Zärtlich ist die Nacht. F. Scott Fitzgerald

Читать онлайн.
Название Zärtlich ist die Nacht
Автор произведения F. Scott Fitzgerald
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174425



Скачать книгу

ruhigen Ort – vielleicht Como. Warum kommen Sie nicht auch nach Como?«

      »Ach, Como –«, setzte die Señora an.

      Im Hause begann ein Trio, »Leichte Kavallerie« von Suppé zu spielen. Das benutzte Nicole, um aufzustehen, und der Eindruck, den ihre Jugend und Schönheit auf Dick machten, wurde immer stärker, bis ihn eine heftige Gefühlswelle durchströmte. Sie lächelte, ein rührend kindliches Lächeln, in dem die ganze verlorene Jugend der Welt lag.

      »Die Musik ist zu laut, um sich dabei zu unterhalten. Ob wir nicht etwas herumgehen? Buenas noches, Señora.«

      »Gutt Nacht – gutt Nacht.«

      Sie gingen zwei Stufen hinab auf den Weg – der im Schatten lag. Sie nahm Dicks Arm.

      »Ich habe ein paar Grammophonplatten, die mir meine Schwester aus Amerika geschickt hat«, sagte sie. »Wenn Sie das nächstemal herkommen, werde ich sie Ihnen vorspielen – ich weiß eine Stelle, wo man das Grammophon hinstellen kann, und wo es niemand hört.«

      »Fein.«

      »Kennen Sie ›Hindostan‹?« fragte sie ernst. »Ich hatte es noch nie gehört, aber es gefällt mir. Dann habe ich noch ›Why do they call them babies?‹ und ›I'm glad I can make you cry‹. Wahrscheinlich haben Sie in Paris nach all diesen Melodien getanzt.«

      »Ich war gar nicht in Paris.«

      Ihr kremfarbenes Kleid, das beim Gehen manchmal blau und manchmal grau schimmerte, und ihr sehr blondes Haar verwirrten Dick – jedesmal, wenn er sich ihr zuwandte, lächelte sie ein wenig, und ihr Gesicht leuchtete auf wie ein Engelsantlitz, wenn sie in den Bereich einer Bogenlampe kamen. Sie bedankte sich für alles bei ihm, fast, als habe er sie auf eine Gesellschaft mitgenommen, und während Dick allmählich die Übersicht über seine Beziehung zu ihr verlor, wuchs ihre Zuversicht – sie befand sich in einem Zustand der Erregung, der die Erregung der ganzen Welt widerzuspiegeln schien.

      »Man läßt mir hier jegliche Freiheit«, sagte sie. »Ich werde Ihnen zwei hübsche Lieder vorspielen: ›Wait till the cows come home‹ und ›Good-bye, Alexander‹.«

      Das nächstemal, eine Woche darauf, verspätete er sich, und Nicole erwartete ihn an einer Stelle des Weges, an der er, wenn er von Franzens Hause kam, vorbeikommen mußte. Ihr Haar, über den Ohren zurückgestrichen, fiel so auf ihre Schultern hinab, daß es aussah, als sei ihr Gesicht gerade aus ihm zum Vorschein gekommen, als sei dies genau der Augenblick, in dem sie aus einem Wald in klaren Mondenschein heraustrat. Das Unbekannte hatte sie hervorgebracht: Dick wünschte, sie hätte keine Bindungen, sie wäre weiter nichts als ein verlorenes Kind mit keiner anderen Heimstätte als der Nacht, aus der sie gekommen war. Sie gingen zu dem Versteck, wo sie das Grammophon gelassen hatte, bogen bei der Werkstatt um die Ecke, kletterten auf einen Felsblock und setzten sich hinter eine niedrige Mauer – vor sich endlos wogende Nacht.

      Sie waren jetzt in Amerika; selbst Franz, der Dick für einen unwiderstehlichen Schürzenjäger hielt, wäre nie darauf gekommen, daß sie so weit weg waren. Es tat ihnen so leid, Liebling; sie gingen hinunter, um sich in einem Taxi zu treffen, Honey; sie hatten eine Vorliebe für Lächeln und hatten sich in Hindostan kennengelernt, und bald danach mußten sie sich gezankt haben, denn niemand wußte Näheres, und niemand schien sich etwas daraus zu machen – schließlich aber hatte einer von ihnen den anderen weinend zurückgelassen, nur um selbst schwermütig und traurig zu sein.

      Die dünnen Klänge, die entschwundene Zeiten und künftige Hoffnungen miteinander verbanden, rankten sich an der wallisischen Nacht empor. Wenn das Grammophon schwieg, ließ sich das eintönige Zirpen einer Grille vernehmen. Nach und nach hörte Nicole auf, den Apparat spielen zu lassen, und sang für Dick.

      »Leg einen Silberdollar

       auf den Grund,

       sieh, wie er rollt,

       denn er ist rund –«

      Ihren leicht geöffneten Lippen entschwebte kein Atem mehr. Dick stand unvermittelt auf.

      »Was ist? Gefällt es Ihnen nicht?«

      »Natürlich gefällt es mir.«

      »Dieses hab' ich von unserer Köchin zu Hause gelernt:

      ›Eine Frau hat erst dann

       einen wirklich guten Mann,

       wenn sie ihn ausschilt dann und wann ... ‹

      Gefällt es Ihnen?«

      Sie lächelte ihn an und bemühte sich, in ihr Lächeln alles zu legen, was in ihr war, und es auf ihn zu übertragen und brachte sich ihm damit zum Geschenk dar und wollte selbst so wenig dafür, nur einen kleinen Widerhall, nur die Gewißheit, daß auch er innerlich erbebte. Langsam und sacht strömte die Süße der Weidenbäume, die Süße der dunklen Welt in sie ein.

      Sie erhob sich ebenfalls, stolperte über das Grammophon und wurde von Dick aufgefangen, wobei sie sich einen Augenblick lang in seine runde Schulterhöhlung schmiegte.

      »Ich habe noch eine Platte«, sagte sie. »Haben sie ›So long, Letty‹ gehört? Sicher doch.«

      »Nein, wirklich, glauben Sie mir. Ich habe überhaupt nichts gehört.«

      Noch gewußt, noch gerochen, noch gespürt, hätte er hinzufügen können; nur Mädchen mit heißen Wangen in heißen, verschwiegenen Zimmern. Die Mädchen, die er 1914 in New Haven gekannt hatte, küßten einen Mann, indem sie »So!« sagten und die Hände gegen seine Brust stemmten, um ihn wegzustoßen. Und hier nun war dieses kaum erst dem Verderben entrissene heimatlose Kind und verkörperte ihm den Inbegriff einer Welt ...

      Als er sie das nächstemal sah, war es Mai. Der Lunch in Zürich war eine Vorsichtsmaßnahme; offensichtlich strebte die folgerichtige Entwicklung seines Lebens von dem Mädchen fort; doch als ein Fremder vom Nebentisch sie mit Augen anstarrte, die wie ein unerlaubtes Licht beunruhigend glühten, wandte er sich dem Mann in weltmännisch einschüchternder Weise zu und durchkreuzte seinen Blick.

      »Er war nur neugierig«, erklärte er munter. »Er hat sich nur Ihre Kleider angesehen. Warum haben Sie so viele verschiedene Kleider?«

      »Meine Schwester sagt, wir wären sehr reich«, versetzte sie bescheiden, »seit Großmutter tot ist.«

      »Ich verzeihe Ihnen.«

      Er war um so viel älter als Nicole, daß ihm ihre jugendlichen Eitelkeiten und Vergnügungen Spaß machten, die Art zum Beispiel, wie sie beim Verlassen des Lokals ganz beiläufig vor dem Spiegel in der Halle stehenblieb, so daß sie sich in dem unbestechlichen Quecksilber wiederfinden konnte. Er war entzückt, wenn sie mit ihren Händen neue Oktaven zu greifen suchte, jetzt, da sie wußte, daß sie schön und reich war. Er gab sich redliche Mühe, in ihr nicht die fixe Idee aufkommen zu lassen, er habe sie wieder zusammengeflickt, und er war froh zu sehen, wie sie Glück und Zuversicht unabhängig von ihm wiedererlangte. Die Schwierigkeit lag darin, daß Nicole möglicherweise mit allen Dingen zu ihm kommen und sie ihm als köstliche Opfergaben, als Zeichen ihrer Anbetung zu Füßen legen könnte.

      In der ersten Sommerwoche hatte sich Dick wieder in Zürich eingerichtet. Er hatte seine Broschüren und was er während seiner Dienstzeit geschrieben hatte, so zusammengestellt, daß es ihm bei seiner Durchsicht von »Eine Psychologie für Psychiater« als Vorlage dienen konnte. Er hatte bereits einen Verleger dafür und stand in Beziehung zu einem armen Studenten, der seine deutschen Sprachfehler ausmerzen wollte. Franz hielt die Sache für übereilt, aber Dick wies auf die entwaffnende Anspruchslosigkeit des Themas hin.

      »Das ist ein Stoff, den ich nie wieder so gut beherrschen werde«, beharrte er. »Ich habe so eine Ahnung, als sei dies ein Thema, das nur darum nicht grundlegend ist, weil ihm niemals wesentliche Anerkennung zuteil wurde. Die Schwäche dieses Berufs liegt in seiner Anziehungskraft für den etwas bresthaften und schwächlichen Menschen. Innerhalb der Grenzen des Berufs findet er eine Entschädigung darin, daß er sich dem Klinischen, dem Praktischen