Ein stilles Dorf in Kent. Gerda M. Neumann

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Название Ein stilles Dorf in Kent
Автор произведения Gerda M. Neumann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783746727776



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setzte sie auf den Boden und öffnete die Tür: »Kommt, wir gehen ein wenig durch den Garten.«

       Der Garten war von hohen Hecken umschlossen. Dem Wintergarten gegenüber standen Haselnusssträucher im ersten Frühlingsgrün, zur rechten, auf der Seite der Bibliothek, wuchs eine dichte Taxushecke, davor lagen einige Gemüsebeete, und zur linken, nach Süden, schloss eine Lorbeerhecke das Grundstück ab. Es war groß genug, dass man sich bedenkenlos draußen unterhalten konnte. Marmalade strich um sie herum und entschied sich dann, Leonard genauer kennenzulernen. »Das letzte Jahr war ein schlechtes Haselnussjahr, in diesem Frühjahr sehen die Sträucher vielversprechender aus.« Raymund schlenderte auf die Hecke zu.

       »Klingt wie die Gesprächseröffnung eines MI5-Agenten.« Keine Reaktion.

       »Schau, die Wolfsmilch blüht, die Leberblümchen nicht mehr, aber bald werden die Akelei wieder Blau vor die Hecken bringen. Da drüben übrigens«, er deutete nach links an die Füße eines besonders mächtigen Strauches, »werden etwas später wilde Akelei blühen, sie sind weinrot und klein, eine bescheidene, sehr schöne Waldblume.« Olivia liebte Gärten. So hatte sie kein Problem mit dem Thema, das ihr Onkel beharrlich verfolgte. Gleichzeitig wuchs die Neugier auf das, was er nicht erzählte, mit mindestens gleicher Beharrlichkeit.

       Die Rettung bog im schwarzen Anzug um die Ecke des Wintergartens. Der Anzug gehörte zu einem korpulenten, mäßig großen Mann. Dessen kahlen Schädel umstand ein dichter, sorgfältig gestutzter Kranz grauer Haare. Auf der Nase saß eine unauffällige Hornbrille. Den Oberkörper leicht zur Seite geneigt eilte der Pfarrer die Gartenpfade entlang, die Rechte zum Gruß ausgestreckt. »Miss Lawrence, wie schön, Sie zu sehen. Es freut mich wirklich sehr.« Höflich reichte sie ihm ihrerseits die Hand. Sie hatte Pfarrer Mottram vor drei oder vier Jahren kennengelernt, als sie Tante und Onkel in ihrem neuen Haus besucht und sich im Sonntagsgottesdienst wiedergefunden hatte. Raymund spielte die Orgel. In Oxford hatte er es zwei Jahrzehnte hindurch jeden Abend unter der Woche getan, in der Kapelle seines Colleges. Hier in Howlethurst in Kent, seinem neuen Wohnort, spielte er nun bei allen größeren Gottesdiensten. Auf diesem Wege war er zu einem bekannten und anerkannten Gemeindemitglied geworden, wiewohl er gerade mal vier Jahre in Howlethurst lebte, davon die Hälfte der Zeit als Witwer. Olivia hatte den Pfarrer allerdings wesentlich zurückhaltender in Erinnerung. Im Moment wirkte er ein wenig seltsam, mit einer unterdrückten Unruhe, die anscheinend mit ihr zu tun hatte. Seine eindringliche Musterung beendete sie, indem sie ihm Leonard vorstellte.

       »Mr Kilpatrick«, seine Wendung zu dem Mann etwas abseits auf dem Rasen verlief so heftig, dass er dabei Marmalade mit dem Fuß anstieß. Gekränkt marschierte sie davon; auch sie schien ihren alten Freund heute verändert zu finden. »Es freut mich natürlich außerordentlich, dass Sie Ihre Frau begleitet haben. Jeder Denker mehr erhöht die Möglichkeit, unser Problem zu erhellen. Gerade die Unvoreingenommenheit eines Außenstehenden scheint mir Hilfe zu versprechen. Raymund und ich sind ratlos, müssen Sie wissen. Vollständig ratlos. Verstehen Sie?«

       »Um ehrlich zu sein – nein. Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, bekannte Leonard.

       Der Pfarrer vollführte eine weitere heftige Bewegung um seine Achse: »Raymund, soll das heißen, du hast noch nicht über unser Problem gesprochen? In all der Zeit?«

       »In all der Zeit! Olivia und Leonard sind gerade mal anderthalb Stunden hier. Und das nach zwei Jahren! Da muss man doch erst einmal in Ruhe ankommen.«

       »Wenn du dazu die Ruhe hast… ich meine, es ist ja nicht so, dass ihr euch die Jahre hindurch nicht gesehen hättet.«

       »Roger…« Raymunds Hand legte sich leicht um den Oberarm seines Freundes, »wir werden es jetzt tun, nachdem wir Tee gekocht und Fenster und Türen geschlossen haben.«

       Olivia musterte unauffällig den sichtlich rastlosen Pfarrer, während sie Teegeschirr zu jener Sitzecke des Wintergartens trug, die dem Wohnzimmer vorgelagert war und mit einer reichen Sammlung großer Topfpflanzen wie die Lichtung in einem Hain wirkte. Ganz natürlich hatte Marmalade hier ihren Schlafplatz bekommen, fand sie. Mitten auf dem Tisch thronte die Plätzchendose ihrer Tante, so wie immer. Sie musste einfach hineingucken – und staunte: Duft von frischem Ingwer strömte ihr entgegen. »Ingwerplätzchen! Raymund, darf ich kosten?«

       »Selbstverständlich! Greif zu!«

       Sie knabberte an dem knusprigen und gleichzeitig ein wenig klebrigen Keks und schaute zu, wie ihr Onkel das gerade nicht mehr kochende Wasser geruhsam über die Teeblätter goss. Schließlich war die große Kanne gefüllt. »Die Plätzchen sind auch gut, aber ganz anders als die von Ann.«

       »Aber ja, Puck! Sei nicht enttäuscht, alles im Leben ändert sich einmal. Und gerade für Ingwerplätzchen, denke ich, hat jede englische Hausfrau ihr Geheimrezept. Diese enthalten bestimmt irgendetwas von der Quitte. Sie sind von Aphra Mottram, weißt du…«

      ⋆

      Olivia sah zum Pfarrer hinüber; Roger Mottram verteilte das Teegeschirr mit leicht zitternden Händen, verrückte dabei jedes Teil mehrmals, bis er die Hände zurückzog, und dann doch noch einen Löffel anders legen musste. Sie kam die letzten paar Schritte zu ihrem Onkel heran: »Gewinnt sie auch Aufputschmittel aus Quitten… wenn man sie lange genug liegen lässt und dann auspresst, zum Beispiel… Pferde sollen durch den Genuss von Fallobst in die seltsamsten Zustände geraten sein…« Sie musste endlich doch lachen, wenn auch leise: »Du alter Stratege, dein Freund ist deiner Disziplin nicht gewachsen. Nun erlöse ihn endlich und rede.«

       Raymund Fisher ließ sich noch immer Zeit. Er schenkte Tee ein und barg die Kanne sorgfältig unter einer gefütterten Haube. Er reichte ihnen das Kännchen mit heißer Milch und wartete, bis jeder genommen hatte, er reichte den Zucker, den außer Roger Mottram niemand gebrauchte. Dabei redete er gerade so viel über seine einzelnen Handgriffe, dass daneben kein anderes Thema aufkommen konnte. Er öffnete die Plätzchendose und trug den Deckel zu einem Beistelltischchen. Endlich setzte er sich. Doch lag die Rolle des Majordomus so zweifelsfrei bei ihm, dass keiner sich rührte. Olivia beobachtete den Schalk hinten in seinen Augen, die wachsende Sorge in der Miene des Pfarrers und Leonards zunehmende Verwunderung. Sie trank dabei in kleinen Schlucken ihren heißen Tee.

      ⋆

      »Roger, du bist dran«, äußerte Raymund beiläufig und griff zu seiner Teetasse.

       Roger schnaufte tief und geräuschvoll, reinigte seine vor Schreck überlaufende Nase noch geräuschvoller und setzte sich stöhnend wie ein alter Mann wieder in seinen Sessel.

       »Also weißt du, alter Freund, du wirst doch nicht angeklagt – wenigstens will ich hoffen, dass es am Ende so ist.« Raymund behielt seine Leichtigkeit bei. »Erzähle einfach von deinen Beobachtungen. Ich bin sicher, Olivia und Leonard werden sie zuerst einmal als unerwartetes Gesprächsthema auffassen.«

       Pfarrer Mottram leerte seine noch dampfende Teetasse in einem Zug. ›Vermutlich Raucher‹, schloss Olivia im Stillen, ›ein wenig ungewöhnlich für diesen Typ Ehemann.‹ Er stellte die Tasse ab und stützte die freigewordene Hand auf das vorgeschobene Knie. »Sie werden gleich verstehen, warum mir das Reden so schwer fällt. Die Sache ist die, in meiner Gemeinde mehren sich seit einigen Jahren die Todesfälle unter den älteren Mitbürgern. Nicht gerade spektakulär, aber doch deutlich nicht mehr normal, wenn ich das so sagen darf. Ich weiß eigentlich nicht einmal, an welchem Punkt ich ernsthaft ins Grübeln kam. Ich sprach mit meiner Frau darüber und praktisch, wie sie ist, schlug sie vor, so etwas wie eine Statistik zu erstellen. Wir taten das auf der Basis des Kirchenbuches für die letzten zehn Jahre.« Nach kurzer Pause, in der die Falte über seinem Nasenrücken sich zur Furche vertiefte, nahm er Olivia fest in den Blick: »In den letzten drei Jahren starben pro Jahr nahezu doppelt so viele Mitbürger zwischen sechzig und achtzig wie in den sieben Jahren davor.« Er schwieg.

       Olivia sah, dass er eine Reaktion von ihr erwartete. »Darf ich fragen, was dieser Befund in absoluten Zahlen bedeutet?«

       Roger Mottram atmete hörbar durch. »Ja, selbstverständlich. In den ersten sieben Jahren, die wir durchsahen, waren es drei, gelegentlich vier Todesfälle, in den letzten drei Jahren zunächst acht, im letzten Jahr zehn.« Er sah Olivia ernst an: »In absoluten