Magdalenas Mosaik. Gabriele Engelbert

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Название Magdalenas Mosaik
Автор произведения Gabriele Engelbert
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742769664



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Vater als Mann, Mutter als Frau, das war Schicksal, die Erwartungen daran eher sozial bedingt. Die Familie, sowie die gerade lebende Gesellschaft mit ihren Gesetzen und Regeln konnte sie auch nicht abstreifen. Nur die eigene Lebenslinie, die war damals in Elbing gerade dabei sich als dünner Anfang hinein zu fädeln.

      Sie liebte es, mit dieser Idee der baltischen Armreifen herumzuspielen, ihn zu drehen und die einzelnen Ebenen aus der verschlungenen Einheit heraus zu fingern….

      Sobald sie ihre Lehrzeit in Elbing abgeschlossen hatte, nahm Lene eine Stelle auf einem Rittergut in Westpreußen in der Nähe von Streckentin an. Die Gelegenheit hatte verlockend geklungen, und sie hatte keine Lust gehabt, lange zu warten. Sie unterrichtete dort ein zehnjähriges Mädchen in der sechsten Klasse. Von Oktober 1908 ein Jahr lang. Und sie war nicht nur als Lehrerin angestellt, sondern auch als „Erzieherin“. Das bedeutete, dass sie auch die Freizeit ihrer Schülerin teilte. Zu den Vergnügungen zählten Tennisspielen, Schwimmen, ausgedehnte Spaziergänge und gemeinsame Ausflüge. So bekam Lene einen Einblick in das nach außen hin sorglose Leben der vornehmen Gesellschaft. Wie es um die Arbeit des Rittergutsbesitzers stand, wusste sie natürlich nicht näher. In dieser Zeit wurde sie jedenfalls selbst fast vornehm und richtig erwachsen, so empfand sie es damals. Zwar hatte sie rund um die Uhr gut zu tun mit ihren ersten Unterrichts- und Erziehungsversuchen, aber nebenbei war oft Gelegenheit, sich auch mit eigenen Beschäftigungen zu vergnügen. Sie las, schrieb Briefe und hatte Zeit, für ihre Zukunft Pläne zu schmieden. Über diese immer mehr gefestigten Zukunfts-Pläne schrieb sie den Eltern. Und erhielt Antworten, die von vielen mitfühlenden Gedanken, aber auch Sorgen zeugten.

      Zu ihrem 20. Geburtstag am 29. April 1909 erhielt Lene von den Eltern einen Brief aus Osterode. Zuerst schrieb Vater in seiner energisch ausgeschriebenen Schul-Schrift.

       Mein liebes Lenchen!

       Dein lustiges Lachen tönt mir noch in den Ohren, und wenn ich Dir zu Deinem Geburtstage etwas wünschen soll, so ist mein herzlicher Wunsch der, dass Du im neuen Lebensjahr oft in der Gemütsstimmung sein möchtest, die Dich zu fröhlichem Lachen anregt. Dann wirst Du auch Trauriges, das etwa kommt, überwinden und wegstecken. Daraus will ich der Oberflächlichkeit nicht das Wort reden, aber zu der neigst Du ja ohnehin nicht. Hoffentlich leben wir in Göttingen oder in Breslau bald wieder ganz zusammen und studieren fleißig Genaueres zum Examen, - der Oberlehrerinnen-Prüfung? Noch besser freilich wäre es, wenn Du Dich verlieben und verloben wolltest, und Du bist ja nachgerade in den Jahren, in denen man auch das einem jungen Mädchen zum Geburtstag wünschen kann, was ich hiermit getan haben will. Lateinische Arbeiten zu korrigieren ist mir eine Freude, wenn sie von Dir kommen. Also schicke nur immer Deine Übersetzungen her. Alles andere Schreiben macht Mama und die Sprachen, und so bleibt mir nur noch übrig, Dich herzlich zu grüßen. In Liebe und Treue Dein Vater E.L.W.

      Göttingen oder Breslau, diese Wohnorte überlegte Papa vermutlich für die Zeit nach seiner Pensionierung. Mama hatte sein Geschriebenes ergänzt, - darunter, darüber und daneben und an den Rändern, wo eben noch Platz war -, in ihrer feinen, gleichmäßigen Schrift:

       Mein liebes Lenchen! Viel Gutes und Liebes wünsche auch ich Dir zum Geburtstage, den Du hoffentlich recht vergnügt verbringst. Papa und ich schenken Dir die gewünschten

       Tennisschuhe, die quittierte Schneiderrechnung und die Süßigkeiten, der Kuchen ist leider gar nichts geworden, iss nur nicht alles auf einmal auf. Einen Teil Sommersachen schicke ich mit, der Rest kommt nach der Wäsche, die nächste Woche ist. Anbei nur ein Blusenübertuch, ich bekam aus Versehen falschen Stoff und muss alles erst waschen. Die Auslagen verrechnen wir in den großen Ferien. – Papa hat sich seinen falschen Zahn ausgebrochen und kann nun vorläufig nicht singen. Gestern Nachmittag waren Schachers hier und blieben, weil ein starkes Gewitter kam, zum Abendbrot. Um acht kam noch der Bürgermeister, es war sehr nett. Neues gibt es kaum, in voriger Woche ist Frau C. gestorben und heute kam die Todesanzeige von Frau D. Für heute lebe wohl. Mit herzlichem Gruß für Dich und einer Empfehlung an die anderen Herrschaften Deine M.(utter) M. Wüst

       Wenn wir etwas besorgen sollen schreibe nur. Morgen schicke ich dann Schuhe etc.

       Die anderen Sachen bekommst Du gelegentlich, ich schicke ja öfter.

       Heute fehlt Oberlehrer Schmidt wieder, an Pfingsten hat er Urlaub genommen.

       Von dem neuen Kleid sind noch eine Menge Flicken übrig.

      Die Jungen wollten das neue Boot (ein Boot im schuleigenen Ruderhaus am See) „Ernst Leberecht Wüst“ nennen. Papa geht aber nicht darauf ein.

      Sorgen der lieben Eltern, natürlich, Lene hatte kaum anderes erwartet. Denn das Nesthäkchen hatte ja immer noch seine Extrawünsche. Aber ihre Pläne, ja, die hatte sie natürlich inzwischen richtig entwickelt. Nichts Geringeres als das Abitur sollte es sein. Das hatte sie sich in den Kopf gesetzt. Und was sich dort einmal eingenistet hatte, blieb unweigerlich da sitzen. Basta. Armer Vater, mit seiner jüngsten Tochter hatte er es wahrlich nicht leicht. Wissensdurst in allen Ehren, aber als Mädchen musste man das seiner Meinung nach ja nicht übertreiben. Lenchen war doch jetzt fertige Erzieherin. Wozu denn noch mehr? Überkluge Mädchen waren als Haus- und Ehefrauen weniger beliebt, so die Volksmeinung. Vater Wüst seufzte, aber er gab natürlich nach. Die Wünsche seiner Kinder nahm er ernst. Wenngleich dieser Wunsch bedeutete, dass das liebe Lenchen, inzwischen mit 20 Jahren auch nicht mehr die Jüngste, noch immer kein eigenes Geld verdienen wollte. Er selbst kam auch allmählich in die Jahre. Seine Gesundheit war schon lange nicht mehr die beste. Diese Sorgen konnte Lene durchaus verstehen. Die Idee mit dem Abitur wollte Vater noch immer nicht recht schmecken. Das machte ein weiterer Brief der Eltern vom Juni 1909 deutlich. Wieder schrieb zuerst Vater, dann Mutter, wo noch Platz an Rändern, Kopf- und Seitenenden war.

       Mein liebes Lenchen!

       Ich habe mich über Deine Entschließung, das Abitur nachzuholen und zu studieren doch sehr gewundert. Das Entgegenkommen, das der Minister durch seine letzte Verfügung den Lehrerinnen beweist, lehnst Du ab. (Statt eines Examens wählst Du lieber garni, also Erzieherin im Privathaushalt). Statt einer Verbeamtung von fünf Jahren sprichst Du Dich für solche von sieben Jahren aus. Auch werden die Prüfungskommissionen auf solche Lehrerinnen, die das Abiturientenexamen gemacht haben, nicht die geringste Rücksicht nehmen, sondern sie behandeln wie die Kandidaten, die heut zu Tage mindestens acht Semester studieren, während man die Lehrerinnen, die für höhere Mädchenschulen geprüft sind und dann der letzten Verfügung entsprechend die Oberlehrerinnenprüfung ablegen wollen, mit einiger Nachsicht zu behandeln gar nicht abgeneigt sein dürfte. Vor allem glaube ich, dass Du Dir die Vorbereitung auf das Abitur-Examen zu leicht vorstellst. Dass Dich die Aussicht so vielen Kram in Mathematik, Chemie und Physik u.s.w. wieder in den Kopf „einzupremsen“ Dich nicht zurückschreckt!! Aber alles das, was ich eben ausgesprochen habe, soll Dich nur veranlassen, noch einmal alles zu überlegen. Falls Du wirklich von dem Wunsch beseelt bleibst erst noch das Abiturexamen zu machen, so werde ich Dir, soweit ich es vermag, zur Erreichung des Zieles behilflich sein: in Deines Vaters Hause wird stets eine Wohnung und Essen und Trinken, wo wir auch weilen, bestehen, nur dass ich den Abschluss Deiner Studien noch erleben sollte, ist ja sowieso nicht anzunehmen, später wohnst Du dann mit Mama zusammen. Dass Du zum 1. Oktober Streckentin verlässt, scheint mir, wenn Du die Oberlehrerinnenprüfung ablegen willst, ob so oder so, unerlässlich, und Herr und Frau Guhse werden ja ein Einsehen haben und Dir eine Kündigung Deiner Stelle nicht übelnehmen. Das ganze Mädchenschulwesen und alles, was drum und dran hängt, ist immer noch in der Entwicklung und man ist vor Überraschungen keinen Augenblick sicher. Ob schließlich die Mühe und Arbeit, die Du aufzuwenden gedenkst, im Verhältnis stehen wird zum pekuniären Erfolge, wer will es heute sagen. Ob ein dreijähriges Studium auf einer Malerakademie und das Examen für Zeichenlehrerinnen nicht den gleichen Erfolg bringen sollte, wobei freilich Begabung und Neigung eine Hauptrolle spielen, wer kann’s wissen. – Rieke Fuhrmann ist z.Z. so geschwächt, dass sie ihr Studium in Bonn abgebrochen hat und in Olivar weilt zur Erholung. Sie wird sich freilich in Crefeld bei der Pflege der Mutter erheblich angestrengt haben. Sonst nichts Neues von Paris.

       Mit herzl. Gruß