Название | Briefe an die Geliebte |
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Автор произведения | Gunter Preuß |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738009309 |
Gunter Preuß
Briefe an die Geliebte
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Inhaltsverzeichnis
NANGA PARBAT
Nackter Berg, nordwestlicher Eckpfeiler des Himalaja, 8125 Meter, steil zum Industal abstürzend und stark vergletschert
Geliebte,
inzwischen ist so viel und auch so wenig passiert. Vergessen habe ich Dich nie; aber es gab Zeiten, da war Dein Bild verblasst in all den Gesichtern. Heute sehe ich Dich, wie damals, klar und lebendig vor mir. Erinnerst Du Dich? Der Krieg war erst ein paar Jahre vorbei, die Städte sahen wüst aus, wir alle waren arm und hungrig, aber es war die Zeit der Hoffnung.
In den Sommerferien hatten meine Eltern mich zu Verwandten geschickt, die im Auendorf D. eine Fleischerei besaßen. Ich war zehn Jahre alt und branddürr, als ich in diesem Sommer nach D. kam. Eine Fleischerei versprach das Schlaraffenland. Am Abend war ich in dem kleinen Gehöft, das sich in der Dorfmitte befindet die Form eines Hufeisens hat und Laden, Wohnräume, Stall, Schuppen und das Schlachthaus einschließt, angekommen. Onkel und Tante, mein Cousin und meine Cousine saßen im an den Laden grenzenden Wohnzimmer beim Abendbrot. Die Gesichter der Erwachsenen waren müde, ihre Ellbogen stützten auf der Tischplatte die schweren Körper ab, eine Uhr tickte hart, auf dem Tisch stand ein Kuchenteller voller Wurstzipfel, daneben lagen Scheiben vollkornigen Brotes, es roch nach Geräuchertem. Das Fenster zum Hof stand offen, durch die Ritzen der blechernen Räucherkammer drangen Qualmwolken, die zu dem hochwüchsigen Birnbaum schwebten und auf seinen Ästen saßen wie große schwerelose Vögel. Es war nichts zu hören außer Sperlingsgezeter und dem Surren der in der Gardine verfangenen Fliegen. Man ließ mir Zeit zum Essen, und es kam ein Lächeln in ihre Gesichter, als mein Hunger sich stärker zeigte als meine Scheu und ich immer wieder nach Wurst und Brot griff, den Mund noch voll, die Bissen hinunterwürgend wie ein schlingender Hund. Als ich dann wie benommen war vom Gefühl der Sattheit, das ich nicht kannte, beantwortete ich die Fragen nach den Eltern, dem Leben in der Großstadt und nach dem Vorangehen. Dann wurden mein Cousin, der gleichaltrig war, und ich schlafen geschickt. Das Bett, das wir uns teilten, füllte fast die Dachkammer aus. Die Tür zur Nebenkammer, in der die Großmutter und die Cousine in zusammengerückten Betten schliefen, war ausgehängt. Die Erwachsenen gingen mit Einbruch der Dunkelheit zu Bett; dann war nur noch das Rascheln der Mäuse zu hören, und viertelstündlich setzte für fünf Minuten das donnernde Rotieren der Kühlmaschine ein, die oberhalb der Stiege aufgestellt war. Mein Cousin und ich schwatzten, bis der Schlaf uns trennte, über die uns bevorstehenden Wochen, die wir recht abenteuerlich verbringen wollten.
In den nächsten Tagen entdeckte ich das Dorf, das eine so ganz andere Welt war als die Stadt. Hier gab es keine bis in die Keller aufgerissenen Häuser, aus denen es übel roch, keine Bettler und kaum einen Krüppel. Die Landstraße verlief schnurgerade, Kopfsteinpflaster, etwa zweitausend Schritt lang an zwei ehemaligen Großbauernhöfen, katzbuckligen Häusern, der Fleischerei, der Drogerie, dem Friedhof mit der alles überragenden Kirche und der alten Kutscherkneipe vorbei, aus Feldern kommend und in Felder führend. Von der Straße winkelten sich schmale Wege ab, an deren Rändern die Häuser ärmlicher wurden, bis hin zur nicht mehr benutzten Wassermühle, dem schnellfließenden Mühlgraben und den sich anschließenden Wiesen. Über den Dächern gab es einen weiten Himmel, die Sonne war mir näher, sie wärmte mich besser, und wo ich hinkam, erschien es mir heller. Am meisten staunte ich über die Menschen. Sie kannten einander, sprachen sich mit den Vornamen an und wussten, was in den Familien passierte. Ihre Bewegungen und ihre Sprechweise waren langsamer, aber kraftvoller als die der Stadtmenschen. Nach ein paar Tagen schon fühlte ich mich ihnen zugehörig, und auch sie zeigten mir, dass sie den Städter vergessen hatten.
Ja, das Leben wurde mir zum Abenteuer. Ich war Menschen und Dingen nahe wie nie zuvor. Manchmal verhielt ich mitten in einer Bewegung und staunte: Da war ich mir selbst begegnet, einem schmalen dunkelhaarigen Jungen mit von der Sonne verbranntem Gesicht und Schultern, spröden Lippen und begierig blickenden Augen, barfuß, auf dem Sprung, die Hände zum Zugreifen bereit. Mein Cousin und ich waren ständig zusammen. Jeden Tag wurde uns Arbeit aufgetragen, die uns Freude bereitete, solange wir sie nicht zu oft wiederholten. Wir fuhren mit einem Handwagen, vor den wir den großen schwarzen Ziegenbock spannten, Asche auf die Halde, kescherten aus dem Dorfteich Eimer voll Meerlinsen für die Enten, trieben mit Räucherstöcken die Schweine ins Schlachthaus, erledigten Einkäufe und holten Gras von den Wiesen. Hatten wir Freizeit, meist nach dem Mittagessen, bei dem wir aus Schüsseln Graupensuppe mit Fleisch- und Wurststücken voller Heißhunger löffelten, bis die Bäuche prall schwollen, liefen wir in den Auwald und badeten in einem der Tonlöcher. Erfrischt rannten wir auf die sonnenheißen Felder, gruben nach Mäusen und Hamstern, sammelten in Flaschen Kartoffelkäfer, die wir auf der Bürgermeisterei abgaben für ein paar Pfennige, mit denen wir uns Eis kauften und Pfefferminzstangen. Abends saßen wir im Hof auf den warmen Steinstufen, die ins Wohnhaus führten, und ließen bunte Glasmurmeln von einer Hand in die andere rollen. Unsere Müdigkeit war augenblicklich verschwunden, als eine Handglocke ertönte und darauf eine heisere Stimme rief: "Puparsch! Puparsch!" Wir stellten uns auf dem kleinen Platz in der Dorfmitte in die freudig erregte Menschenschlange und ließen uns die Eimer bis zum Rand mit Braunbier füllen. Wieder im Gehöft, versammelte sich die Familie auf dem Hof, Fröhlichkeit kam auf, es wurden Flaschen gespült und das Braunbier mit einer Kelle über einem Trichter hineingegossen. Die Flaschen wurden in den Keller getragen, wo sie mindestens eine Woche unangerührt lagern sollten. Aber schon am nächsten Tag hatten mein Cousin und ich bei der Großmutter durchgesetzt, dass eine Flasche geöffnet werden durfte. Wir waren von den Erwachsenen lachend vor der Wirkung des noch zu frischen Bieres gewarnt worden. Doch die dunkelbraune Flüssigkeit schmeckte süß, und wenn man den porzellanenen Verschluss gegen den Flaschenhals schlug, quoll weißer, nach Hefe und Zucker duftender Schaum über, den wir mit geschlossenen Augen schlürften. Bald darauf krümmten wir uns bleich und stöhnend auf den Holzklos. Am nächsten Morgen war uns besser, und schon am Mittag bettelten wir die Großmutter um Erlaubnis, eine zweite Flasche öffnen zu dürfen.
Für die Dörfler war der Höhepunkt des Sommers ein Gartenfest, das sie Unser roter Lampion nannten. Schon Tage zuvor begannen Erwachsene und Kinder mit der Vorbereitung. Der Gartenverein befand sich dreihundert Schritt vor dem Ortseingang. Zwei Jahre nach dem Krieg war von dem ehemaligen Großbauernbesitz jedem Dörfler eine gleich große Parzelle zugesprochen worden, hundert Quadratmeter, in denen sogar um die Stämme der Obstbäume Kohlrabi und Weißkraut gepflanzt waren. An einem Sonnabendnachmittag war es endlich soweit, die Dörfler zogen in Familie, in ihren besten Sachen und gemessenen Schrittes zum Dorf hinaus. Der Tag war heiß und schwül, vom Gartenverein waren die Klänge einer Blaskapelle zu hören und manchmal ein Jauchzer, als probiere jemand aus, was in ihm steckt. Ich ging mit der Fleischerfamilie neben meinem Cousin, wir glänzten wie polierte Äpfel, der Onkel bestimmte den Schritt, grüßte nach links und rechts, tauschte mit Nachbarn Worte über das Wetter, die Ernte und die Weltlage. Alles, Menschen, Straßensteine, Häuserwände, Pappeln, Getreide und Lerchen, war in Festtagsstimmung. Kraft strömte von einem zum anderen, verband Menschen