Der Neujahrsabend. Gerda M. Neumann

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Название Der Neujahrsabend
Автор произведения Gerda M. Neumann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783746710754



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bis nach Weihnachten.«

       »Verrückt! Auch mir gegenüber spielte er diese Ehrung sehr herunter.«

       »Ich glaube, wenn Sie eine persönliche Einschätzung gestatten, diese offizielle Ehrung kam zu spät. Hätte sie ihn in seiner aktiven Zeit erreicht, wäre er stolz darauf gewesen. Er hätte es als eine Art Anfeuerung seitens seiner Leser empfunden. Jetzt schimpfte er nur, dass die Jury sich lediglich deshalb an ihn erinnert habe, weil sie ›etwas Kulturelles‹ brauchte.«

       »Er fühlte sich demnach nicht persönlich gemeint?«

       »Ich fürchte nein.«

       »Er hätte ablehnen können.«

       »Das auch nicht, nein. Sehen Sie, wir arbeiteten an seiner Gesamtausgabe. In schlechten Zeiten fasste er es als Arbeit an seinem Nachruhm auf und dem wollte er den Adelstitel hinzufügen. Ganz abgesehen davon, dass Verleger Byatt sicherlich Einspruch eingelegt hätte. Für ihn bedeutet dieses ›Sir‹ eine bessere Geschäftsbilanz. Das darf man auch nicht ganz vergessen.«

       Amanda nickte leicht und blickte wieder auf das unter ihr dahinziehende Wasser. Sie hob den Blick auch nicht, als sie weitersprach: »Sie hatten in den letzten Monaten den engsten Kontakt zu Keith. Kam es zu einem Zerwürfnis mit einem seiner alten Freunde oder fürchtete er jemanden?« Sie sah wieder auf: »Ich kann mir allerdings nicht denken, wer das gewesen sein sollte…«

       »Genau darüber habe ich nachgedacht, seit Chief Inspec-tor Bates mich gestern verließ. Mir ist nichts und niemand eingefallen. Vielleicht habe ich ihn zu sehr verehrt, um mir auch nur annähernd vorstellen zu können, dass es jemanden gibt, der ihm ernsthaft Schaden zufügen wollte.«

       »Dann drehen Sie die Perspektive dieser Frage einfach um: Wen mögen Sie nicht, wenn Sie in Zusammenhang mit Keith an ihn denken?«

       »Ach du lieber Himmel! Wenn ich so nachdenke, wissen Sie, stelle ich fest, dass ich ihn immer für mich allein hatte. Seine Frau begrüßte mich, immer sehr freundlich, danach zogen wir uns in sein Arbeitszimmer zurück. Nur die wenigen Male, die wir zu einer Besprechung in den Verlag gingen, teilte ich ihn mit Mr Byatt – nein, ich glaube, mir fällt auch so herum niemand ein. Eigentlich ist das doch auch ganz gut, finden Sie nicht?«

       Dazu behielt Amanda ihre Meinung für sich und verschob die Perspektive erneut: »Vielleicht gibt es so jemanden ja auch wirklich nicht und es war Selbstmord.«

       »Ob ich mir das lieber vorstelle, weiß ich nicht.« Ingram sah fast unglücklich von einem zum anderen. »Im Moment wünschte ich, wir alle nähmen es als einen normalen Tod und ließen ihm seinen Frieden.«

       Zu Olivias Überraschung griff Amanda nach Ingrams Händen: »So ist es. Mir wäre das auch das Liebste. Dann dürfte unsere Erinnerung ihn ehren, statt nach Konflikten zu suchen. Wir zwei sollten es einfach so halten.« Mit einem schweigenden Händedruck entließ Amanda den jungen Mann und schob ihren Arm unter den der Freundin.

       Viele Meter später sah Olivia zurück, Ingram war hinter dem Brückenbogen verschwunden. »Hast du eine Vorstellung vom Alter dieses jungen Verehrers?«

       »Er ist Anfang Dreißig und wirkt zehn Jahre jünger, nicht wahr? Seinem numerischen Alter entsprechend weiß er eine ganze Menge, das brachte ihm die Stelle als Herausgeber ein. Andere Teile seines Ich sind nicht so gut vorangekommen, und das hindert ihn, seine Rolle souverän zu füllen. Er ordnete sich ziemlich rasch Keiths Ansichten und Wünschen unter. Ingrams Schwäche weckte Beschützerinstinkte in Keith – das überraschte mich. Die Folge war rückhaltlose Bewunderung und ein kindliches Sein-Herz-Ausschütten des Jüngeren. Das gab dem alternden Mann Macht über ihn. In meinen Augen ein grundsätzlicher Fehler.«

       »Was konnte Aulton mit seiner Macht über Ingram denn anstellen?«

       »In Gesprächen mit mir nutzte er sein Wissen zum Klatschen. Wenn er keine Lust zu arbeiten hatte. Er saß in meinem Wohnzimmer, ließ die Anthologien einen guten Plan sein und breitete vor mir die privatesten Probleme seines Schützlings aus. Ingram ist schwul – was du sicher nicht übersehen hast – träumt von einem festen Partner und erprobt auf der Suche danach unausgesetzt neue. Kon-flikte und Verletzungen bleiben nicht aus. Ich bin darüber bestens im Bilde und kann mir nicht denken, dass ich die einzige bin.«

       »Ein erstklassiges Mordmotiv!«

       »Du sagst es. Aber nur, wenn der Junge es schon herausgefunden hat. Zu homosexuellen Kreisen suchte Keith nie persönlichen Zugang, vermutlich auch vor dreißig Jahren nicht, seine Indiskretionen brauchen also mehrere Stationen bis dorthin und ohne diesem Ingram zu nahe treten zu wollen: Er ist nicht wichtig und nicht allge-mein bekannt genug, als dass seine Geschichten weitererzählt würden; wie du sagtest, ist Homosexualität heutzutage kein wirklich aufregendes Thema mehr. Es kann also ohne weiteres sein, dass er von diesen Vertrauensbrüchen nie erfährt.«

       »Ich möchte es ihm wünschen.« Olivia litt für einen Moment stellvertretend.

       »Einerseits. Andererseits ist der Knabe über dreißig und wirkt wie zwanzig. In dem Alter darf man solche Fehler noch machen. Wenn das Leben ihm aber weiter erspart, die Konsequenzen seiner Fehler ausbaden zu müssen, bleibt er immer zwanzig. Das sollte man ihm nicht wünschen. Aber lassen wir das, es ist schließlich sein Problem.«

       »Du glaubst also nicht, dass Ingram das Gift in den Whisky fallen ließ?«

       »Ich halte es für unwahrscheinlich, aber nicht für unwahrscheinlicher als bei fast allen anderen Gästen in Dulwich. Mit Sicherheit weiß ich im Moment nur, dass der ›Dragon‹ hinter der nächsten Straßenecke liegt.«

       »Amanda, könnten Beeverells Neigungen zum eigenen Geschlecht jetzt im Alter wieder erwacht sein? Schließlich war er es, der Ingram als Herausgeber vorschlug.«

       Überrascht blieb Amanda stehen: »Und Ingram lieferte das an Keith aus… Keith klatschte über vieles in Zusammenhang mit diesem jungen Mann, Beeverell kam dabei nicht vor.« Entschlossen stieß sie die Tür zum Pub auf.

      ⋆

      Im ›Dying Dragon‹ drängten sich die Studenten um die lange Theke, auch sonst war der große Schankraum bereits ziemlich voll. Nach einem kurzen Rundumblick verschaffte Amanda sich die Aufmerksamkeit des Wirtes und wurde zu einem ruhigen Hinterzimmer geleitet. Dort entließ sie ihn und hielt kurz inne. Energisch schüttelte sie ihre langen blonden Haare. So auffällig sie waren, Professor Beeverell hatte sie dennoch nicht bemerkt, als er mit seinem Kollegen ins Pub ging. Sie klopfte.

       Henfrey Beeverell verbarg seine Freude über die Ehre, Lady Cranfield seinem Kollegen vorstellen zu dürfen, keinen Augenblick. Entgegenkommend bot er ihr Platz an seinem Tisch an und selbstverständlich auch ihrer Begleiterin.

       Auf die naheliegende Eingangsfrage, was sie nach Cambridge geführt habe, begann Amanda ein leichtes Gespräch über verschiedene Bibliotheken, ihre Vorzüge und ihre Verführungskräfte. Nachdem die Getränke gebracht worden waren, änderte sie die Zielrichtung: »Es fällt mir schwer, an Keiths Tod zu glauben. Was immer ich tue, meine Gedanken kehren zu ihm zurück. Um diesem Kreisen ein Ende zu machen, habe ich mich auf die Arbeit an unseren gemeinsamen Anthologieprojekten gestürzt,« teilte sie dem überraschten Professor mit. »Keith hat Sie in all seine Pläne eingeweiht, also sicherlich auch in diese, oder nicht?«

       »Ja, selbstverständlich. In allen wissenschaftlichen Fragen war ich sein Ratgeber. Allerdings liegt das Material in meinen Räumen im College und so einfach aus der hohlen Hand vermag ich Fragen dazu kaum zu beantworten.«

       »Natürlich nicht, das habe ich auch gar nicht erwartet,« Amanda sah ihn mit andeutungsweiser Entschuldigung im Blick an. »Miss Lawrence überraschte mich heute sehr früh am Morgen mit der Frage, ob ich sie nach Cambridge begleiten wolle, deshalb konnte ich mich nicht rechtzeitig mit Ihnen verständigen. Und da ich nun schon einmal hier bin, wollte ich Sie wenigstens sehen.« Dieses Mal warb ihr Blick verhalten um Verständnis, das umgehend gewährt wurde.

       »Ich wäre untröstlich gewesen, Sie nicht zu sehen. Nach dem Schock, den der unbegreifliche Tod unseres gemeinsamen Freundes für uns beide bedeutet, könnte es eine gute Sache sein, das Material, das ich für die Anthologien drüben im College