienstleistungen nicht selten auch in naheliegende Länder führten. Die Einwohner der deutschen Fürstentümer waren die wesentlichen Beteiligten an diesen Migrationsströmen. Besonders aktiv begannen diese sich gegen Mitte des 19. Jahrhunderts während der europäischen Transformation von einer Agrargesellschaft zu einer Industriegesellschaft und des schnellen Wachstums der kapitalistischen Wirtschaft zu entwickeln. So entstanden in Frankreich und insbesondere in Paris sogenannte „subproletarische“ deutsche Kolonien mit einer Bevölkerung von über 100.000 Menschen. Mit einem solchen Terminus wurde eine bestimmte Gruppe von Menschen bezeichnet, die weder über Grundbesitz noch über sonstiges Vermögen verfügten und in schlimmen sozialen und ökonomischen Verhältnissen lebten. Zu dieser Gruppe gehörte in der Regel die aus fremden Staaten zugewanderte Bevölkerung.
Der ständig wachsende Bedarf an Arbeitskräften für die sich rasch entwickelnden industriellen Zentren führte zu einer massenweisen Migration der Bevölkerung, welche sich aus ländlich geprägten Gebieten in die Städte und aus den Agrarstaaten in Staaten mit einer sich entwickelnden Industrie vollzog. Die Migration aus Ländern mit begrenzten Bodenressourcen und sehr hoher ländlicher Bevölkerung in wenig dicht besiedelte Länder, die über zu erschließende freie Ländereien verfügten, stach dabei besonders hervor. In dieser Zeit kam es zu einem wesentlichen Anstieg der Bevölkerung in Europa, die laut den Einschätzungen von Historikern und Demografen im 15. Jahrhundert etwa 80 bis 85 Millionen, im 16. Jahrhundert 100 bis 110 Millionen, im 17. Jahrhundert 110 bis 120 Millionen und im 18. Jahrhundert bereits 190 Millionen betrug. Anders verliefen diese Prozesse in Deutschland, welches im düsteren 17. Jahrhundert aufgrund von Klimaverschlechterungen, Hungersnot, Epidemien und infolge des Dreißigjährigen (1618 – 1648) und des Neunjährigen Krieges (1688 – 1697) durchschnittlich ein Drittel, in einzelnen Regionen gar bis zu zwei Drittel seiner Bevölkerung verloren hatte. Danach begann wie auch in Europa insgesamt der Prozess der landesweiten Restauration und des beschleunigten Bevölkerungswachstums. So erreichte die Gesamteinwohnerzahl innerhalb der Grenzen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gegen Mitte des 18. Jahrhunderts wieder das Niveau aus der Anfangszeit des 17. Jahrhunderts, stieg weiterhin an und betrug 1700 21 Millionen, 1750 23 Millionen, 1790 25 Millionen und 1816 29,6 Millionen Menschen.3
Der Bevölkerungsanstieg in Deutschland wie auch in den Ländern Europas insgesamt geht auf eine sinkende Anzahl zerstörerischer Kriege und Massenepidemien, eine sinkende Kindersterblichkeit und auf eine Verbesserung der Ernährung und der hygienischen Bedingungen im Alltag der Bevölkerung zurück. Nachdem das Heilige Römische Reich 1806 zerfallen und 1815 der Deutsche Bund unabhängiger deutscher Staaten und freier Städte entstanden war, begann die zweite Phase des Bevölkerungsanstiegs, welcher sich ständig beschleunigte und in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts die Form einer demografischen Explosion annahm. Der bundesweite Bevölkerungsanstieg vollzog sich ungleichmäßig und hing von den Besonderheiten der Entwicklung des zum Bund gehörenden Österreichischen Kaiserreichs, seiner Königreiche (Preußen, Bayern, Württemberg, Sachsen, Hannover), zahlreicher Herzog- und Fürstentümer und von vier Städten (Frankfurt, Hamburg, Bremen und Lübeck) ab, die den Status von Stadtstaaten erhalten hatten. Die unterschiedlichen Entwicklungsvoraussetzungen und Geschwindigkeiten des Bevölkerungsanstiegs innerhalb des Bundes hatten eine bedeutende innere Migration und den Umzug großer Bevölkerungsmassen aus übervölkerten Orten in Gebiete mit geringerer Bevölkerungsdichte zur Folge.
Wie wir also sehen, hatten sich im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland und einer Reihe weiterer europäischer Staaten Bedingungen herausgebildet, bei denen ein wesentlicher Teil der Bevölkerung aktiv an verschiedenen Formen der inneren Migrationsprozesse beteiligt und somit bereits auf die Emigration in ferne unbekannte Länder vorbereitet war.
1.2. Populationskonzept und Kolonisationspolitik Preußens
Bereits in der Mitte des 17. und im darauffolgenden 18. Jahrhundertkam es zur Entwicklung und breiten Anerkennung der Bevölkerungstheorie, welche die Umsetzung einer Peuplierungspolitik vorsah. Ihr Wesen bestand in demografischen Maßnahmen, die auf die Besiedlung öder oder kaum besiedelter Gebiete durch Anwerben fremder Staatsangehöriger abzielte, denen verschiedene Privilegien und Freiheit versprochen wurden. Dabei ging man von der Annahme aus, die Umsetzung einer solchen Politik würde zum Bevölkerungswachstum, einer Verbesserung des Lebensstandards der gesamten Bevölkerung, erhöhten Steuereinnahmen und einer ökonomischen Entwicklung des gesamten Staates führen. Die Populationskonzepte waren sowohl unter Wissenschaftlern als auch unter Schriftstellern der damaligen Zeit weit verbreitet und bildeten später auch die Grundlage der realen Bevölkerungspolitik vieler Monarchen europäischer Staaten. Dies hatte in vielerlei Hinsicht mit den großen Bevölkerungsverlusten im Zuge zahlreicher europäischer Kriege zu tun, die mit religiöser Verfolgung, Hungersnöten, Epidemien und auch mit der Unterdrückung und unmenschlichen Lebensbedingungen des einfachen Volkes einhergingen.
Nicht zufällig führt die Mehrheit der Forscher Preußen und seinen König Friedrich II. (den Großen, 1712-1786) als Beispiel an, wenn es um die Peuplierungspolitik geht. Gerade in Preußen wurden die Konzepte dieser Theorie, deren praktische Umsetzung bereits früher und lange vor der Herrschaft Friedrichs II. begonnen hatte, vollständig und in riesigem Umfang umgesetzt. Die erste große Kolonisation Ostpreußens hatte sich bereits vor 1300 vollzogen, als der auf diesem Gebiet wohnende baltische Volksstamm der Preußen durch die Ritter des Deutschen Ordens assimiliert wurde. Diese warben dafür aktiv Deutsche, Skandinavier und Schweizer an und schritten auch nicht gegen die Übersiedlung von Franzosen, Polen, Russen, Tschechen und Litauern auf ihre Ländereien ein.
Nach den Bevölkerungsverlusten, die die Kriege des 15. Jahrhunderts verursacht hatten, wurde die Übersiedlung dieser Völker bereits stimuliert, und man ließ selbst die Ansiedlung von Flüchtlingen zu, die nie zuvor an die sie verfolgenden Staaten ausgeliefert worden waren. So kam es im Laufe der Jahrhunderte zur Bildung eines neuen Volkes, das nicht der Abstammung nach deutsch war, sondern durch die freiwillige Annahme des Glaubens, der Sprache, der Erziehung und der anerkannten Herrschaft. Die Rechte und Freiheiten dieses Volkes im Deutschen Ordensstaat waren zu jener Zeit beispiellos und nirgendwo