Das unsichtbare Tor. Brigitte Regitz

Читать онлайн.
Название Das unsichtbare Tor
Автор произведения Brigitte Regitz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742783646



Скачать книгу

auch die kleinen, runden Staubsauger anbietet, die eigenständig saugen? Sie zuckte mit den Schultern, nahm die Zeitung wieder hoch. Tatsächlich, von genau diesem Schneider war in dem Artikel die Rede. Angeblich hatte er in seinem Familienbetrieb inzwischen nicht nur menschenähnliche Roboter entwickelt, sondern sogar schon seit zwei Jahren getestet.

      „Das glaubt ja kein Mensch!“, rief Ida erzürnt. „Vom Mini-Staubsauger zum Androiden! Das liest sich wie ein Artikel vom ersten April.“

      In dem Beitrag wurde behauptet, die äußere Hülle der Roboter sähe aus wie menschliche Haut und Gestik, Mimik und Motorik ließen sich nicht von der eines Menschen unterscheiden. Die Sprachmodule besäßen eine individuelle Stimme, die Sprache sei flüssig, klänge völlig natürlich. Schneiders Androiden sollten sogar autonom auf unterschiedliche Situationen reagieren.

      Fragt sich nur, warum diese Supermodelle nicht in den Fern-sehberichten von der Hannover-Messe gezeigt worden waren, dachte Ida. Die da vorgeführten Typen bewegten sich staksig, sahen nicht aus wie Menschen, sprachen nicht so, hörten sich eher blechern an. Und von der Assoziationsfähigkeit menschlicher Gehirne waren die Forscher noch Lichtjahre entfernt. Und überhaupt: Wie wollte Herr Schneider eigentlich ein Ende der wirtschaftlichen Probleme herbeiführen, wie es in der Überschrift hieß?

      Ida las weiter, riss die Augen auf, warf die Zeitung auf den Küchentisch, hätte fast ihre Tasse dabei umgeworfen und fing dann schallend an zu lachen. Wer hatte sich bloß diesen Schwachsinn ausgedacht? Um der Korruption Herr zu werden, schlug Schneider laut Zeitungsartikel vor, in den großen Betrieben die Abteilungsleiter-Ebene auszutauschen und dort seine Androiden einzusetzen, denen er soziale Kompetenz einprogrammiert haben wollte und die fair, objektiv, gerecht, vor allen Dingen aber unbestechlich sein sollten.

      „Na dann“, kicherte Ida. „Die amtierenden Abteilungsleiter packen bestimmt schon ihre Sachen, wenn sie diesen Bericht lesen, und die Geschäftsführer werden sich bei dem Gedanken, mit Robotern zusammenzuarbeiten, vor Freude auf die Schenkel schlagen.“

      Jedenfalls war der gute Herr Schneider im Gespräch. So kurbelte er seinen Umsatz an. Ida schlug die Zeitung um, wollte sie zusammenfalten, als sie das Wort Shirt-Parade sah.

      Was stand da? Aufmerksame Nachbarn hatten einen jungen Mann als vermisst gemeldet, den die Polizei anschließend tot in seiner Wohnung fand. Ob eine Selbsttötung vorlag oder der Mann durch Fremdeinwirkung ums Leben gekommen war, wussten die Ermittler noch nicht. Die Untersuchungen liefen, hieß es.

      Bei dem Toten handelte es sich um einen ehemaligen Beschäftigten der Shirt-Parade, wurde weiter berichtet. Vermutlich spielte es keine Rolle, woher der Reporter, ein gewisser Wilfried Weiß, das wusste. Wahrscheinlich hatte er es eher zufällig von den Ermittlungsbehörden erfahren und in seinen Artikel eingebaut, um vom großen Bekanntheitsgrad dieses Unternehmens zu profitieren, weil er seiner Reportage zu mehr Bedeutung verhelfen wollte.

      Kapitel 2

      Ida Sommer kam am nächsten Morgen nach einer kurzen Zugfahrt am Hauptbahnhof von Bilddorf an, der Stadt, in der sich der Hauptsitz der Shirt-Parade befand. Sie stieg aus dem Zug aus und begab sich in die betriebsame Halle, in der zahlreiche Leute mit Gepäckstücken an ihr vorbeiliefen.

      Ida, eine achtundzwanzigjährige Frau mit kurzen, blonden Haaren und sehr blauen Augen, kam zum ersten Mal nach Bilddorf. Nach einer kaufmännischen Ausbildung hatte sie einige Jahre in einer kleineren Werbeagentur ihr Brot verdient, wo ihr die Erarbeitung und Umsetzung immer neuer Ideen so viel Spaß machten, dass sie an manchen Abenden gerne länger im Büro blieb, vor wichtigen Aktionen sogar samstags oder sonntags arbeitete. Statt Freizeitausgleich oder Überstundenvergütung gab es von der Geschäftsleitung für die Damen einen Strauß Blumen. Die Herren bekamen eine Flasche Hochprozentiges. Diese Art der Anerkennung war viel persönlicher als die formularmäßige Abwicklung der Mehrarbeit. In so einem Umfeld hatte Ida sich wohlgefühlt. Überhaupt hatte ihr das Arbeiten im Team sehr viel Freude bereitet. Alle Kollegen konzentrierten sich auf die Sache, trugen dazu bei, ein gutes Ergebnis einzufahren. Wenn Etats gewonnen wurden, ging die ganze Mannschaft auf Kosten der Agentur essen, feierte den Erfolg. Man empfand sich miteinander verbunden, identifizierte sich mit der Agentur.

      Aber: Nichts währt ewig. Zuerst brach ein großer amerikanischer Kunde weg. Dessen deutsche Niederlassung glaubte, sie könne genauso gut Werbung machen wie die Agentur. Als Nächstes gingen zwei kleine Etats verloren.

      Anschließend fand die Fusion mit einer größeren Agentur statt. Danach ging’s jedoch nicht auf-, sondern abwärts bis in die Insolvenz. Seitdem war Ida arbeitslos.

      Als sie aus dem warmen Bahnhof auf den Vorplatz trat, umfingen sie Nieselregen und Nebel. Gänsehaut kroch ihre Arme hoch. Sie fröstelte, zog den Gürtel ihres Kamelhaarmantels enger, schlug den Kragen hoch, nahm ein Kopftuch aus ihrer Handtasche, legte es über ihre Frisur, band es unter dem Kinn zu und nestelte ihre braunen Wildlederhandschuhe aus den Manteltaschen. Fast tat es ihr leid, die Handschuhe diesem Wetter auszusetzen, aber blau gefrorene Finger wollte sie nicht haben. Menschen hasteten an ihr vorbei.

      „Entschuldigung“, sprach sie einen Mann an, der ein wenig unwirsch aufsah. „Ich suche die Shirt-Parade. Könnten Sie mir wohl sagen, wie ich dorthin komme? Das Gebäude soll ganz nah beim Bahnhof sein.“

      „Ja, kann ich Ihnen sagen“, antwortete der Mann. „Sie gehen weiter geradeaus, überqueren die Straße an der nächsten Ampel, biegen sofort links ab. Danach nehmen Sie die zweite Straße rechts. Dann sehen Sie den Bau.“

      Ida wollte sich gerade bedanken, da war der Mann bereits verschwunden. Sie lief auf die Ampel zu, hatte aber nicht das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein. Als sie in die zweite Straße rechts einbog, sah sie das erwartete Gebäude nicht. Sie musste noch einmal fragen, dieses Mal eine junge Frau, die ihr entgegenkam.

      „Gehen Sie einfach weiter geradeaus“, antwortete die, ohne stehen zu bleiben. „Überqueren Sie die nächste Straße, links ist die Shirt-Parade.“

      „Danke“, murmelte Ida und machte immer größere Schritte. Ein Herumirren fehlte ihr gerade noch! Inzwischen kroch die Angst in ihr hoch, womöglich zu spät zu kommen.

      Wäre ich doch bloß einen Zug eher gefahren. Ich hätte nur zwanzig Minuten früher von zu Hause weggehen müssen, ärgerte sie sich. Hätte sie den Termin nur wichtiger genommen!

      Während sie dem Weg folgte, den ihr die Frau beschrieben hatte, wurde es immer nebliger. Wasser tropfte von kahlen Baumästen, traf Ida im Gesicht oder auf dem Kopf, durchnässte das Kopftuch. Sie zuckte jedes Mal zusammen.

      Beim Überqueren der nächsten Straße erkannte Ida die blaue Leuchtschrift Shirt-Parade auf der linken Seite. Erleichtert atmete sie aus, blieb stehen. Trotz des schlechten Wetters wirkte der weiße Bau ehrwürdig, sah mit den Bäumen, die davor standen, ein wenig aus wie ein Kurhotel, wenn man sich hinter den großen Schaufenstern des Erdgeschosses Caféhaustische vorstellte. Ida zählte fünf Etagen, während sie auf die Tür mit der Beschriftung Personaleingang zuging. Dort angekommen drückte sie gegen die Tür, es machte Klack und mit Ida schwappte ein kalter Hauch Luft in eine Halle mit Empfangstresen, an dem, wie Ida auf den ersten Blick erkannte, die Büroschlüssel ausgegeben wurden.

      Überrascht schaute sie zur Decke. Wie viele Meter mochte sie wohl hoch sein? Zehn oder fünfzehn? Wie in einer Kirche war sie ausgemalt. Frühjahrsszenen. Frische, grüne Pflanzen, Knospen – ein schwebender Park gewissermaßen. Ida riss sich von dem Anblick los, schaute sich um, sah Sitzgruppen aus lindgrünen Sesseln, die Leichtigkeit ausstrahlten. Ein paar Männer standen diskutierend im Kreis. Direkt gegenüber der Eingangstür erkannte sie zwei Aufzüge, vor denen Menschen warteten. Ihr Blick fiel auf den Empfangstresen. Von dort lächelte sie ein grauhaariger, älterer Mann in einer dunkelgrünen Uniform einladend an. Davon angezogen ging Ida auf ihn zu, sagte: „Guten Tag“, begann, im Innenteil ihres Mantels zu suchen.

      „Guten Tag, meine Dame“, erwiderte der Mann. „Was kann ich für Sie tun?“

      „Ich möchte zur Personalabteilung, zu ...“ Ida entfaltete den Brief, den sie inzwischen aus dem