Название | Weiße Katze auf weißem Grund |
---|---|
Автор произведения | Ralf Steinit |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783753142036 |
Der Kater hatte wenig Freude an Rivalitäten, die mit endlosem Starren und gesträubtem Rückenfell einhergingen. Er praktizierte diese Form des Umgangs, weil es den Konventionen entsprach. Ein ausgedehnter Schlummer auf einem frisch gewaschenen Kaschmirpullover deckte sich eher mit seinen Vorstellungen von einem gelungenen Tag. Als der Kaschmirpullover noch auf der Fensterbank der kleinen Wohnung gelegen hatte, war es möglich gewesen, das Geschehen zu beobachten, ohne einer Gefahr ausgesetzt zu sein. Ein Junikäfer hätte ihm nichts anhaben können, er wäre höchstens gegen die Fensterscheibe geflogen. Der Kater hing gewiss keinen fortschrittsoptimistischen Theorien an, doch er hätte nicht gern in einer Welt gelebt, die kein Fensterglas und kein Penicillin kannte. Er würde den Schlaf auf dem Kaschmirpullover lediglich kurz unterbrochen haben, um sich ausgiebig zu strecken. Eventuell hätte er seinen Kopf in den Schatten geschoben.
Den Platz auf der Fensterbank hatte ihm niemand streitig machen können, auch die beiden anderen Kater nicht, die in die kleine Wohnung gezogen waren. Es handelte sich um sein Revier und in seinem Revier gehörte die Fensterbank mit dem Kaschmirpullover ihm. Vor drei Wochen hatte Tamira damit begonnen, Bücher, Geschirr und Kleidung in Kisten zu verpacken. Der griechisch sprechende Mann war gekommen und hatte Tamira geholfen, die Kisten, den Schreibtisch und die Töpfe mit dem Basilikum aus der Wohnung zu tragen.
Das Problem bestand darin, dass er nun nicht mehr behaupten konnte, er hätte die älteren Rechte. Er war zusammen mit den anderen Katern in der neuen Wohnung eingetroffen. Rechte an bestimmten Plätzen mussten erst verhandelt werden. Die Wohnung bot deutlich mehr Raum, sie hatte zudem einen Balkon, von dem aus man über eine Wendeltreppe nach unten gelangte. Das neue Revier nahm damit einen bedeutenden Umfang an, was nur beim ersten Hören nach einem wahr gewordenen Traum klang. Ein Revier von bedeutendem Umfang war mit Arbeit verbunden. Das Revier musste fortwährend kontrolliert werden. Reviergrenzen waren festzulegen. Es bestand die Möglichkeit, dass jemand die Reviergrenzen infrage stellte. Hatte man sich für ein Schläfchen zusammengerollt, trieb einen die Sorge um Eindringlinge gleich wieder hinaus. Unter jedem Busch konnte ein Waschbär lauern, während Wildschweine durch die Hecken brachen. Es gab in der Gegend eine große Zahl an Hecken und Büschen. Das Schlimmste aber war, dass sich der Kaschmirpullover nicht mehr finden ließ. Der Kater hatte mehrfach nach seinem Kaschmirpullover gesucht.
Die weiße Katze drang zwar mit ihren Augen in sein Revier ein, schien aber die Hainbuchenhecke entlang des Weges zum Ufer als Grenze zu akzeptieren. Der Kater hatte sie bisher noch gar nicht außerhalb der Hecke gesehen, die das Grundstück des Hauses auf der anderen Seite des Weges einschloss. Die Augen der weißen Katze mussten längst weitergewandert sein. Vom Balkon, auf dessen Brüstung der Kater saß, über den Weg, die Hainbuchenhecke und den Rasen bis zu den Apfelbäumen, die neben dem Haus der weißen Katze standen. Wie kam diese Katze dazu, ihren Blick über ihn wandern zu lassen! Er war Didier de Marche. Er hatte zahlreiche hoch dotierte Fußballspieler dazu gebracht, lächerliche Frisuren zu tragen. Von seinen Bewunderern wurde er einfach der Mann genannt. Es ging um ihn, wenn es im Titel eines Liedes hieß: Listen To What The Man Said, Heʼs A Dangerous Man, The Man Comes Around, Sharp Dressed Man oder Heʼs All The Man That I Need. Er war der letzte der berühmten internationalen Playboys. Wie kam diese schlecht gelaunte Katze mit ihren meerfarbenen Augen und der lächerlich schwarzen Schwanzspitze dazu, ihren Blick über ihn wandern zu lassen! Er würde hinübergehen, um sie für ihr Verhalten zur Rechenschaft zu ziehen. Er würde sie zwingen, seine Käferpfote zu putzen.
Der Kater bemerkte, dass er die Pfote, mit der er den Käfer berührt hatte, in hoher Geschwindigkeit leckte. Er wusste, was eine Übersprunghandlung war. Wird der normale Ablauf einer Instinkthandlung durch Mängel der auslösenden Situation oder Auftreten eines Konflikts zwischen unvereinbaren Trieben gestört, kann die aufgestaute Triebenergie über ein in der Situation irrelevantes, zu einem anderen Instinkt gehörendes Verhalten abreagiert werden. Es konnte aber keine Instinkthandlung sein, schließlich hatte er den Gedanken gefasst, die unverschämte weiße Katze zu besuchen.
Die Sonne erhob sich über der Halbinsel. In der Lücke zwischen den Häusern, durch die der Weg zum Ufer führte, sah der Kater mehrere Schwäne auf dem Wasser, die sich nahe des Bootsstegs treiben ließen. Der Himmel war vogelfrei. Die Kondensstreifen zweier Flugzeuge malten ein im Osten bereits zerfließendes Doppelkreuz. Aus dem Inneren der Wohnung kam ein Geräusch, als ob etwas über Holz geschoben würde. Einige Augenblicke später schienen schwere Gegenstände beim Herabfallen auf etwas Hartes zu treffen. Es folgte ein anhaltender Schrei in einer unangenehmen Tonhöhe.
Tamira Heidbidder hielt sich die Stirn an der Stelle, an der sie der erste Band Karl Mendelssohn Bartholdys Geschichte Griechenlands: Von der Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453 bis auf unsere Tage getroffen hatte. Gleichzeitig versuchte sie, ihren Morgenmantel überzuziehen. Ludwig musste die Bücher, die auf dem Regal gelegen hatten, ein Stück bewegt haben, sodass sie ihr auf den Kopf gefallen waren, als er sie herabgeworfen hatte. Es war im Grunde nicht zu glauben. Ihr schien es zudem unglaubwürdig, dass ein Kater von Ludwigs Gewicht die Höhe des Regals erreichen konnte. Er war entweder aus dem Stand von der Matratze auf das Regal gesprungen oder hatte sich am Kopfteil des Bettes hochgezogen, um das schmale Kopfteil als Ausgangspunkt für den Sprung zu nutzen. Immerhin hielt das Regal, das sie zwei Tage zuvor über dem Bett angebracht hatte, einen Kater von Ludwigs Gewicht aus, ohne sich von der Wand zu lösen.
Tamira schob einen Arm in den Ärmel des Morgenmantels und zog ihn zu ihrer Schulter, indem sie ihn mit den Zähnen am Kragen packte. Als ihre Finger wieder zum Vorschein kamen, nahm sie die Hand, die auf der Kopfverletzung lag, von ihrer Stirn und presste die Hand des Arms, der im Ärmel steckte, gegen die Wunde.
Ludwig schaute sie ernst aus seinen smaragdgrünen Augen an. Er saß aufrecht am Rand des Regalbretts, während seine Pfoten das Brett umklammerten und ein Geräusch zu hören war, als würden Katzenkrallen gegen Holz schlagen. Der gewaltige Bauch trat zwischen seinen Beinen hervor. Er hing über die Kante des Regals, sodass Tamira bangte, die Schwerkraft könnte dem Kater zum Verhängnis werden.
Sie ging in die Küche und wusch das Blut von der Hand, deren Arm noch nicht im Morgenmantel steckte. Nachdem sie auch diesen Arm in seinen Ärmel geschoben hatte, fand sie ein Taschentuch, das sie beim erneuten Wechseln der Hand zwischen die Fingerspitzen und die Kopfverletzung brachte. Ludwig war vom Regal gesprungen und ihr in die Küche gefolgt. Er schien kein Verständnis für eine längere Wartezeit zu haben, doch das Frühstück würde es erst geben, wenn ihre Wunde versorgt war.
Das Pflaster, das sie auf ihre Stirn klebte, war nicht groß genug, um die gesamte Wunde abzudecken. Über den Pflasterrand verlief der Schnitt nach oben zu ihrem Haaransatz. Er verlor sich nach unten in ihrer Augenbraue. Immerhin tropfte das Blut nicht auf die Hühnerbruststücke, die sie auf drei Teller verteilte. Oskar war kurz nach Ludwig in der Küche erschienen. Didier kam durch die offene Tür vom Balkon herein.
Ludwig roch an den Hühnerbruststücken auf seinem Teller. Tamira fürchtete, er würde am Geruch erkennen, dass die Stücke aus einer Dose stammten, die sie in einem Tierbedarfsladen gekauft hatte. Ludwig beschwerte sich augenblicklich und die anderen beiden Kater stimmten ein. Tamira war nahe daran, die Teller mit den Hühnerbruststücken einzusammeln, als ihr der Gedanke kam, es mit Öl zu versuchen. Sie holte das Rapsöl aus dem Küchenschrank und zeigte es den Katern, damit sie sich von der Qualität des Öls überzeugen konnten. Einen Teelöffel Rapsöl gab es für jeden Teller. Zu Tamiras Erleichterung akzeptierten die Kater die Hühnerbruststücke in Pflanzenöl.
Ein wenig später stand sie mit einer Kaffeetasse in der Hand auf dem Balkon und schaute zu dem Haus auf der anderen Seite des Weges. Es war eine neobarocke Gründerzeitvilla. Nestoras hatte behauptet, dass ihm diese Villa merkwürdig vorkam. Tamira erschien die Größe für ein zweistöckiges Landhaus nicht ungewöhnlich und es machte auf sie keinen düsteren Eindruck. Nestoras hatte zu dem Giebelfeld über dem Balkon gedeutet und ihr erklärt, dass die Maße des Giebels übertrieben waren, wenn man die Maße des Hauses zum Vergleich heranzog. Zudem würde es sich um einen gesprengten Giebel handeln. Nestoras kannte seit Kurzem einige baustilkundliche Begriffe, weil er an der Übersetzung eines architekturhistorischen