Lord Geward. Peter P. Karrer

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Название Lord Geward
Автор произведения Peter P. Karrer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847617402



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der noch auf keiner Karte lückenlos erfasst war. Der Eisbär, der den Vater schlagartig vom Jäger in den Gejagten verwandelte.

      Nur die gesamte Dorfgemeinschaft konnte einem so verschlagenen, wie auch gefährlichen Gegner trotzen und nur mit Geschick, List und Mut die Trophäe, das Fell, erobern. Ein Fell, das nicht nur wärmte, sondern auch jedem Besucher stolz präsentiert wurde.

      Mein Vater, der nach tagelanger Wanderung zielsicher die richtige Stelle im Eis wiederfand. Ein stiller Jäger, ein gefährlicher Jäger, der nie ohne eine ausreichende Anzahl Robben nach Hause kam. Ein Mann, der nicht viel redete, der tagelang kein Wort mit mir wechselte. Oft dachte ich mir, er hätte mich vergessen und doch lehrte er mich alles Notwendige zum Überleben im ewigen Eis.

      Mein Vater blieb zu Lebzeiten ein Fremder für mich. Unnahbar, stumm und meist unendlich weit weg.

      Ursache war sicher die Kälte, der ständige Kampf ums Überleben, die Bürde der Verantwortung, in einer Hölle aus Schnee und Eis.

      Manchmal, glaube ich, war er auch ein wenig stolz auf mich. Wie damals, als ich meine erste Robbe erlegte. Gesagt hat er das nie, aber stolz war er doch. Als wir nach vier Tagen Robbenjagd zurückkamen und er glaubte, ich schlief, erzählte er stolz meiner Mutter, wie geschickt ich vor zwei Tagen meine erste Robbe zur Strecke gebracht hatte.

      Meine Mutter schwieg, aber ich wusste: auch sie war stolz und zufrieden. Eigentlich war meine Mutter mit allem zufrieden oder sie hat sich mit allem abgefunden.

      Oft vermisse ich sie. Ihre Ruhe, ihre Stille, die unausgesprochene Liebe und Geborgenheit. Nie mehr werde ich ihre Güte spüren, nie mehr.

      Sie ist jetzt über dreihundert Jahre tot und bis auf mich hat sie sicher auch jeder längst vergessen.

      Der Gedanke an meine Mutter treibt mir dicke Tränen ins Gesicht. Ich spüre das warme Brennen in meinen Augen und schmecke die salzigen Tränen in meinen Mundwinkeln.

      Schlagartig erwache ich aus meinen Tagträumen.

      Der Himmel strahlt immer noch sein wunderbares Blau und auch die Luft ist immer noch rein und frisch, kein Smog stört den süßen Geruch, kein Lärm bricht die Ruhe.

      Ich versuche meine Gedanken zu ordnen. Meine Mutter, über dreihundert Jahre tot, mein Großvater Hausverwalter.

      Nein, nein! Werde ich verrückt? Oder bin ich es schon?

      Wer bin ich? Wo bin ich? Was geschieht hier? Wo ist mein Daimler? Was ist mein Daimler?

      Ich versuche mir alles ins Gedächtnis zu rufen, aber irgend etwas zwingt mich zu vergessen. Aber ich will nicht vergessen, nicht meinen Daimler, nicht meinen Großvater und nicht meine Mutter. Ich will nichts vergessen, will mich erinnern, muss mich erinnern.

      Mein Magen mischt sich wieder in meine Gedanken. Diesmal ist es nicht das Gefühl der Übelkeit, nicht der unerträgliche Überdruck, nur der sanfte Druck des Hungers.

      Mein Bruder, glaube ich, war es einmal - in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit - der mir zeigte das Wild zu beobachten, die Windrichtung zu berücksichtigen, den Takt und die Stärke der Atmung zu kontrollieren, Kimme und Korn in Einklang zu bringen, das Gewehr fest an die Schulter zu pressen und im richtigen Moment das Wild mit nur einem Schuss zu erlegen.

      Mein Bruder war es, der mir alles über die Jagd beibrachte. Die Jagd, die überlebenswichtig für die ganze Familie war, in den weiten Tälern Usbekistans, lebensnotwendig für den Wintervorrat.

      Eine Jagd, die nicht dem Vergnügen, wie in späteren Zeiten diente, sondern einfach nur zum Überleben, zum Stillen des täglich wiederkehrenden Hungers.

      In einer Zeit, in der Hunger nicht die Lust am Essen war, nicht die Lust, die durch hochbezahlte Werbeagenturen und ihren hochdekorierten Werbestrategen erst geboren wurde, ein Hunger, der sich in verkauften Einheiten und bunten Umsatzstatistiken wiederspiegelte, ein Hunger, der entschied, wer Verkäufer des Monats wurde und dessen Bild vier Wochen lang die Verkaufstheke zierte und jedem Kollegen den Neid in den Rücken drückte.

      Nein, dieser Hunger war anders: Ein unaufhaltbarer, Urgewalten weckender, immer wiederkehrender Hunger! Der, wenn er nicht gestillt wurde, ganzen Familien den Tod brachte. Zehn Kilo Fleisch am Tag, damals für eine Familie überlebenswichtig.

      Diese Menge purer Energie wird man später als Völlerei verdammen. Es wird die Zeit kommen, in der Gemeinschaften, Krankenkassen wird man sie nennen, Milliarden dafür ausgeben, die Folgen des künstlichen Hungers zu kurieren. Es wird tausende Bewegungsstätten geben, die Milliarden verdienen, um den unnötigen Speckvorrat zu bekämpfen. Ein findiger Unternehmer, oder nur eine, des natürlichen Lebens überdrüssige Gesellschaft, wird sie Fittnesstudios taufen.

      Nicht Tag und Nacht werden den Alltag bestimmen, Diätpläne werden unseren Tagesablauf entscheiden, Kalorientabellen werden zum ständigen Begleiter, Therapiegruppen werden die Familie ersetzen, Diätärzte werden unsere besten Freunde.

      Nicht Gott wird verehrt, sondern makellose, computerretuschierte Supermodels werden vergöttert und Schönheitschirurgen werden diese neuen Götter erschaffen.

      In einer Zeit, in der eine erfolgreiche Jagd überleben bedeutet, haben Kalorientabellen keine Bedeutung.

      Jedoch in keiner Zeit füllen Träume hungrige Mägen.

      Jetzt ist auch das wohlige Hungergefühl in meinem Magen einem galoppierenden Mustang gewichen. Ein Gurgeln und Grollen - ähnlich dem Glucksen und Fauchen meiner alten, nach Entkalker schreienden Kaffeemaschine aus einer anderen Welt. Einer Welt, in der ein Daimler mehr bedeutet, als das Gefühl seine erste Robbe zu erlegen, mehr als das Gefühl in frischem, süß duftendem Gras zu träumen. Eine Welt in der „Freiheit und Abenteuer“ ganze Generationen veränderte. Eine Zeit, in der das Absolute gilt und die Zukunft, bestimmbar, in jede Richtung steuerbar erscheint.

      Eine Zeit, die nichts weiß von mächtigen Wesen deren Gedanken Welten erschaffen und Welten zerschlagen.

      Die älter sind als alles Vorstellbare, älter als jede Galaxie und älter als das Universum. Wesen, die alle Zeiten überdauern werden, denen man mehr Namen geben wird, als es Sterne am Firmament gibt. Namen wie Zeus, Apoll, Shiva, Osiris und Tausend weitere.

      Oder einfach nur Gott.

      Wesen die auf Ungehorsam mit Sintfluten und Dürre antworten, Hochmut mit Heuschreckenplagen bestrafen und doch den gewaltsamen Tod von Millionen dulden. Die allmächtig, allwissend und doch oft blind zu sein scheinen.

      Wesen, deren Existenz nie zu beweisen sein wird und ihre Gegenwart doch allgegenwärtig ist.

      Eine Macht, die anleitet, Wege bereitet und doch den Ablauf der Dinge nicht beschränkt. Jene Wesen, die Hass und Zorn beschreiben und doch Güte und Verständnis fordern. Kreaturen, aus Himmel oder Hölle, die den Besitz eines Daimlers beschwören und doch die Zufriedenheit darüber versagen.

      Meine Tagträume reißen mich immer tiefer in ihren Schlund, ich muss mich von ihnen befreien, muss aufstehen, weg von meinem wohligen Himmelbett aus weichem Grass und warmen Moos. Muss mich erinnern, muss erwachen, einige Schritte gehen und mich befreien.

      Die Ruhe und Zufriedenheit greift wie eine riesige Hand nach mir und will mich wieder ins Land der Träume reißen.

      Langsam, einem vom Tode erwachten Zombie gleich, stehe ich auf.

      Zum erstenmal erfasse ich bewusst meine Umgebung: Nicht nur das herrliche Gras, das mich mit seiner Ruhe verschlingen will, nicht nur den Himmel, der mich mit seiner Zartheit verwirren will, nicht nur die reine, saubere Luft, die mich benebelt.

      Nein, ich bin in einem riesigen, menschenleeren Tal, das sich neben mir unendlich bis zum Horizont ausdehnt. Vor mir sehe ich Berge, riesige Berge, mit weißen gezuckerten Gipfeln und grünen Tälern.

      Während ich einige Schritte wage - auf Füssen, die sich anfühlen, als hätten sie seit Jahrhunderten keinen Körper mehr getragen - verändert sich meine Umgebung, langsam, unmerklich; aber ich bin sicher, sie verändert sich!

      Ganz nah, nur wenige Meilen entfernt,