Monstratorem. Anja Gust

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Название Monstratorem
Автор произведения Anja Gust
Жанр Языкознание
Серия Die Geschichte der Sina Brodersen
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753185286



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er längst, wie kompliziert die Angelegenheit war und dass sich deren Tragweite noch gar nicht abschätzen ließ. Aber es lag wohl in der Natur der Sache, unangenehme Dinge zu verharmlosen, vor allem dann, wenn sie von besonderer Brisanz waren. Nun hätte er durchaus dabei bleiben und den Baron in seiner Hoffnung belassen können, zumal er selbst nicht der direkte Verursacher war. Doch schon aus persönlichen Gründen wollte er die Sache so schnell wie möglich bereinigen.

      Freilich wäre der Verlust von fünf Schlüsseln durchaus zu kompensieren. Doch darin bestand nicht das Problem. Dieses ergab sich ganz einfach aus dem damit verbundenen Code, der im Fall seiner Dechiffrierung unüberschaubare Folgen für die Sicherheit des ganzen Syndikats bewirken könnte. So weit dachte Herr von Billow natürlich nicht. Dafür hatte er ja auch seine Leute.

      Außerdem musste er nicht wissen, dass sich im Syndikat längst ein Maulwurf von der Konkurrenz tummelte. Nachdem dieser die Schlüssel an sich gebracht und in verschiedene Gartenzwerge versteckt hatte, um sie seinem Auftraggeber zukommen zu lassen, wurden sie ihm jedoch gestohlen und über eBay in mehrere Länder verkauft. So jedenfalls seine letzte Aussage kurz vor dessen Exekution.

      „Ach, was reden Sie da“, winkte der Pate unwirsch ab und wies das Mädchen an, mit der Massage fortzufahren. „Ich sehe noch keine Veranlassung, den Code zu ändern und damit die ganze Software umschreiben zu lassen. Sie wissen wohl nicht, was das kostet, ganz zu schweigen von unserem Imageschaden! Sie entwickeln nur das Unwahrscheinlichste aller Szenarien. Ich für meine Person glaube jedenfalls nicht daran. Selbst wenn jemand diese Schlüssel durch Zufall fände, wüsste er damit kaum etwas anzufangen. Er würde sie also wegwerfen.“

      „Da mögen Sie durchaus recht haben, Herr Baron“, wandte sein Gast in aller Bescheidenheit ein. „Und ganz bestimmt würde es auch so sein. Dennoch bleibt ein unverantwortliches Restrisiko, das wir unterbinden müssen. Daher schlage ich vor, dass wir in dieser Frage auf Nummer sicher gehen. Wir sollten unbedingt einen unserer Spezialisten darauf ansetzen.“

      „Haben Sie denn einen?“

      „Durchaus. Einen sehr geeigneten sogar.“

      „Sie machen mich neugierig.“

      „Wenn es nicht übertrieben klänge, würde ich jetzt sagen, ich habe ihn zu dem gemacht, was er jetzt ist!“

      „Oho, das hört sich sehr vielversprechend an“, frohlockte von Billow und schlürfte genüsslich seinen Tee. „Und was wissen wir zum möglichen Versteck der Schlüssel?“

      „Nach unbestätigten Angaben sollen sich diese in kleineren Fächern von Gartenzwergen befinden, die zur allgemeinen Gartendekoration dienen.“

      „Gartenzwerge?“ Der Baron kicherte. Dann aber runzelte er nachdenklich die Stirn. „Das ist interessant.“ Sein Nicken und die anerkennende Handbewegung bekundeten darüber hinaus einen gewissen Respekt.

      „Das kann man wohl sagen“, stimmte ihm Säuberling zu. „Wer kommt schon auf die Idee, ausgerechnet in solchen Figuren nach einem Schlüssel zu suchen.“

      „Da haben Sie recht. Zweifellos niemand. Jedenfalls kein normaler Mensch“, setzte der Baron lachend hinzu und klapste dem Mädchen vergnügt auf den Hintern mit der Frage, wo sie den kleinen Zwerg wohl suchen würde. Natürlich verstand sie nicht oder wollte es nicht, sondern lächelte nur gleichmütig wie alle diese Mädchen, die ihre Reaktionen offenbar programmiert bekamen. Trotz allem entging dem Paten die Unsicherheit seines Gastes nicht und er begann zu ahnen, dass dies nur die halbe Wahrheit war. Er kannte diese Finessen und es ermüdete ihn, sie so schnell zu durchschauen, wie er überhaupt diesen ganzen Kerl längst durchschaut hatte.

      Im Bestreben, darüber hinwegzutäuschen, kam Säuberling auch gleich wieder zur Sache. „Genau genommen benötigen wir nur einen einzigen Schlüssel. Dann kann der Code nicht geknackt werden“, erklärte er weiter. „Die sich dann ergebende Kombinationsvielfalt wäre so groß, dass kein Rechner der Welt sie mehr lösen könnte. Nach unseren Informationen sind die relevanten Figuren nach Polen gelangt. Dort soll ein größerer Posten von einem uns nur unter dem Vornamen ‚Volker‘ bekanntem Deutschen käuflich erworben und nach Schleswig-Holstein gebracht worden sein; genauer eingegrenzt wird der Raum Angeln bis ins Südholsteinische. Hier verliert sich die Spur.“

      „Das ist doch schon mal was!“, bemerkte der Baron anerkennend und nahm einen weiteren Schluck von seinem Tee. „Jetzt haben Sie mich mit Ihrem Spezialisten neugierig gemacht. Sagen Sie, kenne ich ihn?“

      „Nein. Er hatte noch nicht das Vergnügen, bei Ihnen vorstellig zu werden“, erklärte Säuberling daraufhin.

      „Ist das jetzt ein Vorwurf?“ Der Baron zog verwundert die Brauen hoch.

      „Mit Verlaub, keineswegs. Nur muss er sich erst noch ein paar Sporen verdienen. Ich bin zuversichtlich, dass er auf dem besten Wege dazu ist.“

      „Mein lieber Freund! Wie Sie das sagen! Richtig herzlos, als hätten Sie gar kein Gefühl“, tadelte ihn der Hausherr mit fröhlichem Schmollen.

      „Glauben Sie mir, Gefühle sind bei seiner Tätigkeit nur hinderlich. Wie Sie wissen, muss er Dinge tun, die ihm womöglich widerstreben. Ich kann Ihnen nur versichern, er wird alles veranlassen, was nötig ist.“

      „Wie alt ist er?“

      „Anfang dreißig.“

      „Und wie viele hat er schon ‚geschafft‘?“

      „Ein Dutzend, denke ich mal.“

      „Sie nehmen die Angelegenheit persönlich, nicht wahr?“ Der Pate horchte auf.

      „Ja, das tue ich.“

      Den Baron verwunderte diese unerwartete Offenheit, welche ihn ahnen ließ, dass es damit noch mehr auf sich hatte. Er entließ das Mädchen mit einem Wink und zog sich wieder an. Sein Gast tat es ihm gleich. Danach stiegen sie die kunstvolle Wendeltreppe wieder hinauf und begaben sich in den Salon zurück, wo es wie im Café „Macarons“ in Paris nach Croissants und Jasmintee roch.

      Der Hausherr hatte nebenbei ein Faible für frankophile Cuisine und war für seine lukullischen Genüsse bekannt. Als Künstler und Ästhet, wie er sich sah, vertrat er den Standpunkt, dass ein gepflegter Geist einer stilvollen Lebensart entsprang und umgekehrt. Er sah darin eine tiefe Dialektik, die am Ende zu einer inneren Vervollkommnung führte. Schon deshalb verabscheute er jede Form von Gewalt und empfand sogar eine tiefe Verachtung für all diejenigen, die derart emotionslos reagieren konnten.

      Freilich äußerte er das nicht, wie er überhaupt vieles nicht sagte, worüber er insgeheim sinnierte, auch über seinen heutigen Gast. Aus seiner Sicht war dieser nichts weiter als ein Versager, der seinen Zenit überschritten hatte und schon längst hätte eliminiert werden sollen. Wenn es bisher noch nicht geschah, dann nicht aus Respekt oder gar Mitgefühl, sondern einzig aus Bequemlichkeit. Jetzt aber war die Entscheidung über dessen Schicksal gefallen.

      Selbst wenn nach wie vor jener Zweckoptimismus galt, der einen guten Paten auszeichnete, hatte er ihn abgeschrieben. Schon deshalb lud er seinen Gast zu einem Cointreau in den Salon ein, in der Absicht, noch Weiteres über die anstehende Vorgehensweise zu erfahren. Da jener aber zögerte und der Hausherr längst fühlte, dass Diethard Säuberling etwas auf der Seele brannte, versuchte es der Baron mit Nonchalance und einigen Verweisen auf eigene Schwächen.

      Ob es nun an der besinnlichen Atmosphäre bei Kerzenschein und Sandelholzduft oder seiner vertraulich lockeren Art lag, war schwer zu sagen. In jedem Fall begann ihm sein Gast daraufhin tatsächlich einige Dinge zu gestehen, die er so nicht erwartet hätte. Nicht dass er manches von dem, was er tat, bereute, räumte er dabei zögerlich ein. Vielmehr bedauerte er, in manchen Situationen nicht stark genug geblieben zu sein.

      „Wie meinen Sie das?“, wollte der Baron sogleich wissen.

      „Haben Sie schon mal jemanden sterben sehen, der nicht sterben will? Es ist weniger das Mitgefühl für den Sterbenden als die Gewissheit, damit etwas Vollendetes, Einmaliges und Unwiederbringliches für immer auszulöschen. Wenn man demjenigen in die Augen schaut und die Erwartung auf das Ende darin lesen kann, ist