Wie ein Wildtier gejagt. Gary Maas

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Название Wie ein Wildtier gejagt
Автор произведения Gary Maas
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742745606



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fragte er sich, wie lange Christina heute noch schlafen wolle. Sie musste am vorherigen Tag anstrengende Aufgaben zu erledigen gehabt haben. Als Roman jedoch sein Smartphon einschaltete, war er überrascht, denn er entdeckte eine WhatsApp-Nachricht von Christina: „Wie du wohl schon vermutet haben wirst, haben wir heute etwas zu besprechen. Ich bin um 15 Uhr zu Hause.“

      Roman setzte sich in seinen Sessel im Wohnzimmer und dachte nach. Christina hatte offensichtlich angenommen, er würde entdeckt haben, dass sie nicht nach Hause gekommen war. Sie vermutete wohl, Roman wäre beunruhigt und außerdem eifersüchtig, denn sie hatte allem Anschein nach die Nacht zusammen mit einem anderen Mann verbracht. Roman war selbst etwas verdutzt, dass weder das eine noch das andere stimmte. Ihm war nicht aufgefallen, dass sie nicht nach Hause gekommen war, und der Gedanke, dass sie eine Beziehung zu einem anderen Mann begonnen haben könnte, regte ihn nicht auf. Allerdings hatte Roman keine Lust auf eine spannungsgeladene Auseinandersetzung, garniert mit gegenseitigen Vorhaltungen. Nein, das wollte er sich nicht antun. Er beschloss sich dem zu entziehen. Er würde auf sein Rad steigen, zu einem Restaurant fahren, wo man spät gut frühstücken konnte, und danach eine Weile in der Schule in dem kleinen Lehrerzimmer arbeiten, in dem er seine eigene Ecke eingerichtet hatte. Danach würde er zu einem urigen Landlokal am Rande der Stadt fahren. Dort könnte er Apfelsaft trinken und nachdenken. Später würde er irgendwo Abendbrot einnehmen und gegen 20 Uhr nach Hause zurückkehren. Ein guter Plan! So packte Roman ein paar Unterlagen in seine Schultasche, verließ das Haus, aktivierte die Alarmanlage und stieg auf sein Rad.

      Als er gegen 20 Uhr nach Hause zurückkehrte, stellte er sein Fahrrad in der Garage ab. Dabei entdeckte er, dass in der anderen Hälfte der Garage Christinas Auto stand. Er begriff, dass sein Plan nicht ganz zum gewünschten Erfolg geführt hatte. Zwar hatte er am Nachmittag die Auseinandersetzung vermeiden können, aber jetzt musste er sich ihr stellen. Also schloss er die Haustür auf und entdeckte, dass die Alarmanlage tatsächlich deaktiviert war. Er stellte seine Tasche in der Garderobe ab, hängte seine leichte Jacke hin und lief ins Wohnzimmer, wo Christina in der Dämmerung saß und vor sich hin starrte.

      „Hast du meine WhatsApp-Nachricht nicht gelesen?“, hörte Roman sie fragen. „Doch, ich habe sie gelesen.“ „Warum warst du nicht hier, als ich nach Hause kam?“ „Ich hatte keine Kraft für eine heftige Auseinandersetzung. Ich befürchtete, du wolltest mir sagen, du habest die Nacht zusammen mit einem anderen Mann verbracht.“ „Das habe ich ja und ich wollte mit dir darüber sprechen.“ „Sollten wir eine Manöverkritik veranstalten und den taktischen Einsatz verschiedener erotischer Praktiken diskutieren?“ „Werde bitte nicht sardonisch. Ich brauche wirklich deine Hilfe.“ „Na, dann schieß los, ich bin ganz Ohr.“ „Setz dich neben mich hin. Ich möchte deine Hand halten.“ „Ich weiß nicht, ob das ein angemessenes Benehmen für einen frisch gebackenen Hahnrei ist.“ „Bitte, komm zu mir und setz dich hin. Ich muss wirklich sehr dringend mit dir vernünftig sprechen.“

      Roman lief zur Couch und setzte sich neben Christina hin, die seine linke Hand ergriff und sie streichelte. „Na, was hast du Dringendes mir zu sagen?“ „Ich möchte dir erklären, was gestern Nacht geschehen ist, und dir klarmachen, wie leid es mir tut, einen dummen Fehler gemacht zu haben.“ „Wie ist es zu deinem Fehler gekommen? Bist du von einem Casanova verführt worden?“ „So würde ich ihn nicht bezeichnen. Du weißt, dass ich gestern wichtige Verhandlungen mit dem Vertreter eines Stahlproduzenten zu führen hatte. Wir versuchen seit Monaten mit dem Konzern einen Vertrag über die Lieferungen der Stahlproduktion an die Kunden abzuschließen. Gestern Abend spät schaffte ich einen Durchbruch mit dem Vertreter des Stahlkonzerns. Wie einigten uns über die Details des Vertrags. Natürlich muss der gesamte Vorstand das Verhandlungsergebnis absegnen, aber uns war klar, dass der Deal nun fast in trockenen Tüchern ist.“

      Deine Beschreibung deines Verhandlungsgeschicks ist sicherlich spannend, aber was hat deine Erzählung mit deinem Fehler zu tun?“ „Dazu komme ich jetzt. Von dem Handlungsergebnis war ich natürlich euphorisiert, und als mein Verhandlungspartner mich fragte, ob wir den Erfolg im Parkhotel mit einem späten Abendessen feiern wollten, sagte ich zu. Bei dem Essen habe ich eindeutig zu viel Rotwein getrunken. Außerdem war in dem Restaurant eine eigenartige romantische Atmosphäre entstanden. Als mein Gesprächspartner vorschlug, uns ein Zimmer im Hotel zu mieten, willigte ich ein und die Dinge nahmen ihren Lauf.“ „Und nun bereust du den Lauf der Dinge?“ „Ja. Als ich heute Morgen in dem Hotelbett aufwachte und den schnarchenden Geschäftsmann neben mir im Bett bemerkte, konnte ich nicht begreifen, welcher Teufel mich geritten hatte.“ „Du hast also bei dem Akt einen Teufelsritt erlebt?“ „Flachsen wir bitte nicht herum, Mir ist wirklich nicht danach zumute. Ich stand auf, duschte mich und zog mich an. Inzwischen war auch der Verhandlungspartner aufgestanden und er sah überhaupt wie ein Casanova aus, mit seinem Bauchansatz und seinen hängenden Schultern. Ich wusste wirklich nicht, warum ich mich darauf eingelassen hatte, mit ihm ins Bett zu gehen. Und das Schlimmste kommt noch. Wir mussten heute Vormittag, an einem Samstagvormittag, zurück zu meiner Firmenzentrale fahren und die Details der Vereinbarung so aufarbeiten, dass die Bürodamen bei uns sowie in seiner Konzernzentrale sie am Montag unterschriftsreif gestalten können. So frühstückten wir im Hotel und fuhren danach zu meinem Firmensitz. Wir waren erst um 13 Uhr fertig. Er lud mich zum Mittagessen ein, aber ich lehnte mit einem Vorwand ab. Danach fuhr ich zu einem kleinen Restaurant, nahm eine kleine Mahlzeit ein und dachte nach. Das ist die ganze Geschichte.“

      „Und was willst du jetzt von mir? Eine Art Absolution?“ „Nein, ich will nur, dass du weißt, dass meine Dummheit nichts mit meiner Liebe zu dir zu tun hat. Über den Mann weiß ich so gut wie nichts. Ich weiß nicht einmal, ob er verheiratet ist oder nicht. Ich hoffe, dass du meine Dummheit begreifen und mir verzeihen kannst.“ „Nun, es liegt mir fern, eine solch erfolgreiche Geschäftsfrau zu kritisieren, aber meinst du nicht, dass dein außerehelicher Geschlechtsakt und die unmittelbar darauffolgende reuevolle Zerknirschung auf eine instabile Persönlichkeitsstruktur schließen lassen könnte?“ „Warum willst du mich jetzt mit deiner sprachlichen Akrobatik veräppeln? Willst du mich mit deiner verbalen Überlegenheit bestrafen?“ „Nein, das will ich nicht. Allerdings bin ich angesichts deines schnellen Stimmungswandels konsterniert. Hast du eine Erklärung dafür?“ „Auch ich bin beunruhigt. Wahrscheinlich hat der Stress der letzten Wochen mich durcheinandergebracht. Ich dachte, ich wäre in meiner Persönlichkeit und vor allem in meiner Beziehung zu dir gefestigt.“ „Wir brauchen keine Krise heraufzubeschwören. Ich bin sehr erleichtert, dass du dein erotisches Abendteuer als Fehler betrachtest und nicht vorhast, unsere Ehe zu beenden. Überlegen wir uns, was wir tun können, um solche Ereignisse in der Zukunft zu vermeiden.“

      Christina starrte eine Weile ins Leere. Dann sagte sie: „Dafür wäre ich dir sehr dankbar. Ich habe den Eindruck, dass ich so sehr von meiner beruflichen Arbeit in Anspruch genommen werde, dass ich allzu leicht das Wesentliche im Leben aus den Augen verliere. Und zum Wesentlichen gehört mein Leben mit dir zusammen.“ „Dann teilen wir eine Überzeugung. Auf dieser Basis können wir daran arbeiten, unser Zusammenleben so zu gestalten, dass wir miteinander mehr Erfüllung und mehr glückliche Augenblicke erleben.“ „Weißt du, was mir jetzt glücklich machen würde? Ich möchte, dass du heute Abend in meinem Bett schläfst und morgen früh uns ein Versöhnungsfrühstück zubereitest. Früher hast du jeden Sonntag uns ein üppiges Frühstück zubereitet. Wie wäre es mit einem Omelett?“ „Bist du so schnell nach deinem erotischen Abstecher bereit, dich von mir nehmen zu lassen?“ „Ich brenne darauf. Jetzt ist mir klarer als je vorher, was ich an deinen erotischen Qualitäten habe.“

      Am nächsten Morgen saßen Christina und Roman am Frühstückstisch. Christina schaute von ihrem Teller auf, lächelte schelmisch und sagte: „Dein Omelett schmeckt vorzüglich, wird jedoch von deinen leidenschaftlichen erotischen Leistungen in der Nacht übertroffen.“ „Ein Hahnrei tut sein Bestes um noch Schlimmeres abzuwenden.“ „Na, na, na. Nicht wieder sardonisch werden. Wir haben gestern Abend nur über mich gesprochen. Wie läuft es in der Schule?“ „Du kennst ja mein Leid. Ich finde es äußerst unbefriedigend, dass unser Schulleiter ein Schmalspurakademiker ist. Mit den Fächern Sport und Erdkunde ist er in der Hierarchie aufgestiegen. Wie lebhaft kann ich mich an seine unsterblichen Worte bei seinem Vorstellungsvortrag erinnern: ‚meines Erachtens nach‘. Und er glaubt pädagogische Ratschläge erteilen zu sollen. Grässlich!“ „Was hat er