Das Ding im Atlas. Micha Rau

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Название Das Ding im Atlas
Автор произведения Micha Rau
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783742734730



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an, und ich ahnte das Unheil kommen.

      Vorsorglich packte ich schon mal zusammen. Danny merkte, was ich vorhatte und motzte mich an.

      „Du Lusche! Wir halten länger aus! Du …“

      Das war´s. Coras Auftritt. Ich dachte, sie würde ihre Nachbarinnen heimlich informieren, aber nein …

      „Daaaa …! Danny hat sein Ding draußen!“

      Laut und deutlich. Besser: Sie kreischte. Alle fuhren zusammen und drehten sich um. Sogar Schulz. Und auch der liebe Danny fuhr zusammen. Zu seinem Pech in etwas unglücklicher Weise. Als er merkte, worauf Cora da starrte, klappte er in panischem Schreck den Atlas zu. Leider vergaß er, vorher das Lesezeichen herauszunehmen und klemmte sich das Ding zwischen Afrika und Südamerika ein.

      „Aaauuuuuuhhhh!“

      Schulz sprang auf. „Dannenberg!“, brüllte er. „Vorkommen! Zeigen Sie auf der Karte, wovon ich gerade gesprochen habe! Ein bisschen plötzlich!“

      Danny jammerte. Ich fühlte mit ihm. Wir anderen Vier hatten natürlich längst alles wieder geordnet.

      „Uhhhaarrgg!“ Danny litt sichtlich schwer. Ich meldete mich.

      „Er kann nicht. Er hat … er hat sich eingeklemmt.“

      Die Klasse grölte.

      „Nun“, meinte Schulz, „er scheint mir keineswegs verklemmt zu sein. Stehen Sie sofort auf und bringen Sie den Zeigestock mit!“

      Ich konnte nicht mehr, ich musste auch lachen. Ich fing an, hielt mir den Bauch und konnte nicht mehr aufhören. Bis ich Danny ansah.

      Mit schmerzverzerrtem Gesicht nestelte er an seiner Hose herum, mit der einen Hand hielt er den Atlas über die prekäre Stelle, mit der anderen versuchte er, die Sache zu einem unauffälligen Ende zu bringen. Dann stand er langsam auf, und unter dem vernichtenden Gekicher der Klasse warf er mir einen Blick zu, der mich auf der Stelle hätte töten müssen. Das Lachen erstarb mir auf den Lippen.

      Aber er stand die Sache durch. Geschlagen, aber nicht gebrochen. Mit gebeugtem Rücken, eine Hand auf den Unterleib gepresst, legte er den übelsten Weg seiner bisherigen Laufbahn zurück, erreichte die Karte, zog den Zeigestock hervor (den echten!), richtete sich auf und knallte die Spitze auf Sibirien.

      Es wurde ruhig in der Klasse. Schulz nickte langsam mit dem Kopf und hob anerkennend die Brauen.

      „Exzellent, Herr Dannenberg. Genau da gehören Sie hin!“

      Tag 1

      Ich blende jetzt mal kurz zurück, damit ihr wisst, mit wem ihr es überhaupt zu tun habt. Und worum’s geht. Ich bin Mike. Mike back on stage. Das ist meinem Freund Danny eingefallen, als ich unseren Englischlehrer Fiete ausgebremst hatte. Fiete flippte immer aus, wenn man nicht bei der Sache war. Da wir nie bei der Sache waren, flippte er eigentlich immer aus. Jedenfalls … Fiete fragte Danny die Vokabeln ab, Danny meinte, kann ich nich, darauf Fiete: Mit deinem Intelligenzquotienten hast du hier nichts zu suchen! Ich fand das nicht so richtig gut, also meldete ich mich und äußerte mich etwa so:

      „Das finden Sie wohl sehr witzig?!“

      Daraufhin gewann die Farbe Rot in seiner Birne die Oberhand, und ich handelte mir einen Brüllanfall der Stärke 12 ein. Als Fiete einmal Luft holen musste, raunte mir Danny von hinten zu: „Hey, danke! Mike back on stage!“

      Na ja, auf die Bühne zurück musste ich oft, schließlich fiel ich ebenso oft von ihr runter. Aber egal, so ist das Leben nun mal.

      Es gab nur eins, was mich in der Schule magisch angezogen hat, und das war die letzte Bank. Okay, liebe ältere Mitbürger, Sie haben schon Recht, auf die letzte Bank gehören nur die miesesten Typen. Und an meinem Streben in diese Richtung erkennen Sie, dass ich genau zu denen gehörte. Wahre Intelligenz hält sich eben vornehm zurück.

      Jedenfalls zog es mich am ersten Schultag im Humboldt-Gymnasium (wer ist dieser Humboldt eigentlich?) unwiderstehlich in die hintere rechte Ecke. Mein schon genannter bester Freund Danny war diesen magischen Kräften natürlich auch nicht gewachsen, und so fanden wir uns da wieder, wo die Schule so gerade noch zu ertragen war: Auf der letzten Bank.

      Ich sah mich um. Die Klasse gefiel mir. Ungefähr so wie die Zimmer in Bonnies Ranch, unserer berühmten Irrenanstalt, oder die Apartments im Knast in der Seidelstraße.

      Das Ganze sah aus wie ein hohler, grauer Würfel, farblich fein abgestimmt mit einem grünen Fleck an der Wand, auch als Tafel bekannt. Dazu fünfzehn braune Folterbänke. Je eine für zwei der dreißig Gefangenen, die hier zu sieben Jahren lebenslänglich verurteilt waren.

      An einem dieser Tische saß ich nun und überlegte mir, wie ich die verdammten 2555(!) Tage überleben sollte, als Danny mich anstieß.

      „Hey, sieh mal!“

      „Was is’n?“

      „Hier scheinen schon mehr Leute verreckt zu sein.“

      Unser Tisch hatte wohl schon so manches Jahr geduldig ertragen müssen, denn eine kleine Heerschar von Schülern hatte sich auf ihm verewigt. Ehrfürchtig las ich:

      Englisch ruhe in Frieden, Amen

      Humboldt inhumanum est

      Tom liebt Martina

      Immerhin schien es auch wahrhaft tiefe Liebe in dieser Anstalt zu geben. Danny zückte seinen Kugelschreiber und ritzte dazu:

      Danny und Micha, am Beginn einer langen Irrfahrt

      Ich hatte auch eine Idee und schrieb:

      Latein ist Kotze mit Stückchen

      Das Gemurmel in der Klasse schwoll langsam an. Wie das in dem Alter so ist, man hält sich nicht lange mit Förmlichkeiten auf. Zehn Minuten zuvor noch war jeder vom anderen erbarmungslos angeglotzt und abgeschätzt worden. Doch das alles schien nun schon wieder Ewigkeiten her.

      Als er dann hereinkam und die Tür recht heftig hinter sich zumachte, war, glaube ich, jedem von uns klar, dass aus diesen dreißig zufällig zusammengewürfelten kleinen Teufeln eine eingeschworene Bande werden würde.

      Herr Mackuth legte seine schweinslederne Aktenmappe auf den Lehrertisch und musterte uns. Wie es mir schien, vergingen mindestens zehn unbehagliche Minuten, in denen er jeden einzelnen von uns derart intensiv anschaute, dass wir alle erstmal wieder ein paar Zentimeter kleiner wurden.

      „Guten Morgen.“

      Nach der vorangegangenen Stille zuckte ich richtig zusammen. Der hatte genau die richtige Stimme, jedenfalls vom Standpunkt des Lehrers aus. Nicht zu leise, nicht zu laut. Ein wenig schneidend, Aufmerksamkeit heischend. Mir war sie schon nach diesen beiden Wörtern nicht sympathisch, schien sie doch geradezu perfekt zu seinem Äußeren zu passen. Er besaß die klassische Lehrergestalt: Besenstielverstärkter Rücken mit einem Kreuz aus Eisen. Auch wenn er auf einem Stuhl saß, hatte man den Eindruck, dass er einen um mindestens zwei Meter überragte. Er besaß schütteres, schwarzes Haar, das er außerhalb der Schule stets mit einer Art Melone verdeckte. Niemals ging er draußen ohne Mantel, Schal und Hut. Ein bisschen antiquiert, dessen war er sich wohl bewusst. Aber er stand über den Dingen.

      Seine Augen sahen mich genau in dem Moment an, als ich seine dämliche Krawatte bemerkte. Diese Augen passten nicht in das Bild, das ich mir voreilig gemacht hatte. Sie waren von hellblauer, klarer Farbe. Sie machten ihn menschlich. Ein Unding!

      Ein ganz leichtes, unmerkliches Grinsen zog sich um seine Mundwinkel, und als ich merkte, dass es mir galt, war es schon zu spät. Ich bekam einen Kopf wie eine reife spanische Tomate. Südspanien, wohlgemerkt.

      Er überging es, und ich verankerte in meinem Kopf, dass irgendwo in diesem Lehrer noch ein Schüler stecken musste, der die andere Seite kannte. Aber ich sollte diesen