bOOk oF liFe. Jess Pedrielli

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Название bOOk oF liFe
Автор произведения Jess Pedrielli
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847612537



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      Bisher hatte sich auch noch nie jemand die Mühe gemacht, ihm den Maßstab zu erklären, an welchem sie sich in ihren Ansprüchen und Forderungen an ihn orientierten. Wie sollte er da entscheiden können, ob es sich lohnte, den Aufforderungen der Erwachsenen nachzukommen oder besser nicht? Schwimmflügel wie ein Baby tragen zu müssen, weil er sonst absoff, war in Ordnung. Einen Spielgefährten meiden zu müssen, weil die jeweiligen Eltern sich nicht ausstehen konnten – kam nicht in Frage. Wenn beide Anordnungen per „du machst das, weil ich dir das sage“ erteilt wurden, verstellte ihm das nur den Blick auf das Wesentliche. Also war die einzig angemessene Reaktion auf diesen Satz eine bockige Verweigerungshaltung. Und zwar prinzipiell. So war er wenigstens auf der sicheren Seite und bewahrte sich vor Fehleinschätzungen und gröbsten Fehlern, glaubte er.

      So viel zu Mingus vorrangigsten Wünschen an sein Umfeld. Er hatte begriffen, dass bedingungsloser Gehorsam im Allgemeinen zwar zu zufriedenem Wohlwollen seitens der Erwachsenen führte, während die sofortige Leistungsverweigerung einem Hochverrat gleichkam, der ihm nur Missbilligung einbrachte, aber leider nicht seinem Wesen entsprach. Auch das dadurch thematisierte Hinterfragen von Autoritätspersonen sorgte nicht gerade für seine Popularität.

      Dennoch blieb er standhaft. Er wollte sich selbst aussuchen, auf wen er hörte und wessen Aufforderungen er lieber ignorierte. Sein wichtigstes Auswahlkriterium dabei war, ob die jeweilige Person sich in ihrem Führungsanspruch als würdig, integer und kompetent erwiesen hatte. Er bevorzugte diejenigen, die ihn trotz seines zarten Alters ernst nahmen und auf ihn einzugehen bereit waren. Menschen, deren Meinung und Persönlichkeit Mingus schätzte, weil sie in sich ruhten, doch gleichzeitig konsequent Grenzen zu setzen wussten, wenn erforderlich. Ganz weit oben in seiner Gunst standen selbstverständlich die seltenen Exemplare, welche ihm obendrein auch noch die eine oder andere Antwort anbieten konnten, was die ganz großen Fragen über das Leben betraf.

      Den untersten Rang seiner Wertschätzung belegte der Menschenschlag, welcher niemals nie und unter keinen Umständen jemals je über das Leben nachdachte. Unerhört fand er das. Wo käme die Menschheit denn hin, wenn alle einfach aufhörten, über den Sinn ihres Lebens nachzudenken!? Mingus geizte also mit seinem Respekt und beäugte die Menschen sehr genau und kritisch. Die meisten von ihnen beeindruckten ihn wenig, und er hatte kein Verlangen nach ihrer Gesellschaft, geschweige denn danach, von ihnen gesagt zu bekommen, was er zu tun und was zu lassen hatte. Trotz seiner durchaus umgänglichen Art war er in seinem tiefsten Inneren ein wählerisches Kerlchen.

      Die meisten Anweisungen der Erwachsenen an Mingus führten daher häufig zur Ausführung der gegenteiligen Handlung. Dies geschah sozusagen im Dienst an der Wissenschaft. Fielen die Resultate seiner ersten grundsätzlichen Faktensammlung für seinen Geschmack zu dürftig aus, beendete er sein Bombardement aus

       Wieso? Warum? Weshalb? Wozu? Und dann? Wer sagt das?,

      indem er zur experimentellen Überprüfung fortschritt.

      Wie sonst sollte er etwas über

      Konsequenzen, Ursache und Wirkung der Dinge, in Erfahrung bringen? Als man ihm daher ohne weitere Erklärungen verboten hatte, mit Haarklammern an Steckdosen zu spielen, suchte er sich notgedrungen schnurstracks eine andere Haarklammer, um der Sache gleich auf den Grund zu gehen. Es beschäftigte ihn einfach, was es damit auf sich hatte. Nach seinem ersten elektrischen Schlag, wusste er dies zwar noch immer nicht so genau, doch zumindest war ihm in der Steckdose tatsächlich eine furchteinflößende Kraft begegnet, um die er zukünftig lieber einen weiten Bogen machte.

      Sein Vorgehen führte erstaunlicherweise stets zu ein und demselben Resultat: tiefe Stoßseufzer auf Seiten der Erwachsenen, dicht gefolgt von tiefen Stoßseufzern auf Seiten von Mingus. Mit anschließendem Stirnrunzeln beider Parteien über die lästige Verbohrtheit des jeweils anderen. Mingus` ausgeprägtes Selbstwertgefühl sowie seine Neigung, alles in Frage zu stellen und ausloten zu müssen, ließen ihn selbst seiner Mutter insgeheim manchmal nicht ganz geheuer erscheinen. Er stand in dem zweifelhaften Ruf, ein kompliziertes, rebellisches Kind zu sein. Er galt als SCHWIERIG. Mingus vermutete jedoch, dass man nicht ihn schwierig fand, sondern sein permanentes Forschen nach für ihn essenziellen Axiomen. Er war schließlich neu in der Welt und wollte verstehen, worauf sie fußte.

      Seit er sprechen konnte, betrieb er unermüdlich seine Grundlagenforschung, die für Ungeduld, Verdruss und Unbehagen in seiner Umgebung sorgte. Alles, was man allgemein von einem Kind erwartete, war, dass es anschmiegsam, brav, formbar und rundum pflegeleicht sein sollte. Ein besonderes Wunschkriterium im Anforderungskatalog der Eltern für die zu besetzende Position eines Kindes lautete außerdem, keinerlei lästige Fragen sowie unliebsame Widerworte in die Welt zu setzen und stattdessen vorzugsweise seinen Eltern sklavische Ehrerbietung zu bekunden. Mingus erfüllte keines dieser Kriterien. Doch konnte man wirklich ihm dafür die Schuld geben, dass sie das falsche Kind erhalten hatten, von dessen intensivem Wissensdurst sie sich überfordert fühlten? Letzten Endes musste er sich mit ihren Unzulänglichkeiten genauso abfinden und arrangieren, wie sie sich mit den seinen.

      Und obwohl kein Mangel an gegenseitiger Liebe vorherrschte, lebten er und seine Familie in einem Zustand der Befremdung, was das innerste Wesen des anderen betraf. Irgendwo existierte eine unsichtbare Wand zwischen ihm und der überwiegenden Anzahl von Personen, denen er begegnete. Mingus konnte die Wand spüren, auch wenn er ihre Ursache nicht verstand. Noch nicht.

      Er wusste nicht, wie er seinen Eltern begreiflich machen sollte, dass er n i c h t die physische Verlängerung ihres eigenen Körpers und Geistes war, sondern ein eigenständiges Wesen. Eines mit vielen Fragen. Fragen, von der Sorte, die sie sich anscheinend nicht stellen wollten. Es war ihm schleierhaft, woher manche Erwachsene ihr Überlegenheitsgefühl gegenüber einem Kind hernahmen, wie er es unterschwellig wahrnehmen konnte, wenn Leute mit ihm sprachen, als sei er nicht nur Ausländer, sondern obendrein schwerhörig sowie geistig zurückgeblieben. Das einzig Beruhigende war, dass sie diesen gönnerhaften Ton nicht nur ihm gegenüber anschlugen. Er nahm es nicht länger persönlich, seit er beim Einkaufen mit seiner Mutter eine Frau beobachtet hatte, welche sich über ein fremdes Baby gebeugt und sehr merkwürdige Laute ausgestoßen hatte. Nach fünf Minuten konzentrierter Aufmerksamkeit wussten weder er noch das Baby, was „Eieieigutschiputschipuh“ übersetzt bedeuten sollte. Sie hatten daraus gefolgert, dass die Frau wohl außerplanetarische Muttersprachlerin sein musste. Doch dann stellten sie zu ihrer Überraschung fest, dass die Frau zu einem flüssigen Dialog mit Mingus´ Mutter in der Lage war. Auf Erdisch!

       Es ist nicht der Planet der Affen, sondern der Planet der Idioten, auf dem wir gelandet sind,

      konnte er in dem resignierten Blick des Babys lesen, als dieses endlich von der Dame erlöst und an Mingus vorbeigeschoben worden war.

      Jene Begegnung hatte Mingus sehr erleichtert, weil sie ihm bestätigt hatte, dass er kein Einzelfall war. Auch andere Kinder wunderten sich über das seltsame Verhalten der Erwachsenen, sobald sie auf ein Kind trafen. Man wurde nicht wirklich schlau aus ihnen und ihrer Welt, für die sie sich nur im Kleinen, aber nicht im Großen zu interessieren schienen.

      Fakt blieb jedoch, dass diese Leute sich wesentlich länger auf diesem Planeten aufhielten als er und trotzdem keinerlei befriedigende Auskünfte darüber geben konnten, worum es sich bei dieser Sache genannt Leben handelte? Die hilflose Antwort, dass das so genau eben keiner wisse, machte es auch nicht besser. Ja, und?! Sollte ihn das etwa beruhigen?!

      Empört schmiss sich Mingus erneut auf die andere Seite seines Betts. Wenn er in ihre Augen sah, beschlich ihn manchmal das gespenstische Gefühl, dass die anderen Menschen in Wirklichkeit gar keine Menschen, sondern Roboter waren, die sich bloß als Menschen getarnt hatten. Und er war der einzige übrig gebliebene echte Mensch aus Fleisch und Blut unter ihnen. Plötzlich war ihm einsam zumute. In seiner Vorstellung waren sie Mutanten, die sich zwar um ihn kümmerten als wären sie seine wirklichen Eltern, die aber nur nett zu ihm waren, um ihre wahre Identität weiterhin geheim zu halten.

      Würde Mingus sie allerdings aufschneiden, würde er in ihrem Inneren sicherlich nur leblose Stahldrähte vorfinden. Oder so etwas Ähnliches. Jedes Mal, wenn dieser Gedanke ihn überkam, wurden sie ihm so unheimlich, dass er auf die Straße rennen und in den