Ein Bild vom alten Gringo. Tilman Weysser

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Название Ein Bild vom alten Gringo
Автор произведения Tilman Weysser
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783738032253



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Er streckte unbeholfen die Hand aus. Anna umarmte ihn. Sie duftete wunderbar. Georg fiel nicht ein, wonach. Er stand da wie eine Salzsäule. Noch nie hatte ihn ein Mädchen umarmt. Als sie ihn losließ, und zurück trat, waren dunkle Flecken auf ihrer Bluse. “Pfui, du bist ganz nass.” lachte Anna. “Also, bis bald.” Georg versuchte, sich ihr Gesicht einzuprägen. Er wollte sich am Abend daran erinnern, denn er saß gerne eine halbe Stunde oder manchmal sogar noch länger auf seiner Fensterbank und schaute hinaus in den nächtlichen Himmel. Seine Mutter scheuchte ihn ins Bett, wenn sie ihn dabei erwischte, sein Vater lächelte nur und machte die Tür wieder zu, wenn er ihn da sitzen sah. Heute Abend würde er sich die Sterne und den Mond anschauen und dabei an Anna denken. Seine Blicke streiften ihren Haaransatz, die Stirn, die Brauen und die Wangen, dann wanderten sie hinunter zu ihrem Mund, wieder hinauf, über die Nase bis zu ihren Augen. Er hatte ein paar Sommersprossen auf ihrer Nase bemerkt, auch auf ihrer Stirn gab es ein paar. Dafür musste man schon genau hinschauen. Das wussten bestimmt nicht alle.

      Sie wandte sich ab und ging hinauf zur Promenade, in Richtung der Hauptstraße. Nach ein paar Metern drehte sie sich um und winkte Georg. Er stand noch genau da, wo sie ihn umarmt hatte. Als Anna sich am Ende des Weges, kurz vor der Ecke noch ein zweites Mal umdrehte, stand Georg immer noch dort und sah ihr nach. Das gefiel ihr. Sie winkte nochmal, dann bog sie um die Ecke und ging die Treppe zur Straße hoch.

      Daniel kam am nächsten Tag nicht mit Georg in die Schule, auch in den Tagen darauf blieb er zu Hause. Zuerst hatte sein Vater wieder Probleme, dann seine ganze Familie, wie auch die Familie von Judith.

      Bis Anna und Georg sich wieder sahen, würden fast zehn Jahre vergangen sein.

      *****

      3. Sommer

      Frankfurt, August 1985

      Eva konnte die Dreistigkeit ihrer Freundin kaum fassen. Das kleine Luder hatte sich einfach selbst eingeladen. Dann sollte Magnus auch Maik zum Grillen mitbringen. Julius war nicht gerade begeistert bei der Vorstellung, ihn so bald wiederzusehen.

      “Musst du dieses Brot unbedingt anrufen?”

       “Komm, so schlimm ist er nicht.”

       “Ist er doch.” insistierte Julius. “Wenn du hören könntest, was der als Musik bezeichnet.”

       “Da bist du aber auch ziemlich speziell.”

       “Nicht speziell. Klassisch.”

       “In deinem Alter ist das speziell.”

       “Was bin ich froh, wenn ich nicht mehr der kleine Bruder bin.”

       “Ich muss dich enttäuschen. Das bleibst du für immer.”

       “Ach. Ach.”

       “Da fällt mir ein, habe ich dich eigentlich eingeladen?”

       Julius hob eine Augenbraue.

       “Ich wohne hier. Natürlich hast du mich eingeladen.”

       “Ich …” betonte Eva “… dulde dich hier. Das ist etwas ganz anderes.”

       “Du duldest mich? Dass ich nicht lache, Mädchen.”

       “Nenn’ mich nicht Mädchen. Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst …”

       “Moment, das ist immer noch Wolframs und Barbaras Tisch.”

       “Papperlapapp, keine unqualifizierten Zwischenrufe. Mein Tisch, meine Regeln.” Eva konnte sehr streng klingen, Julius blieb unbeeindruckt.

       “Na, schön, natürlich bist du eingeladen.”

       “Sage ich doch, Schwesterlein.”

       “Aber nur, wenn du diese albernen Verniedlichungsformen unterlässt, verstanden?”

       “Ja ja.” Julius trollte sich ins Wohnzimmer.

       “Und du kümmerst dich um die Kohle und den Grill, ja?”

       “Liebend gern.” brummte er, ließ sich auf die Couch fallen und schob noch ein leises Schwesterlein hinterher. “Das habe ich gehört. Du bist ein Mistkäfer, nur damit du es weißt.”

      Magnus war langsam unterwegs. Seine Vorbilder fuhren tiefliegende, dunkelgrüne Plymouth-Cabrios aus den Siebzigern mit bollerndem Motor an frühen Sommerabenden in Richtung Key West mit einem gleichmäßigen, rhythmischen Rumpeln beim Überfahren der Dehnungsfugen im Highway. Nie würde er sein W114-Coupé mehr als nötig mit Geschwindigkeit belästigen. Er hatte das Auto von seiner Mutter geerbt. Als Kind durfte er auf dem Klappsitz vorne in der Mitte sitzen, direkt neben Rainer, wenn der mit ihnen in den Urlaub nach Italien fuhr. Dann allerdings hatte einmal ein Carabiniere sehr böse geguckt und gesagt, so einen Sitz in der Mitte dürfe es gar nicht geben. Er hatte mit seiner Maschinenpistole so einen Eindruck auf den kleinen Magnus gemacht, dass er doch lieber hinten sitzen wollte für den Rest der Fahrt. Er hatte gar nicht gewusst, dass Rainer Italienisch sprach.

      Maik sah sich regelmäßig Rallyes im Fernsehen an, fuhr einen GTI und ließ kein Ampelrennen aus. Auf Magnus’ Beifahrersitz litt er still vor sich hin, träumte von scharfen Haarnadelkurven und hielt den Kopf aus dem Beifahrerfenster in die warme Luft. Er hatte Lust auf eine Zigarette. Das benommene Gefühl, das der Qualm noch verursachte, war angenehm. Seine Mutter rauchte viel. Ihr Lachen klang fast wie Husten, sie war Anfang vierzig, also uralt. Er hoffte, in seinem richtigen Leben angekommen zu sein, wenn er so alt war wie sie, denn dieses Leben war unmöglich das, was für ihn vorgesehen war. Seit er denken konnte, war er auf der Durchreise. Sein Kumpel neben ihm hatte längst gefunden, was er selbst so vermisste – eine Berufung. Magnus spielte besessen, stundenlang. Man konnte spüren, dass er die Musik liebte. Er wusste, was er wollte, auch wenn er nicht darüber sprach und es wohl selbst noch nicht so ganz kapiert hatte. Die Mädchen hatten es auf jeden Fall kapiert, wenn sie ihm zuhörten. Was er da von einer Banklehre gefaselt hatte – Maik würde diese Scheiße notfalls aus ihm raus prügeln. Bei aller Freundschaft machte Magnus Ruhe ihn manchmal wahnsinnig. Immer ging es ihm gut. Erst einmal hatte Maik erlebt, dass sein Freund sich aufgeregt hatte. Sophie de Chamelon aus der Elf war gestolpert und auf seine Gitarre getreten. Der Hals war abgebrochen. Magnus wollte sie danach nicht mehr sehen. Maik tat sie leid. Die Liaison mit Magnus hatte ihr enormen Sozialstatus verliehen, den sie sonst wegen ihrer enormen Größe nicht hatte. Sie würde bestimmt mal Model werden. Magnus würde es dann sicher bereuen, aber er konnte ohnehin jede haben. Meistens behandelte er seine Mädels fair, fand Maik.

      Er selbst hatte keine richtige Lust auf das Getue, wer mit wem geht. Beziehung war ein komisches Wort, das bei den Streits seiner Eltern oft fiel. Freundschaft mit Anfassen war besser, aber da war nichts in Sicht. Die Lust auf eine Zigarette wurde stärker.

       “Steiler Zahn, deine Cousine. Intelligent, und geil. Das ist selten.” stellte er fest.

       “Ja, sie ist eine ganz Nette. Ich dachte, du stehst mehr auf Silke.”

       “Die machst du mal besser klar. Die wird ja schon feucht, wenn sie dich nur ansieht. Steht vermutlich auf den Typ Rockstar.”

      Magnus war nie ganz sicher, ob Maik nicht neidisch war auf seine vielen Einladungen in die Mädchenzimmer. Nach der Gitarre musste er nicht mehr viel machen. Fast war ihm das peinlich. Er hasste es, wenn sie wegen ihm traurig waren. Mehrfach hatte er sich vorgenommen, in der Schule keusch zu bleiben. Laura hatte tagelang geweint und ihn ein Schwein genannt, dabei hatte er ihr deutlich gesagt, dass er keine Beziehung wollte. Ihre Antwort war, sie sei eine erwachsene Frau und wolle nur spielen. Dann hatte sie ihn mit Mund und Händen so heiß gemacht, dass sein Verstand aussetzte. Eine Woche später hatte er Lust gehabt, mit Wiebke essen zu gehen. Sie war jung, aber vielseitig interessiert. Sie spielte im Schultheater. Das gefiel Magnus, Laura aber nicht. Nach ihrer Szene musste er beim Vertrauenslehrer antanzen und erklären, was er mit ihr angestellt habe.

       Ähnlich spielte es sich mit Verena ab. Immerhin war er seither mit Wiebke befreundet. Sie gingen spazieren, Magnus beriet sie bei Liebe, Sex und Zärtlichkeit und half ihr, einen Partner für den Abschlussball der Tanzschule auszusuchen. Dafür nannte sie ihn Dr. Sommer und hörte sich seine unfertigen Stücke