Das Mädchen Ida. Maya Khoury

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Название Das Mädchen Ida
Автор произведения Maya Khoury
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847629344



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die oberen Räume. Sie eilte nun angesichts der aufgeregten Stimme des Bauern die Treppe hinunter. Fragend sah sie ihn an. Er schien ziemlich durcheinander zu sein. So aufgebracht hatte sie ihn noch nie erlebt.

      „Du passt auf das Mädchen auf, ich habe etwas Dringendes zu erledigen,“ befahl er. Seine Stimme klang barsch aber nicht unfreundlich.

      Nun beobachtete sie mit Verwunderung, wie sich der Bauer am Dielenschrank zu schaffen machte, einen braunen Karton aus der Schublade herauszerrte und sich seine alte Wehrmachtspistole schnappte. Er prüfte die Munition und verstaute die Waffe hastig in seine große Hosentasche, ohne Stine und Ida zu beachten. Dann eilte er wortlos und mit entschlossener Miene nach draußen und schwang sich auf sein verrostetes Fahrrad, um Idas Mutter beizustehen. Ein fremder Mann? In letzter Zeit trieb sich allerhand Gesindel hier in der Gegend herum. Mit dem würde er es schon aufnehmen, denn er war ja bewaffnet. Solche Gedanken rasten durch seinen Kopf und ließen seine Furcht in den Hintergrund treten.

      Stine hatte ihn mit erstaunten Augen nachgesehen. Schließlich legte sie Schrubber und Feudel aus der Hand und kümmerte sich um das völlig aufgelöste Kind. Zuerst trocknete sie seine Tränen mit einem blaukarierten Geschirrtuch. Dann wischte sie das bereits getrocknete Blut ab, das auf dem rechtem Bein wie ein dünner Faden heruntergeronnen war. Ida wurde ruhiger und ließ schließlich alles apathisch mit sich geschehen. Sie saß auf dem Stuhl wie eine hölzerne Statue, denn sie war zu keiner Regung mehr fähig.

      „Willst du mir nicht sagen, was passiert ist?“ fragte Stine mit sanfter Stimme. Doch Ida blieb stumm. Stine war ratlos. Schließlich kochte sie für Ida den letzten Rest Kakao aus gerahmter Milch und guter Butter. Das half immer! So dachte jedenfalls die gute Stine in ihrer einfältigen Art.

      Endlich hatte Bauer Harms das kleine Holzhaus erreicht. Die Tür stand sperrangelweit offen und er näherte sich zögernd, die schussbereite Pistole in der rechten Hand. Eine dunkle Ahnung beschlich ihn plötzlich, aber er zwang sich weiterzugehen und seine aufkeimende Panik zu überwinden.

      An der Türschwelle wich er entsetzt einen Schritt zurück. Erika, seine stille Liebe,

      lag auf dem Holzfußboden, die Arme von sich gestreckt, und starrte mit offenen verwunderten Augen an die Decke. Um ihr herum waren gelbe Rosen verstreut, als wollten sie den Leichnam schmücken. Von dem kleinen Wasserfleck aus der Vase war nur noch ein dunkler Fleck auf dem Holzfußboden zurückgeblieben.

      Bauer Harms setzte sich auf einen der Stühle und war eine Weile fassungslos und zutiefst erschüttert. Wer hatte ihr das angetan? dachte er verwirrt. Doch dann besann er sich, stand auf und blickte in die Schlafkammer nebenan. Den fremden Mann, von dem Ida gesprochen hatte, konnte er jedoch nirgendwo entdecken. Er durchstöberte den kleinsten Winkel, sogar den Schlafzimmerschrank. Seine arme Erika war tot und ihr Mörder scheinbar verschwunden. Bauer Harms kniete sich neben die Tote. Er konnte keine Verletzungen entdecken, auch keine Würgemale. Oder Blut. Wie hatte er sie umgebracht? Er musste wohl die Polizei alarmieren. Unschlüssig erhob er sich und schaute sich um. Düster und unheimlich wirkte das kleine Zimmer. Der Schatten des Todes hatte sich im Haus ausgebreitet. Er konnte nichts mehr für Erika tun. Er hätte sie so gern geheiratet. Eine Hochzeitskutsche wollte er mieten. Und die kleine Ida würde Blumen streuen.

      Als er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, radelte Bauer Harms in den Ort, um von einer Gastwirtschaft aus telefonisch die zuständige Polizeiwache über einen Mord zu informieren.

      Rolf war zornig und empört Er trat in die Pedalen wie ein wutschnaubender Stier und stieß irre Verwünschungen aus. Es war so schön gewesen mit Ida. Sie war so gefügig und hatte sich überhaupt nicht angestellt. Bald hätte er sie soweit gehabt und sie wäre ihm für immer total verfallen.

      Was für ein schönes Leben hätten sie beide gehabt. Ein Leben, wie er es sich immer erträumt hatte. Und so kurz vorm ersehnten Ziel war alles auseinander gebrochen.

      In seinem kranken Hirn tobten immer noch die wildesten Fantasien. Er gab sich eine kurze Weile seinen Träumen hin. Wie schön hatte Ida ausgesehen, als sie nackt auf dem Sofa lag. Die weiße makellose Haut ihres Körpers ging ihm nicht aus dem Sinn und seine Miene spiegelte dieses Bild wider. Doch mit einem Mal hatte die Alte an der Türschwelle gestanden und ihn angeglotzt wie einen Schwerverbrecher. Was hatte er denn getan? Schrie Ida etwa? Nein, er hatte sie doch glücklich gemacht. Ihre Augen hatten doch um seine Liebe gebettelt. Warum musste die dumme Kuh überhaupt früher als erwartet erscheinen? Und dann war die Kleine plötzlich verschwunden. Seine Ida. Durch Erikas Schuld. Warum musste sich das dumme Luder derart unbeherrscht aufführen. Er hasste hysterische Weiber. Die waren so fürchterlich unberechenbar. Es war bereits das zweite Mädchen, das er verlor.

      Ida lebte zwar; aber er würde sie bestimmt nie wieder sehen. Das sagte ihm unweigerlich sein Gefühl. Seine Lotte aber war tot. Er hatte Lotte vor einem Waisenhaus in Wiesbaden getroffen, denn ihre Eltern lebten nicht mehr. Von da ab waren sie unzertrennlich. Er hatte sie verwöhnt. Alle Wünsche hatte er von ihren Augen abgelesen und erfüllt. Sie brauchte sie gar nicht mehr auszusprechen.

      Niemand vermisste sie oder suchte nach ihr. Er hatte ihr falsche Ausweispapiere auf dem Schwarzmarkt besorgt. Sie trug nun seinen Familiennamen und fortan war Rolf ihr Vater. Der Schwarzhandel blühte und er mischte ordentlich mit. Dort konnte man alles kaufen, sogar eine andere Identität.

      Auch Lotte brachte er an einem lauen Juniabend – war das nicht schon vor zwei Jahren? - fast so weit, dass sie ihm hörig war, wie ihm seine krankhafte wilde Fantasie vorgegaukelt hatte. Seine anschmiegsame Lotte. Seine geliebte Lotte. Rolf hatte ein kleines Gartenhaus in einer Gartenkolonie vor den Toren Frankfurts gepachtet. Sie genossen alle Annehmlichkeiten in vollen Zügen. Niemand störte ihre Zweisamkeit, denn so kurz nach dem Krieg, im Jahre 1950, war jeder mit seinen eigenen Sorgen und Kümmernissen vollauf beschäftigt. Und die Bürokratie im durchgeschüttelten Nachkriegsdeutschland funktionierte zwar einigermaßen, wies jedoch noch ziemliche Lücken auf.

      Als Rolf meinte, nun sei die Zeit reif, seine Lotte in die Liebe einzuweihen, hatte sie laut zu schreien begonnen. Sie war vor seiner schamlosen Nacktheit erschrocken zurückgewichen. Dabei war er doch so zärtlich und liebevoll vorgegangen. Mit aller Behutsamkeit hatte er sie lange und ausgiebig gestreichelt, war dabei aber so erregt, dass er kaum seine ungezügelte Lust bändigen konnte.

      Rolf verstand die Welt nicht mehr. Seine fügsame Lotte gehorchte ihm nicht mehr und wollte sogar davon laufen, als er sie lüstern packte und in sie eindringen wollte. War es da verwunderlich, dass er, Rolf, schnell handeln musste? Obwohl er doch alles für sie getan und ihr ein schönes Leben geboten hatte? Ein geübter Handgriff und sie lag tot vor ihm auf der gepolsterten Bank in ihrem schönen Gartenhaus. Wehmütig streichelte er sie ein letztes Mal und berauschte sich an dem Anblick ihres nackten unschuldigen Körpers, bis ihn die Erregung wie eine Welle überrollte. Er spielte mit ihren langen blonden Haaren und legte sie dekorativ über ihren Oberkörper. Schließlich konnte er nicht mehr an sich halten und vollzog an der stillen Lotte den Liebesakt. Ihm schien, als ob sie mit geschlossenen Augen lächelte. Dann packte er die wichtigsten Sachen zusammen und ergriff eilig die Flucht, um erst einmal für einige Zeit unterzutauchen.

      Später zog es ihn in den stürmischen Norden. Er wollte schon immer einmal die Nordsee kennen lernen. Dort gab er sich überall als „Russlandheimkehrer“ aus. Bei solchen Geschichten packte die Leute das Mitleid. Der arme Mann, was hatte der alles erdulden müssen. Das schreckliche Russland war doch gleichzusetzen mit Eiseskälte, Hunger und Heimweh.

      Und dann war ihm die kleine Ida über den Weg gelaufen. Die Ähnlichkeit mit Lotte war verblüffend. Die beiden hätten Schwestern sein können. Und plötzlich tauchte diese dumme Gans, die Mutter, auf und nahm sie ihm wieder weg. Und was noch schlimmer war: Sie hatte ihm sogar mit einer Anzeige gedroht. Rolf musste bei diesem Gedanken leise lachen. Wer hatte sich denn immer um Ida gekümmert? Sie doch sicher nicht. Ihr war doch die Arbeit über alles gegangen. Zeit für ihre Tochter konnte die doch nie erübrigen. Er, Rolf, war Idas Freund und Beschützer gewesen. Wieder musste er grinsen. Wie die sich auf ihn gestürzt hatte. Doch da war sie an den Falschen geraten.

      Denn sie konnte natürlich nicht ahnen, dass Rolf zwölf Jahre lang ein brillanter Kämpfer