Dark World I. Tillmann Wagenhofer

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Название Dark World I
Автор произведения Tillmann Wagenhofer
Жанр Языкознание
Серия Dark World
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750225602



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hatte er sich auf direkten Weg zu Anderson gemacht, der für das Personalwesen der Ordensburg zuständig war. Denn Sid wusste, dass das Mädchen nur eine Chance hatte, dauerhaft zu überleben. Der Entschluss war ihm nur aus einem Grund leicht gefallen - weil er tatsächlich keinen anderen Weg wusste. Der Orden musste das Kind aufnehmen, so wäre es in Sicherheit, würde versorgt, hätte sogar Privilegien, die anderen Kindern aus ärmlichen oder auch "normalen" Verhältnissen immer vorenthalten bleiben würden. Dazu gehörten auch das Lesen und Schreiben. Und das Töten später einmal, mahnte ihn sein Gewissen. Nur tat es das nicht lange, denn Sid tat es mit einem Achselzucken ab. Töten oder getötet werden, noch bevor es laufen konnte, hatte das Kleine diese bittere und nur mit Glück nicht endgültige Erfahrung machen müssen. Sehr im Gegensatz zu seinen Eltern und Geschwistern.

      Sid ging durch den kurzen Säulengang, von dem aus er die Mönche bei der Arbeit auf den Äckern beobachten konnte. Vom nahen Fluss hatten die Kirchenleute kleine Bewässerungskanäle aus Holz gebaut, die sowohl die Nutzpflanzen der Äcker als auch die Zisternen mit ausreichend Trinkwasser versorgte. Da der Fluss irgendwo im Nordwesten in den gigantischen Eispanzern, welche über den Bergen lagen, entsprang, führte er auch dann noch Wasser, wenn andere Flussläufe zu Schlamm getrocknet waren. Mais und eine sehr genügsame Sorte von Getreide wurde hier angebaut, auch einige Sorten von Beerensträuchern hatte man angepflanzt. Milch und Fleisch, letzteres auch für die Ecars wichtig, lieferten die Rinderherden, die abwechselnd auf speziell dafür angelegten Weiden grasten, die jedoch ebenfalls bewässert werden mussten. Die natürlich ohne Lohn arbeitenden Mönche der Abteien und die Steuer, welche die Kirche überall einzog, unterhielt die Truppen des Ordens, welche wiederum die Eiserne Faust und das Schild der Kirche darstellte. Als Garant für Sicherheit und Einhaltung des Glaubens stand nur die Heilige Inquisition der Flamme und über dieser der Bischofsrat im fernen Eternal Flame den Streitkräften des Ordens vor. Einmal war Red Sid in jener weit und breit bekannten Stadt gewesen, die - wie er durch die Mönche erfuhr - einst New York geheißen hatte, zur Zeit der Alten. Noch immer sah man zwar bröckelnde, aber nichtsdestoweniger machtvolle Gemäuer, aus denen noch heute die Erbauer immer neuer Wohnviertel ihren Baustoff herausschlugen. Man nannte Eternal Flame auch die Rote Stadt, böse Zunge - vor allem die der Stämme - nannten sie die Blutige Stadt. Red Sid musste noch heute an den zur Schau gestellten Reichtum der Kirche dort denken, an die drei Kathedralen, vor allem aber die gigantische Basilika, prunkvoll errichtet und innen mit rötlichem Metall ausgekleidet. Aufwendige Szenen erzählten vom Sieg der Kirche über irgendwelche in der Zeit verschwundene Völker der Öde, die sich dem Glauben an das Licht und die Wärme des Feuers, das die verkommenen Alten verzehrte, verweigert hatten.

      Dazu kamen die Heldentaten von irgendwelchen Heiligen, von Rittern, Paladinen und großen Kirchenleuten. Neben der Kirche versuchte auch der Rat der Fürsten, nicht an offensichtlichem Reichtum zurückzubleiben, es wurden Paläste errichtet, die - um die Kirche nicht herauszufordern - ebenfalls in dunklem Rot gehalten waren. Große, auf dem Zentralen Platz sogar zehn Meter durchmessende Kohlen- und Ölbecken wurden des Nachts entzündet und erhellten symbolisch das Dunkel, bis der nächste Tag anbrach. Noch heute musste Sid an die WAHRE Dunkelheit dieser Stadt denken, als er an die Armenviertel - übervölkerte, oft abbruchreife, mehrstöckige Bauten voller Hässlichkeit dachte, an die Sklavenpferche und den riesigen Sklavenmarkt, auf dem Familien auseinandergerissen, Frauen einem Schicksal, schlimmer als der Tod übereignet, Männer zu einem kurzen, aber qualvollen Leben in den Minen verdammt wurden. Er dachte an die Arenen, gleich mehrere davon gab es, in jedem der drei Kreise der Stadt eine. Der erste Kreis beherbergte natürlich die Reichen und Mächtigen sowie deren Truppen: Das Erste Konzil, oberste Instanz der Kirche des Feuers, nahe dabei der Palast des Fürstenrates der Fünf Städte. Händler, Adlige, Kirchenleute und Militärs, die es sich leisten konnten. Im zweiten Kreis lebten die normaleren Bürger, die für gewöhnlich über die Runden kamen oder sogar ein wenig Besitz ihr Eigen nennen konnten. Im dritten und bei weitem größten Kreis lebten die Armen, die Sklaven und jene Minderheiten, welche die Kirche noch als "Abkömmlinge von Menschen" anerkannte. Die Spiele in den Arenen umfassten so gut wie jede Abartigkeit der düsteren Seiten menschlicher Fantasie: Von Tierkämpfen mit den furchtbarsten Ungeheuern der Ödlande bis Kämpfen auf Leben und Tod oder auch Hinrichtungen auf alle erdenklichen Arten, es gab kaum eine Grausamkeit, die in diesen scheinbar wieder aus der Antike zum Leben erwachten Stätten des Todes und des Leids nicht gab. Hatte man Geld, war in dieser Stadt hinter vorgehaltener Hand alles zu haben - hatte man kein Geld, fand man sich unter Umständen sehr schnell auf einer dieser geheimen Wunschlisten wieder. Offiziell gab es das natürlich nicht, aber offiziell herrschte ja auch Frieden im Osten - dabei war der Fürstenrat ein Papiertiger ohne wahre Entscheidungsgewalt. Lediglich, wenn die Interessen insgesamt oder von einigen Fürsten zugleich bedroht wurden, konnte es hin und wieder zu einer Einigung kommen.

      "Red...was zum Henker und bei allen Bestien der Finsternis ist DAS?" Sid wurde jäh aus seinen Erinnerungen gerissen, als der Mann vor ihm - Personalmeister Anderson - auf das Baby auf seinem Arm wies, als würden dem "Gestraften" dort Schlangen herauswachsen. "Sieht aus wie ein Baby", meinte Red Sid trocken und machte mit seinem Blick klar, dass er Anderson für diese Frage in die Kategorie "schwachsinnig" oder - im Bestfall - "kurzsichtig" einordnen würde. "Das...das sehe ich auch...aber was macht es da?" "Hm, nach was sieht es denn aus?", fragte Sid mit einem Heben einer Augenbraue. Anderson wusste nicht recht, was er darauf erwidern sollte, bis er wütend auf den Tisch vor ihm schlug, auf dem einige Dokumente lagen. Der karg nur mit Stuhl, Tisch und einem Schrank eingerichtete Raum, wo lediglich das Zeichen des Ordens - eine stilisierte Flamme hinter einem Schwert - als Stickerei an der Wand zu sehen war, hallte von dem Geräusch wider. "Ich meinte, was schleppst du hier ein Balg herein, Red", schimpfte er. Sid hob lässig die Schultern. "Nachdem ich die vier Raider getötet hatte, die die Eltern, Geschwister und auch sonst jeden in dem Weiler umgebracht haben, aus dem das Kleine hier stammt…fand ich es im Dreck. Dort hatte eines dieser Mistschweine es liegenlassen, nachdem er versucht hatte, es durch einen Wurf an die Holzwand einer Scheune umzubringen. Es hat eine Platzwunde am Kopf und sein linkes Ärmchen ist gebrochen. Es hat niemanden mehr." Andersons Miene verriet plötzlich Mitleid, aber auch Bedenken. "Ist es ein Junge...?" "Ein Mädchen." Der Personalmeister holte tief Luft. "Wir haben keinen Platz mehr, zu viele weibliche Babys wurden in diesem Jahr schon abgegeben. Es geht nicht…" "Was, denkst du, soll ich dann mit ihr tun?", fragte Sid kühl. Anderson hob die Schultern. "Keine Ahnung..." "Gut, dann setze ich es in der Öde aus, wenn ich morgen wieder losreite. Keine Sorge, ich bin sicher, dein Gewissen bleibt rein, immerhin hast du ja nichts damit zu tun", meinte Sid leichthin, erntete damit aber einen noch weit entsetzteren Blick. "WAS? Das...das kannst du nicht machen…" "Wieso nicht? Du willst das Kleine nicht, und sicher wollte das Heilige Feuer, dass es nun stirbt, nachdem es diesen Mordanschlag überlebt hat. Glück aufgebraucht oder so. Also, ich gehe dann mal..." "WARTE", rief Anderson einlenkend - während Sid innerlich aufatmete. Nie wäre er imstande gewesen, einem Baby auch nur im Geringsten zu schaden. Zu seinem Glück hielt Anderson ihn für einen superharten, bisweilen grausamen Krieger, dem es vollkommen egal war, wen er tötete. Hauptsache, er wurde dafür bezahlt. Diesen Ruf hatte Sid in den letzten Jahren gepflegt, durfte sich darüber also nicht wundern.

      "Was ist noch?", fragte er ungeduldig. "Ich will saufen und dann noch…naja, das wollt ihr armen Ordensleute sicher nicht hören." "Ich...ich denke, ich kann das regeln…, dass die Kleine doch hierbleiben kann. Der Ordensmeister ist mir noch einen…Gefallen schuldig. Aber dafür…musst du sie gleich hierlassen", sagte der Ordensmann vorsichtig. Red Sid tat, als wäre er genervt, aber in Wahrheit stieg Anderson in seiner Gunst damit um einige Stufen. Im Gegensatz zu vielen gefühlskalten Kriegern hatte Anderson offenbar einen Teil seiner Menschlichkeit bewahrt. "Gut, ist mir auch lieber, als den Schreihals noch die ganze Nacht mit mir rumzuschleppen", stieß der "Gestrafte" rau hervor und reichte das unruhig werdende Baby dem Ordensmann, der es vorsichtig entgegennahm. Kaum hielt er es in den Armen, wurde das Mädchen ganz still und sah ihn mit großen, staunenden Augen an. Anderson musste entzückt grinsen, während Sid seine Heiterkeit nur knapp unterdrücken konnte. "Sie mag Sie...naja, dann…bin ich mal auf dem Weg, ich muss noch den Sold abholen", meinte der Jäger. Anderson nickte, ohne die letzten Worte richtig mitbekommen zu haben. Aus irgendeinem Grund fühlte Sid so etwas wie Verlust, als er davonging. Schnell schalt er sich einen Dummkopf. Was wolltest gerade DU mit einem Kleinkind? Die Stimme der Vernunft. Und er hörte auf sie.

      Es