Siedend heiß. Rudi Kost

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Название Siedend heiß
Автор произведения Rudi Kost
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742786159



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Trotz seines Namens stammte der Neubau aus dem 16. Jahrhundert und hatte einst als Getreidespeicher und Waffenkammer gedient.

      »Ich habe dich gewarnt«, sagte ich.

      »Wovor?«

      »In Hall geht’s steil hinauf.«

      »Ich habe damit kein Problem. Du etwa?«

      Sie schwitzte lange nicht so stark wie ich. Das beunruhigte mich beinahe.

      Wir schauten auf die Stadt hinunter, die sich in das enge Kochertal schmiegte, ein verwinkeltes, vielfältiges, in sich geschlossenes Bild, das von den paar Bausünden der Neuzeit kaum gestört wurde. Faul schlängelte sich der Kocher hindurch.

      »Es ist so friedlich hier«, stellte Karin seufzend fest. Zu der Zeit wussten wir noch nicht, was uns bevorstand.

      Eine träge, eine trügerische Ruhe lag über der Stadt. Es war nicht die Ruhe der Gelassenheit, sondern der Er­mattung. Alles Leben war einen Gang zurückgenommen.

      Anfangs war es nur heiß gewesen und immer heißer geworden. Das ließ sich aushalten. Schwitzte man eben. Nun war die Schwüle hinzugekommen.

      Von Tag zu Tag wurde die Luft feuchter, die Stadt begann allmählich zu kochen, die Menschen wurden zunehmend gereizter. Selbst in die schmalsten Gassen, die sonst nie einen Sonnenstrahl abbekamen und die deshalb immer kühl blieben, schwappte die heiße, feuchte Luft wie unsichtbarer Nebel.

      Jeder wusste, dass sich die Spannung in einem gewaltigen Gewitter entladen musste. Die meisten sehnten es geradezu herbei. Nur die Sieder schickten Stoßgebete zum Himmel, dass er wenigstens bis Montagabend ein Einsehen habe. Bis ihr Fest vorbei war.

      Wir gingen durch die Obere Herrngasse, vorbei an dem Haus, in dem einst Eduard Mörike gewohnt hatte, schraubten uns eine weitere enge Gasse hoch und fanden uns vor dem Portal der Kirche St. Michael wieder. Steil ging es die Stufen der Freitreppe hinab zum Marktplatz. Stufen, die die Welt bedeuteten bei den jährlichen Freilichtspielen.

      Und Karin stellte die unausweichliche Frage, die jedem Besucher in den Sinn kommt: »Wie viele Stufen hat die Treppe eigentlich?«

      »Zähl sie doch!«

      »Wozu soll ich mir diese Mühe machen, wenn ich einen Einheimischen an meiner Seite habe?«

      Ich seufzte. »Ich hatte gehofft, dass mir das erspart bleibt. Das ist nämlich eine alte Streitfrage. Die Angaben schwanken zwischen dreiundfünfzig und vierundfünfzig Stufen.«

      »Kann man in Schwäbisch Hall nicht zählen?«

      »Es kommt darauf an, wie man zählt und wie man die Treppe benennt. Wir stehen hier auf der Plattform von St. Michael. Puristen sagen, dass die nicht mehr zur Treppe gehört und dass demzufolge die Treppe ›vor‹ St. Michael dreiundfünfzig Stufen hat. Zählt man sie mit, sind es vierundfünfzig.«

      »Und darüber macht man sich in dieser Stadt Gedanken?«

      »Tiefschürfende.«

      »Wenn ihr sonst keine Sorgen habt! Also dann hinab, egal, wie viele Stufen es nun sind.«

      Von unten sieht die Treppe harmlos aus, von oben einigermaßen beängstigend. Erst aus dieser Warte merkt man, wie steil sie wirklich ist. Und was die Schauspieler leisten, die auf ihr herumturnen. Mit ihren Stilettos hatte Karin einige Mühe. Jetzt konnte ich mich nicht mehr zurückhalten.

      »Du hast doch hoffentlich auch vernünftige Schuhe dabei?«

      »Du spielst mit deinem Leben! Diskutiere mit einer Frau nie über ihre Schuhe!«

      »Das sollen Schuhe sein?«

      »Lass das mal nicht Jimmy Choo hören!«

      »Wer ist das? Dein Freund?«

      »Du Banause!«

      »Hohe Absätze sind nichts für eine Stadt wie Schwäbisch Hall mit ihrem Kopfsteinpflaster.«

      »Da sieht man mal wieder, dass du nichts von Frauen verstehst.«

      »Ich verstehe nichts von Frauenschuhen.«

      »Das ist dasselbe. Hilf mir lieber!«

      Sie hängte sich bei mir ein, und würdevoll kraxelten wir die Stufen hinab, wie ein Brautpaar, das aus der Kirche kam. Aus einem Topf vor dem Stadtarchiv klaute ich eine Blume und steckte sie Karin ins Haar. Der Brautstrauß sozusagen.

      Vor einem der vielen Cafés, mit denen Schwäbisch Hall gesegnet ist, brütete ein älterer Herrn über seinem Kaffee. Kurz geschorenes graues Haar, ein Vollbart in gleicher Länge und Farbe, große Brille und leicht abstehende Ohren. Vor sich hatte er ein Notizbuch liegen.

      Er belegte ganz allein einen schattigen Tisch. Ich überlegte, ob wir uns dazusetzen sollten. Er war ein kauziger und mit­unter amüsanter Kerl, der viel über die Stadt erzählen konnte. Doch dann sah ich seinen Gesichtsausdruck. Er schaute verträumt in eine andere Welt und war nicht ansprechbar.

      »Unser Lokalpoet«, flüsterte ich Karin zu. »Hoch­geachtet. Macht Lyrik, die keiner versteht. Wahrscheinlich dichtet er gerade über die Sieder.«

      Als wir vorübergingen, hörte ich ihn murmeln: »Despotisch, farblos, schwer reckt sich der Himmel weit / wie wenn ein müßiger König Todesqual verhängt.«

      Wir kamen zum Haalplatz. Normalerweise ist das ein frequentierter Parkplatz, aber an diesem Wochenende hatte man einen Rummel aufgebaut.

      Ich war ganz eifriger Fremdenführer und sagte mit einer allumfassenden Handbewegung: »Die Quelle von Halls Ruhm und Reichtum. Hier wurde die Sole geschöpft und zu Salz gesotten.«

      »Wie muss man sich das vorstellen?«

      »Rings um den Platz standen die Haalhäuser, in denen die Sole so lange erhitzt wurde, bis das Salz ausfiel. Die Häuser waren von riesigen Holzlegen umgeben. Die Jungs haben ganz schön einheizen müssen.«

      »Und wo kommt die Sole her?«

      »Du stehst direkt davor.«

      Das einzige Andenken an die alten Zeiten war der nicht sonderlich schöne achteckige Haalbrunnen, in den man die einstige Quelle gefasst hatte.

      Karin schaute hinein: »Man sieht ja gar nichts.«

      »Zugemauert. Sonst würde es hier bald aussehen wie im Trevi-Brunnen. Jeder wirft seinen Dreck hinein.«

      »Schade. Ich hätte gerne mal richtige Sole gesehen.«

      »Dann musst du drüben ins Solebad gehen, dort kannst du in der original Haller Sole planschen. Soll gut sein für die Abwehrkräfte und das Nervenkostüm«, sagte ich. Und fügte hinzu: »Die haben übrigens auch eine schöne Sauna.«

      »Sauna! Ich schwitze eh schon genug!«

      Ich ließ meinen Blick langsam von ihrem Blondschopf bis zu ihren hübschen Beinen gleiten. So langsam, dass es ihr nicht entgehen konnte. Und grinste.

      »Ich wollte eigentlich nur sehen, wie du dich gehalten hast.«

      »Warum brauchst du dazu eine Sauna?«, erwiderte sie kokett.

      In Karins Augen sah ich ein Glitzern. Kleine Blitze aus einer anderen, einer vergangenen Zeit.

      Mir war plötzlich noch heißer. Und daran war nicht die Sonne schuld. Ich hatte es ja geahnt: Mir stand eine anstrengende Zeit bevor.

      Ich lotste sie schnell ins »Simonetti«, Eiskaffeepause. Netterweise stand gerade ein Pärchen auf, als wir ankamen. Ich legte einen kurzen Sprint hin und überholte mühelos ein Zweizentnerweib, das auf den freien Tisch zuwatschelte.

      Die Dame guckte neidisch auf Karin und beleidigt auf mich. Ich hatte die entsetzliche Vision, dass sie sich aus purer Rachsucht auf meinen Schoß setzen könnte. Doch der Schrecken ging vorbei.

      Erschöpft saß ich da, aber auch zufrieden. Mir war etwas bange gewesen vor dem Wiedersehen nach so langer Zeit. Doch wir gingen so leicht miteinander um, als hätte es nie das schmerzhafte