Название | Die Leiden des Schwarzen Peters |
---|---|
Автор произведения | Till Angersbrecht |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738088946 |
Aber genau deswegen fragen sich ja alle: Warum in aller Welt begibt sich der Herr des Schlosses in Niederungen von der Art des Odysseus mit seiner pier- und zotengeschwängerten Luft? Im Grunde kommt er doch aus einer noch viel weiteren Ferne, als man das von mir sagen kann, dem schokoladenhäutigen Fremden. Mit seinen beiden rosenwangigen Töchtern ist er eine Fata Morgana, ein Trugbild, das sich dennoch bemüht, in diesen Niederungen Realität vorzutäuschen – ich finde das unverzeihlich.
Nicht nur, dass ihn hier unten das gewohnte Kleidungsstück nicht umkleidet, ich meine, der rote tunikaähnliche Mantel aus Samt, den er unter seinen Ahnen oben im Schloss zu tragen pflegt, ein prächtiger Mantel, der natürlich den Neid der kleinen Leute erweckt, selbst den des Herrn Bürgermeisters. Ein Schmierenkomödiant, hörte ich Bremme einmal bemerken, aber warum er das sagt, ist mir schon klar. Es ist dem Bürgermeister nur zu deutlich bewusst, dass der Baron einen so ungeschliffenen Menschen wie ihn niemals in den Rittersaal einladen würde.
Also, dass Herr von Kneek sich in eine Gesellschaft, wo man sich mit Pier, der flachsblonden Hure vergnügt, natürlich nicht in derselben Kleidung begibt, wie wenn er sich inmitten seiner erlauchten Vorfahren befindet, das kann ich durchaus verstehen. Schlimmer erscheint mir, dass er im Odysseus im offenen Hemd auftritt – niemals hätte er das im Angesicht seiner Ahnen gewagt –, diese Anbiederung an die Sitten des einfachen Volks ist in meinen Augen ein echter Faux Pas, lässt dieses nachlässige Auftreten den Herrn Baron doch zu einem gewöhnlichen Menschen schrumpfen - und das ist eine Herabwürdigung, an der auch der Umstand nichts zu ändern vermag, dass er über dem Hemd eine Anzugsjacke von sonnengelber Anmutung trägt. Die Farbe ist zweifellos originell, doch diese Besonderheit genügt nicht, um den Baron über die Durchschnittsmenschen des Odysseus hinauszuheben. Man braucht ja nur mitzuerleben, wie die Leute ihn angegafft haben, als er vor einer Woche zum ersten Mal in solcher Aufmachung in ihrer Mitte erschien! Im Schloss schlägt jeder die Augen nieder, sobald der Herr Baron sichtbar wird, hier im Odysseus wird er offen angestarrt, so wie man im Zoo ein seltenes Tier, sagen wir einen Panda oder einen Soldaten-Ara, bestaunt. Ein zufälliger Besucher hätte ihn aufgrund seiner grellen Jacke ja auch mit einem Kabarettclown verwechseln können oder mit einem nach Publikumsgunst gierenden Literaten!
Ach, beim Anblick der drei adligen Gäste überfällt mich noch stärkerer Schmerz. Mit innerem Beben muss ich mir eingestehen, dass die bloße Anwesenheit im Odysseus auch an Phebe und Luna nicht spurlos vorübergeht. Kaum haben sie sich auf einen der gusseisernen, grünen Stühle an einem der rohen Gartentische gesetzt, als sie sich sogar in meinen, sie so sehr verehrenden Augen verkleinern, ich meine, dass sie etwas von der Aura ihrer elfenhaften Unnahbarkeit, ihrer apfelhäutigen Unwirklichkeit, ihrem ätherischen Schmetterlingsdasein verlieren.
Wie hätte sich das auch vermeiden lassen, wenn sich so grobe Leute wie Bremme und der Chemiker Saase keine drei Meter entfernt von ihnen befinden, und Tautzig, der Mann mit der ewigen Zigarre im Maul, ganz in der Nähe blaue Ringel in die Runde bläst, der Zigarrenfabriksdirektor, der hier so gern und so oft den lauten Ton angibt? Jeder Mensch strahlt doch etwas von seinem Wesen auf die Umgebung und seine Mitmenschen aus, entweder sind es Farbe und Fröhlichkeit oder Tristesse, Anmaßung und mürrisches Wesen. Zwar ist beileibe nicht zu erkennen, dass der innen und außen völlig vertrocknete Saase zu einem helleren Menschen wird, wenn sich der Baron mit den zwei Himmelstöchtern am Nachbartisch niederlässt, aber auf dem Baron setzt sich sofort etwas von dem schmutzigen Grau und dem Schatten ab, von denen Tautzig und Saase ständig umgeben sind. Ich kann nicht leugnen, dass es dem Herrn von Kneek dabei ganz so ergeht wie einem Schauspieler, den man zuvor in seiner purpurnen Tunika auf der Bühne bewundern konnte, während man ihn anschließend mit nackter Brust und abgeschminktem Gesicht hinter den Kulissen gewahrt, erstaunt und enttäuscht zugleich, dass beide Gestalten zu ein und derselben Person gehören.
Also, es tut mir von Herzen weh, dem Herrn von Kneek im Odysseus begegnen zu müssen. Wie schlecht muss es um den Baron bestellt sein, so zuckt es mir durch den Kopf, wenn er es nötig hat, sich unter das Volk zu mischen, und noch dazu in einer derartigen Aufmachung!
Wie der Fortschritt der Tradition an den Kragen fährt
Meine trüben Gedanken – im Nachhinein möchte ich sogar von einer Vorahnung sprechen - werden noch dadurch verstärkt, dass gerade in diesem Augenblick ein düsterer Schatten auf Bäume, Gäste und Laube fällt. Die Gläser auf den Tischen, einschließlich des großen Humpens, den der adlige Gast geordert hat, saugen Dunkel in sich hinein, verlieren ihr goldenes Funkeln ganz ebenso wie die beiden schlanken Apfelsaftgläser, die ich kurz zuvor vor Luna und Phebe abgestellt hatte. Eine dicke, schwarz umrandete Wolke hat sich dreist vor die ohnehin schon dem Untergang zugeneigte Julisonne geschoben. Die ganze den Eingang zur nahezu leeren Pierhalle überwölbende Rosenlaube mit ihrem eben noch rot glühenden Blütenglanz versinkt in einem freudlosen Grau, viel schlimmer aber kündigt sich der weitere Verlauf der plötzlichen Verdüsterung an, weil der dunkle Bauch einer gerade über den Kastanien hängenden Wolke, schwanger mit unzeitigem Regen, große platschende Tropfen mit erstaunlicher Schnelligkeit auf uns herabprasseln lässt. So überraschend erfolgt die Attacke, dass den Skat spielenden Herren am größeren Tisch kaum die nötige Zeit übrig bleibt, um die Karten zusammenzuraffen, nach den Humpen zu greifen und in wilder Hast durch den auf einmal unheimlich düsteren Laubengang ins Innere der Pierhalle zu entfliehen. Ich selbst weiß natürlich, was in solchen Momenten zu tun ist: Zuerst greife ich nach dem Humpen, den ich kurz zuvor dem Baron serviert hatte, dann sammle ich die beiden Apfelsaftgläser vor Phebe und Luna ein und bahne den drei von Kneeks wie ein dienstfertiger Herold den Weg in die schHalle. ﷽﷽en Gläser mit Apfelsaft zur Hand und bahnte den drei von Kneeks wie ein dienstfertiger Herold den Weg in die schch nahützende Halle, während in unserem Rücken der schwere Juniregen schon laut trommelnd auf die Steinplatten des Bodens schlägt und der Wind die Kronen der Kastanien peitscht – mit so großem Ungestüm, dass er sich dabei in plötzlicher Wut zu einem unfreundlichen Heulen versteigt. In der Halle lässt meine Chefin Hilda freudloses Neonlicht aufflammen; die großen Piergläser glimmen im Widerschein, aber er ist nicht golden wie in der Sonne, sondern nur kalt, matt und kraftlos.
Der