Monstratorem. Anja Gust

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Название Monstratorem
Автор произведения Anja Gust
Жанр Языкознание
Серия Die Geschichte der Sina Brodersen
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753185286



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ernsthaft zu überlegen. Dann sah er sein Gegenüber mit festem Blick an. „Das ist sehr bemerkenswert und beweist, dass Sie sich ihre Menschlichkeit bewahrt haben. Das findet man heutzutage selten“, lobte er. „Wissen Sie, Skrupel sind niemals ein Zeichen von Schwäche, sondern im Gegenteil von Stärke, wenn man bedenkt, dass man immer einen Grund für ein Befinden voraussetzt. Und dieser wiederum bedarf einer Motivierung, um sich seiner bewusst zu werden. Je stärker diese ist, je geringer die Gewöhnung an eine Ursacheninterpretation als Hemmnis ihrer Erforschung. Wahrlich ein Teufelskreis, der nur schwer zu durchbrechen ist. Aber glauben Sie mir, niemand von uns tötet aus Vergnügen. Es ist immer eine dahinterstehende Notwendigkeit, und Sie können mir glauben, ich hasse nichts mehr als gerade diese. Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit.“

      Daraufhin stießen die beiden Herren an und leerten ihre Gläser, obwohl Baron von Billow schon jetzt Diethards Verlust bedauerte. Fast hätte Säuberling seine Zuneigung gewonnen. Aber ein Koordinator, der auf solche Weise die eigenen Fehler korrigieren musste, war nicht länger tragbar.

      Kein Wunder, dass der Baron unmittelbar nach diesem Treffen eine bestimmte Nummer wählte und die nötige Anweisung gab.

       Danach betupfte er pedantisch die manikürten Finger mit einer vorgewärmten Zitronenserviette und las sorgsam ein kaltes Stück Wachtelfleisch vom Teller auf. Der Kaviar folgte. Seine brillantgeschmückte Rechte langte in die Traubenschale. „Nun gut“, räusperte er sich wenig später. „Vielleicht sollte ich noch etwas meditieren. Das beruhigt den Geist. Denn, wie sagte einst Chrysippos: ‚Man soll leben mit gehöriger Kenntnis des Herganges der Dinge in der Welt‘.“ Von Billow starrte aus dem Fenster in den großzügigen Garten des Anwesens und war, wie immer, mit sich sehr zufrieden.

      Alltag

      Mit Blüten im Portemonnaie fuhr er los. Die Adresse war leicht zu merken. Etwas aufzuschreiben wäre unprofessionell. Dank GPS fand er die Straße punktgenau, wobei er den blauen Audi durch typische Wohnviertelgassen mit Häusern aus der Jahrhundertwende manövrierte. Diese wirkten nostalgisch, verschroben, nicht unbedingt anheimelnd und doch imposant.

      Aus Sicherheitsgründen parkte er den Wagen ein paar Ecken weiter und bemühte sich um Unauffälligkeit. Unter der Kofferraumabdeckung wähnte er sein Bargeld sicher versteckt, hinzu kam eine Beretta und reichlich Falschgeld. Buchen säumten den Fahrbahnrand wie salutierende Posten.

      Als er heute Morgen losfuhr, war der Mond noch zu sehen. Jetzt standen die Zeiger der Uhr bereits auf elf. Zielstrebig begab er sich zur besagten Hausnummer. Die Wohnung befand sich im vierten Stock, ohne Namensschild und lediglich mit einem silbernen Sternchen versehen. Ansonsten schien alles normal: Altbau, Kinderwagen im Flur und Bohnerwachsgeruch. Er klopfte wie vereinbart dreimal kurz und zweimal lang. Jemand entriegelte die Tür.

      „Jacqueline?“, fragte er.

      „Ja, komm herein“, erwiderte das Mädchen mit den hochgesteckten Haaren, das ihm öffnete. Sie lächelte freundlich, wobei ihre brombeerroten Lippen mit ihrer auffallenden Blässe kontrastierten und ihr eine puppenhafte Kälte gaben. Zügig verschloss sie die Tür. Dann führte sie ihn, vorbei an einer Kommode, auf der eine Visitenkarte lag, ins Gästezimmer – einen zweckmäßig eingerichteten Raum mit schweren braunen Samtstores und süßlichem Deodorantgeruch. Die Gardinen waren zugezogen und das rötlich gedimmte Licht erschien hier milchig dumpf, obwohl es draußen taghell war. Typisches Asthmawetter für einen nebeligen Tag Ende März in Kiel.

      Das Zimmer war angenehm temperiert, seine Kehle hingegen trocken. Erst wollte er um ein Glas Wasser bitten, verkniff es sich aber. Mit einem sonderbaren Gefühl zwischen prickelnder Erwartung und Abscheu betrachtete er die tigerimitierte Tagesdecke des Bettes, den Spiegel an der Decke und die mit pinkfarbenem Plüsch gepolsterten Handschellen am Bettgiebel. Das ließ einiges erwarten. Es gab noch einen Durchgang mit Vorhang, zwei Sessel und einen Beistelltisch mit anderweitigen ihm nicht näher bekannten Accessoires.

      Im mannshohen Wandspiegel gegenüber der Spielwiese erkannte er sich wieder, gleichwohl wanderte sein Blick zu ihr zurück. Sie war etwa Mitte zwanzig, schlank, blond, mit langen, wohlgeformten Beinen und einer hohen, jugendlichen Brust. Zudem hatte sie einen stolzen Gang, was auf ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein verwies. Das war ihm sofort aufgefallen, als sie vor ihm hergelaufen war und aufgrund des beengten Flurs zur Vorsicht mahnte.

      Der Blick ihrer großen, hellen Augen hingegen wirkte freundlich und sanft, aber auch irgendwie unbestimmt und harmonierte absolut nicht mit ihrem Lächeln. Wie alle Mädchen ihres Gewerbes trug sie einen dunklen, mit silbernen Noppen besetzten Lederbody, der ihre Figur aufreizend betonte, dazu erwartungsgemäß Strapse. Die schwarzen High Heels gefielen ihm. Garantiert sähe sie ohne diesen ganzen Fummel wie jede andere aus und stand irgendwo im Supermarkt in der Schlange oder wartete auf den Bus. Allein dieser Gedanke torpedierte sein eigentliches Verlangen. Doch zur Umkehr war es zu spät.

      „Dreißig Minuten fünfzig Euro, das ist mit Kondom“, riss sie ihn aus seinen Gedanken. „Hundert ohne. Sonderwünsche kosten extra.“

      Wortlos zog er das Portemonnaie heraus und legte großspurig einen gelben Schein auf den Beistelltisch. „Der Rest geht aufs Haus“, bemerkte er.

      Über die unerwartete Großzügigkeit erstaunt, hellte sich ihr Gesicht auf. Sogleich bereitete sie alles für eine exklusive Bedienung vor. Ihr Anblick faszinierte ihn. Es erinnerte ihn an die Aphrodite von Milos, deren Statue er schon mal irgendwo gesehen hatte. Und wäre ihr Körper jetzt noch von bläulichem Nebel umwölkt und von diffusem Licht bestrahlt, man hätte sie in der Tat für eine Göttin halten können.

      Doch das war nur Fassade. Keine Frau takelte sich derart grundlos auf. Alles war zweckbestimmt und diente einem einzigen Ziel. Wer weiß, wie sie morgens um fünf nach einer durchzechten Nacht wirkte. Er hatte mal irgendwo gehört, dass eine Frau nur dann wirklich schön ist, wenn sie auch innerlich zu glänzen versteht. Wie das hier funktionieren sollte, blieb ihm unklar.

      „Mach dich schon mal fertig, ich bin gleich wieder da“, forderte sie ihn auf und wies kopfnickend zum Bett. Dann verschwand sie hinter dem Vorhang, der offenbar in ein Badezimmer führte.

      Er zog Schuhe und Socken aus, welche er akkurat unter den Stuhl platzierte. Der Rest folgte auf der Stuhllehne drapiert. Dabei betrachtete er seine Hände mit den filigran gezeichneten Venen. Sie waren sehr schlank und weich und konnten sehr zärtlich sein, aber auch wie Schraubzwingen zupacken. Doch darüber mochte er jetzt nicht nachdenken.

      Entkleidet legte er sich auf das Bett, zog ein weißes Baumwolllaken bis zum Bauch und verschränkte beide Arme hinter dem Kopf. An das trübe Licht hatte er sich rasch gewöhnt. Allerdings vermisste er ein Kissen. Seltsam angespannt betrachtete er den goldenen Deckenspiegel, in dem sich sein kantiges Gesicht zeigte, welches von dunkelbraunem Haar umrahmt wurde.

      Man sagte, es wirkte maskulin-herb. Wie immer das auch gemeint war, hässlich fand er sich nicht. Dazu hatte er schon zu viele Angebote bekommen, sogar von durchaus attraktiven Damen, die von Hause aus wählerisch sein konnten. Manche fanden ihn interessant, andere etherisch, ohne das jedoch näher zu erklären. Dabei störte ihn schon immer die seiner Meinung nach zu längliche Nase, die in Verbindung mit den hohen Wangenknochen seinem Gesicht etwas Aristokratisches, beinahe Überhobenes verlieh. Auch so etwas hatte er schon wiederholt gehört. Selbst wenn er nichts weiter darauf gab, störte es ihn, denn er war irgendwo auch verdammt eitel.

      Plötzlich sinnierte er über die Zukunft. So etwas passierte ihm öfter, meist in den unmöglichsten Situationen, so wie jetzt. Dann fragte er sich, was ihn wohl erwartete, wenn er weiter so sträflich leichtfertig blieb und mit seinem Schicksal spielte. Aber vielleicht wäre es besser, solche Gedanken schnell wieder zu vertreiben. Sie verwirrten ihn und zerstörten alles.

      Für einen Augenblick schloss er die Augen und sog die Luft tief ein, um sie möglichst lange innezuhalten. Das tat er immer, wenn er eine starke innere Anspannung empfand. Meist wurde er danach ruhiger. Heute jedoch gelang es ihm nicht. Mit einem Mal hatte er das Gefühl zu schweben, um danach wieder herabzusinken. Selbst die Wände drohten einzustürzen mit der grässlichen Vision eines qualvollen Erstickens. Er war irritiert, empfand jedoch keine Angst.