Burnout und dann: Kloster. Andreas Knierim

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Название Burnout und dann: Kloster
Автор произведения Andreas Knierim
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623885



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sie eine Sonderfall der Sonderfälle, denn Jeremias lag selten schief: Sein 10-Sekunden-Blick war präziser als jeder Ganzkörper-Scanner, denn er berücksichtigte auch den wahren Kern des Menschen. In seiner neuronalen Datenbank gab es zu 99 % einen Treffer, der ihm alles über den Menschen verriet. Doro zählte leider zu dem kümmerlichen ein Prozent und lieferte kein Passepartout ihres Innersten.

      Jeremias war geprägt durch sein Staunen über die Welt Das hatte ihn schon als Kind begleitet und war bis heute geblieben: Er schaute zu, wie das Leben in seiner Zartheit verstrich und sich zu immer neueren Höhen empor schwang. Er musste genau, dass Sekunden über Aufstieg und Fall in diesem Leben entschieden. Ein intuitive Bewegung, das Hervorschnellen eines Messer und der Treffer ins Herz, hatten das Leben einer Frau beendet und seines fast dazu. Jeremias hatte Buße getan für diese Millisekunden eines vollendeten Fehlers, seine alte Identität begraben und in eine neue geflüchtet.

       Jeremiasdoro

      Es gab keine Zufälle und deshalb wusste Doro schon lange, wen sie in dieser Nacht vor sich hatte – ihr Handy hatte es ihr verraten. In einem unbeobachteten Moment hatte sie Jeremias im Coffeeshop fotografiert, das Bild zum Server nach Cupertino-Campus geschickt. Die Gesichtserkennung hatte prompt reagiert, fleißig Daten verknüpft und ihr das Profil aufs iPhone zurückgemailt: Jeremias de Montis, 36 Jahre alt, wohnhaft in Frankfurt/M., Link zum Peace & Freedom-Shop und zu Facebook mit aberwitzigen 1.257 »Freunden.«

      Die Datenbankabfrage zeigte seinen beruflichen Lebensweg von der Schule über vierzehn Arbeitgeber bis zur heutigen Selbstständigkeit. Eine lückenlose Aufzählung von Lebensstationen, die Doro aufhorchen ließ. In ihrem Leben hatte sie tausende von Lebensläufen gelesen und dieser hier war ganz klar frisiert. Und dieser Friseur war ein Profi gewesen, die zusammengewürfelten Unternehmen waren regelrecht komponiert und tänzelnden um ihren Helden der Virtualität herum.

      Nur, das Faszinierende war, dass Doro diesen Peace & Freedom-Jeremias in dieser Nacht nicht wieder erkannte oder, besser gesagt, auch nicht wieder erkennen wollte. Zu sehr hatten die Zweifel an den Menschen ihre Beziehungen zerstört und schließlich zu totalen Einsamkeit inmitten einer riesigen Ansammlung von Humankapital geführt. Natürlich hatte sie, als Meisterin des Futureprofilings, die Prognose von Jeremias errechnet. Die Chancen seines Shops waren im Rating bei starken 5,8, sein persönlicher Geduldskoeffizient bei kümmerlichen 3,1. In jedem Assessment hätte Doro diesen Jeremias de Montis hinter dem einseitig durchlässigen Spiegel eiskalt aussortiert.

      Es gab nur eine Möglichkeit, nur ein Wagnis, was sie schließlich eingehen musste, um ihrem nagenden Alleinsein und dem wer-passt-zu-mir-Elite-Partner-Wahn zu entkommen: Jeremias vertrauen, ihre Zweifel über seine Vergangenheit beiseite schieben und ihn so lieben, wie er war. Auch wenn er wahrscheinlich ein Geheimnis hatte, das ihr schaden konnte, das sagte ihr der 8. Sinn des Chief Human Resources Officer. Sie hatte mit allem abgeschlossen, warum nicht gleich auch mit ihrem Leben. Das Risiko war gering, zurück wollte sie sowieso nicht mehr, nie mehr.

      Und sie, die sich früher noch nicht einmal getraut hatte, das Synchronisieren ihres iPods zu unterbrechen, sie zog jetzt einfach den Stecker. »Let`s go, lass dich fallen, meine Freundin« war der einzige Gedanke, der noch zählte. Und sie war sich ganz sicher, dass sich die grenzenlose Schönheit in ihrem ganzen Körper ausbreiten wollte.

       Dorojeremias

      Sie gingen Hand in Hand die Straße entlang, Adam Smiths invisible hand führte sie schließlich ins Bankenviertel und zum Peace & Freedom, der schon von weitem zu leuchten schien. Sie tauschten die Rollen, er setzte sich auf ihren Platz und sie ging wie selbstverständlich hinter den Tresen, band sich eine Schürze um und setzte die Cappuccino-Maschine in Gang. Er beobachte sie dabei, verglich ihre Bewegungen mit den seinen, belichtete das Bild doppelt und sah in seinem Film nur noch die Doro-Jeremias ein Profi im Licht der Neonleuchten.

      Dorothea hatte viele Jahre im Laden genau aufgepasst und diesen Augenblick exakt vorbereitet. Nur ihm wollte sie jetzt gefallen, mit ihm und seinen Bewegungen verschmelzen. Es gelang ihr auf so eine einmalige und schöne Art, dass Jeremias sofort die Tränen in die Augen schossen. Er zwang sich, seine Tränen laufen zu lassen, den Kloß im Hals wegzuatmen und die Reinheit des Momentes fast schwerelos zu genießen. Er steckte in einem Raumanzug und hörte nur seinen gleichmäßigen Atmen – aus, ein, aus, sein. Nichts gab es mehr zu verpassen, keine verpassten Gelegenheiten mehr zu bedauern. Jetzt war alles eins, herrlich und klar im Jetzt des Unmöglichen.

      Und da war natürlich noch das viele Geld zum Verbrennen, big money to burn. Dunkel erinnerte Doro sich an einen Schokoladeneinkauf am Züricher Flughafen. Die Tafel sah aus wie ein Bündel 1000-Franken-Scheine (mit Goldprägung!), sie hatte sie gleich in der Flugzeugtoilette aufgegessen. »Ach, wie herrlich, wenn der alte Greenpeace-Spruch keine Gültigkeit mehr hätte«, dachte Doro, » und man herausfinden würde, dass man Geld doch essen kann!« Vom Volumen her ein lockeres 40-Gänge-Menü wie bei elBulli oben in den katalanischen Bergen, molekular aufbereitet, mit Liebe von den besten Kellern der Welt serviert und ratzfatz aufgegessen. Sie sollte sich ans Telefon hängen und ihren alten Kumpel Ferran anrufen, der sicher gerade wieder über neuen Kreationen brütete.

      Doro hatte schon seine kindliche Freude vor Augen, wenn er die Kosten von Schweizer Franken in Euros, besser noch in Peseten, am Holztisch in seiner Küche umrechnete. Und dann würde er lachen und lachen und lachen.

       Epilog

      Die weggeworfene Chipkarte fand übrigens ein Hund namens Perle. Sein Frauchen musste nur eins und eins zusammenzählen, wo dieses Ding passte. Sie bediente sich noch in der Nacht großzügig: zwei Beamer, eine Jura Impressa und ein Paar ulkige Pantoffeln mit Smiley-Gesichtern aus der IT. Der Security-Mann hatte - filmreif - gerade nicht auf seinen Bildschirm geschaut, als sie die Chipkarte gescannt hatte. Ein Fehler, der sich nur durch Löschen der Festplattenaufzeichnungen aus der Welt schaffen ließ.

      »Echt, Chef, in diesem Moment gab es einen Harddiskcrash, Zufälle gibt es, die gibt es gar nicht.« Sprach's und ward gefeuert.

       (2010)

       Burnout und dann: Kloster

       Erster Tag

      »Guten Tag Herr Kelster. Willkommen im Meditationshaus. Sie haben Zimmer 21 im ersten Stock. Wir wünschen Ihnen einen guten Weg in dieser Woche.«

      Einen guten Weg, wie das wohl gemeint ist. Mein Zimmer 21 ist karg, ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Waschbecken. Klo und Dusche weiter hinten im Gang. Ich werde ruhig, ganz ruhig.

      Jetzt geht es in die Stille. Es war einfach zu viel in den letzten Monaten. Dieser Druck, alles fertig machen zu müssen. Die Nächte durchgeackert. Der Arzt sagt: »Sie sind nur noch Sekunden vor dem Burnout. Jetzt müssen Sie pausieren.« Ja, und das tue ich jetzt, ich mache eine lange Pause von der Wirklichkeit. Ich bleibe eine Woche, mein Gott, eine ganze Woche. Ich bin so froh und glücklich. Abends noch eine Meditation und dann bin ich ganz bei mir. Ich schlafe schnell ein, schlafe wie ein Kind und gebe mich ganz hin.

       Zweiter Tag

      Ich bin ganz in der Stille, ich schweige, ich denke an Nichts. Das Frühstück ist herrlich, es schmeckt alles wieder. Dieser Honig ist so lecker.

      Mein Gott, was könnte man daraus alles machen. Das Glas ganz schlicht, alles hell und klar, ein einfaches Etikett. Die Anzeige mit einem der Klosterbrüder, wir drehen den TV-Spot gleich hier im Klostergarten. Einstellung eins: Nichts, keiner im Garten. Einstellung zwei: Es nähern sich die Bienen. Einstellung drei: der fließende Honig. Dazu die Märchenonkelstimme: »Ja, es gibt ihn noch, den Klosterhonig. Und er ist immer noch so wohltuend wie vor 300 Jahren.«

       Dritter Tag

      Ich denke an Nichts. Ich bin ganz bei mir. Vergesse all meine Gedanken. Ich bin so ruhig. Ich gehe durch den Wald. Eine Gehmeditation, ich bin ergeben in meiner Übung.

      Sehr schön, wie hier die Wanderwege nummeriert sind. Hm, was fehlt, sind eigentlich nur noch die Wanderkarten, selektiert nach Zielgruppen: der Gelegenheitswanderer, der konservative Marschierer,