Späte Liebe am Meer. Stefan Raile

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Название Späte Liebe am Meer
Автор произведения Stefan Raile
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742712851



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trotz seiner Umhüllung ein bisschen klirren, wenn er aufs Pflaster fällt.

      Nichts davon geschieht, nur das Licht erlischt erneut.

      Ich stehe reglos, spüre meine Fingernägel im Handteller und die Zähne auf der Lippe, ein letztes Mal starre ich hoch zu dem dunklen Scheibengeviert, dann wende ich mich ab.

      Die Straßen liegen still, Regen beginnt zu stricheln. Trotzdem geh ich langsam. Die Nässe dringt mir bis auf die Haut.

      GENEVER BEI NETTY

      Der Soldat kam gegen neunzehn Uhr in das kleine Lokal. Er sah flüchtig auf die wenigen Gäste, dann ging er zu einem Ecktisch und setzte sich. Mechanisch schnallte er das Koppel ab, legte es zusammengerollt in die Schirmmütze, die er zwischen zwei Stuhlstreben schob. Als die Kellnerin herantrat, bestellte er: „Ein Pils, ein Korn.“

      „Doppelt oder einfach?“, fragte sie und musterte ihn.

      Er fand ihren Blick aufdringlich. „Doppelt“, sagte er.

      Sie bediente beflissen, stellte die Getränke schwungvoll vor ihm ab, dabei berührte sie mit dem Arm leicht seine Schulter. Er griff sofort zum Bier und trank in großen Schlucken. Als er das Glas absetzte, verzog er das Gesicht, dachte: gepanschte Plörre, müsste man überprüfen lassen, zumindest ein bisschen rumnörgeln, aber er fühlte sich zu müde. Manchmal schaute er zur Kellnerin. Sie stand hinter der Theke und hantierte mit flinken Bewegungen. Zuweilen begegneten sich ihre Blicke. Irgendwie erinnert sie mich an Regina, überlegte er, vielleicht wegen der langen, blonden Haare. Er nahm das Schnapsglas und leerte es in einem Zug, dann winkte er die Kellnerin heran. Als sie neben ihm stand, sagte er: „Dito.“

      Er sah ihr nach. Sie war schlank, aber ein bisschen voll in den Hüften. Dafür hatte sie hübsche Beine, die er ein gutes Stück bis über die Knie betrachten konnte. Als sie die Getränke brachte, beugte sie sich über den Tisch und fragte wie nebenbei: „Ärger?“

      „Wieso?“

      „Du siehst so grimmig aus.“

      „Schein“, sagte er, „nur Schein“, und er dachte: So eine bist du also, wirst gleich vertraulich. Da war Regina ganz anders.

      Kennengelernt hatte er sie beim Tanz. Zwar durfte er sie heimbegleiten, doch vor der Haustür zierte sie sich, und als er sie bedrängte, sagte sie: „Keinen Kuss. Das mag ich nicht. Nicht am ersten Abend.“

      Sie stellte seine Geduld auf eine harte Probe. Doch ihre Zurückhaltung spornte ihn eher an, als dass sie ihn abstieß. Er ließ sich nicht entmutigen, und öfter dachte er: Was man mit so viel Mühe erringt, muss Bestand haben.

      Das zweite Bier schmeckte noch schaler als das erste. Er trank es mit Widerwillen. Vielleicht hätte ich doch mit den Übrigen ausgehen sollen. Die saßen jetzt im Kulturhaus. Dort waren Mädchen, wurde getanzt. Sicher hielten ihn die Freunde für einen Eigenbrötler, oder sie vermuteten anderes. Rainer, sein Bettnachbar in der Kaserne, hatte grinsend gefragt: „Wo wohnt denn die lustige Witwe?“

      So ist es schon am besten, dachte der Soldat, ich muss allein sein, zumindest für ein paar Stunden. Wenn er die Kapelle spielen hörte, würde alles bloß noch schlimmer. Dabei mochte er Musik, richtig bewusst allerdings erst, seit er Regina kannte. Einige Wochen nach ihrer ersten Begegnung waren sie ins Kino gegangen. Anschließend spazierten sie noch ein bisschen durch die Straßen, und dabei fragte Regina: „Was hältst du eigentlich von Musik?“

      „Kommt darauf an“, erwiderte er.

      „Worauf?“

      „Auf die Art.“

      „Was gefällt dir denn?“

      “Jazz. Auch Chansons.“

      „Und Schlager?“

      „Kaum.“

      „Und sonst?“

      „Manches“, sagte er. „Beispielsweise Liszt. Les Préludes.“

      Sie fasste seine Hand fester, fragte: „Möchtest du’s hören?“

      „Jetzt?“

      „Ja.“

      „Und wo?“

      „Bei mir.“

      Nach dem bislang Erlebten kam der Vorschlag für ihn so unverhofft, dass er Misstrauen hegte. Er forschte nach einer verräterischen Spur in ihrem Gesicht, fand aber keine. Trotzdem glaubte er selbst vor ihrem Haus noch nicht daran, dass sie es ernst meinte. Doch sie nahm ihn mit in die Wohnung. Er fühlte sich ein wenig unsicher und trat sehr behutsam auf, bis sie sagte: „Brauchst nicht wie ein Kater zu schleichen, meine Eltern sind verreist.“

      Ihr Zimmer war klein, der Plattenspieler stand auf einem Schränkchen. „Im Regal ist noch ein Rest Sherry“, meinte sie, „gießt du uns was ein?“

      Als er die gefüllten Gläser auf ein Tischchen stellte, erklang schon Musik: Les Préludes. Regina klappte die Couch auf, legte sich schräg darauf und ließ die Beine an der Seite herabbaumeln. Sie lag da und lauschte. Er verharrte unschlüssig, eine ganze Weile, dann schaute sie zu ihm, und er bemerkte den Glanz in ihren Augen.

      „Komm her“, bat sie, „und halt mich fest, ganz fest.“

      Die Kellnerin ging mit einem leeren Tablett vorbei und fragte: „Dito?“

      Er nickte. Das Bier schoss zischend ins Glas, dennoch hatte es nur wenig Blume, als sie es brachte. „Wohl bekomm’s“, sagte sie und lächelte. Dabei sah er ihre makellos weißen Zähne. Sie stand so dicht neben ihm, dass er nur leicht den Arm zu bewegen brauchte, um an ihre Hüfte zu greifen, doch er rührte sich nicht. „Wir haben wunderbare Bockwurst“, meinte sie, „magst du welche?“

      „Danke“, sagte er, „das Essen in der Kaserne ist reichlich.“

      „Tatsächlich?“, fragte sie, und ihm war es, als ob ihre Stimme ein wenig spöttisch klänge. „Neulich waren zwei von eurer Gilde hier, „da hat jeder ein halbes Dutzend verdrückt.“

      „Vielfraße“ sagte der Soldat, „die legen ihren Sold nur in Futterage an.“

      „Und andere in Alkohol“, stichelte die Kellnerin.

      „Ja“, gab er zu, „andere in Alkohol. Jeder wird nach seiner Fasson selig.“

      Sie schürzte ein bisschen die Lippen und zuckte mit den Schultern, dann ging sie, und er sah, dass sie sich zu stark in den Hüften wiegte.

      Diesmal trank er den Korn zuerst, dabei fühlte er ein tüchtiges Brennen in der Kehle. Solltest langsam die Bremse ziehen, dachte er, du schüttest das Zeug in dich rein wie ein Quartalssäufer. Es sieht beinah so aus, als wolltest du Rainers These überprüfen, der kürzlich behauptet hatte: „Saufen erfordert Training wie jede Sportart.“

      Der Soldat beabsichtigte nicht zu testen, wo sein kritischer Punkt lag. So viel wie sein Großvater vertrüge er wohl ohnehin nicht. Doch der trank aus einem anderen Grund: Der Krieg hatte seine Gesundheit zerstört. Er war dreimal schwer verwundet worden. Am ärgsten hatte es ihn in der Normandie getroffen. Da steckte sein Rücken voller Splitter. Ein Feldscher operierte sie heraus, bis auf einen, der saß nahe der Wirbelsäule, und da traute er sich nicht heran. Er war beim Schneiden ohnedies zu großzügig gewesen und hatte ein paar Nerven beschädigt.

      Das verursachte immer wieder Schmerzen. Am Übelsten spielte dem Großvater jedoch der Splitter mit. Deshalb trank er. Ohne Betäubung hielt er’s zuweilen nicht aus. In solchen Situationen war es besser, wenn man ihn nicht ansprach, da schloss er sich gewöhnlich in seinem Zimmer ein. Dort leerte er eine Fünfzehntelflasche in enorm kurzer Zeit, und die Wirkung war entsprechend. Er fand am nächsten Morgen kaum aus dem Bett.

      Der Soldat erinnerte sich, dass der Großvater zuerst noch lachend ins fremde Land eingefallen war. Es gab Bilder, die es belegten: Seht, Leute, der Krieg ist für den kernigen deutschen Soldaten eine extravagante Art der Erholung. „Die Maginot-Linie