Название | Nest im Kopf |
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Автор произведения | Beate Morgenstern |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847673774 |
Ja und? Was ist daran so komisch?
Das kannst du nicht begreifen. Jemand anderes hätte einfach gesagt: Es passte nicht. Ihr aber ergebt euch, fügt euch.
Soso. Du hörst ja sehr genau hin. Wir sind wohl gute Studienobjekte für dich?
Unsinn. Anna hatte nicht mit der Empfindlichkeit der Mutter gerechnet, die oft ganz überraschend auftrat und die Spottlust der Familie, besonders des Vaters, eher noch förderte.
Eine Nachbarin ging den Mittelweg entlang in den hinteren Teil des Gartens. Da sie nicht redeten, wurden sie nicht von ihr bemerkt.
Wie lange sind wir beide nicht mehr allein gewesen.
Anna sprach leise, damit sie nicht gehört wurden.
Ja, ich hab auch gedacht, es könnte doch mal ganz hübsch sein.
Sie hätte mich schon verwöhnt, dachte Anna. Nur, die Geschwister waren jünger, bedürftiger. Immer sind die Jüngeren bedürftiger.
Haben wir uns zu wenig um dich gekümmert? Die Mutter schien Annas Überlegungen zu erahnen.
Anna wich aus. Ihr habt gemeint, ich komm schon durch. So habt ihr mich halt eingeschätzt. Schnell war Anna bereit zu entschuldigen. Vor Jahren hatte Anna die Mutter in Gedanken mit Vorwürfen überhäuft. Doch nun konnte sie nicht zulassen, dass sich die Mutter ihretwegen belastete.
Fehler macht man immer, die Mutter seufzte erleichtert.
Das weiße Gartenhäuschen hob sich kaum mehr vom hellen Abendhimmel ab. Anna sah die runden, sich zum Giebeldreieck verjüngenden Eingangssäulen. Diese Gartenhäuschen gehörten zu Gottshut. Einige tempelartig. Schiefergedeckt, aus Holz, weiß gestrichen, andere teerüberdacht, aber mit reichem Schnitzwerk, manche auch gemauert und gelb getüncht. Es kam Anna so vor, als hätte sich über Jahrhunderte das eigentliche Leben der Gottshuter Brüder und Schwestern in diesen Gärten abgespielt, und noch heute bevölkerten ihre heiteren Seelen die verlassenen Häuschen, in denen sich keine Gemeinschaft mehr zusammenfinden wollte, außer dass Kinder sie zufällig zum Spielen benutzten. Nach und nach verfielen sie und wurden abgetragen.
Gehen wir? sagte die Mutter, blieb aber noch eine Weile neben Anna sitzen.
Anna schlief schwer ein. Von nirgendher kam Licht, nicht aus dem Hof, nicht vom Garten. Nicht einmal ein Geräusch war zu hören. Eine solche Stille und Dunkelheit, es nahm ihr den Atem. Endlich machte die Müdigkeit sie gleichgültig.
Lange war es still um sie. Dann erstand aus hellem Nebel eine Stadt mit engen Straßen und hohen Häusern. Dunkle Löcher klafften statt Fenstern und Türen. Ziegelsteine waren herausgebrochen. Anna stand auf dem weiten Platz in der Mitte und konnte ganz ruhig sein. Der Krieg hatte das Böse aus den Häusern herausgetrieben. Menschen liefen geschäftig auf den Straßen und gingen in die Häuser. Es schien sehr wichtig, Brot zu backen. Die Kleider waren von weißem Mehlstaub bedeckt. Hin und wieder wurde Anna angesprochen. Aber sie merkte es nur daran, dass man sie anblickte und etwas von ihr wollte. Annas Weg führte zu einem Haus in der Straßensenke, das unbeschädigt war. Im Haus ging sie eine abgetretene Holztreppe hinauf. Eine breite Diele im Obergeschoss. Hinter einer der Türen hatte ein großes Mädchen mit dem Namen Lilo gewohnt, das gut zu Anna gewesen war. Vielleicht sollte Anna an eine der Türen klopfen, und Lilo, das Mädchen mit den dicken, dunklen Zöpfen, gäbe sich endlich zu erkennen.
Eine schmale Holztreppe zum Dachgeschoss. Rechts die Kammer vom alten Herrn Renzoni. Anna war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er vielleicht schon gestorben sei und die Kammer nur mit dem Gerümpel fremder Leute angefüllt. Da entschloss sie sich, die Klinke der Tür herunterzudrücken, hinter der sich ihre alte Wohnung befand. Die Wohnung war unverschlossen. Sie sah durch den Flur in die große Wohnküche. Die Großmutter legte Leibwäsche zusammen. Ihre knochigen Hände zerrten ungeduldig an den Stücken.
Wohnst du jetzt wieder hier? fragte Anna.
Die Großmutter zog die Augenbrauen hoch. Auf ihrer Stirn bildeten sich viele kleine Runzeln. Sie blickte Anna mit ihren durch die Starbrille vergrößerten blauen Augen vorwurfsvoll an. Ja, natürlich, sagte sie, legte ein Hemd auf den Wäschestapel, das letzte Stück der Leibwäsche, und nahm ein Kopfkissen. Sie breitete es auf dem großen, ausziehbaren Küchentisch aus und sprengte es mit Wasser aus einer kleinen, Anna wohlbekannten verbeulten Aluminiumschüssel, die sonst die Mutter für Küchenkräuter verwandte. Das silberne Schüsselchen.
Weißt du, so habe ich mir das gewünscht, sagte Anna und war glücklich, dass es gekommen war, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie ging näher an das große Küchenfenster und erinnerte sich, wie die Mutter den Ausblick auf den Kretzschmar gelobt hatte, hinter dem abends die Sonne unterging. Ein Bahndamm hinter Hof und Gärten.
Anna wandte sich der Großmutter zu. Du hast wieder den schönen Ausblick, sagte sie. Und die Wohnung ist besser für dich als die der Eltern. Da hättest du bei den vielen Treppchen leicht stürzen können. Sie merkte, dass sie die Eltern entschuldigte, die die Heimkehr der Großmutter nach Gottshut nicht mit genügend Eifer betrieben hatten.
Gott hat mir diesen Wunsch erfüllt, sagte die Großmutter feierlich. Ich darf meine letzten Tage in Gottshut verbringen. Auch meine Grabstelle ist schon bestimmt. Ich werde nach Schwester Goldstücker sterben. So werden wir nebeneinanderliegen.
Aber Schwester Goldstücker lebt doch noch, sagte Anna und benutzte einen Namen, von dem sie wusste, dass er falsch war. Doch sie meinten dieselbe Person.
Ja, sie wird vor mir sterben, beharrte die Großmutter. Und ich bin die Nächste. Ein wenig Zeit hat Gott mir noch hier auf Erden geschenkt.
Dann werde ich euch beide besuchen, versprach Anna. Alles bekommt seine Ordnung, dachte sie. Ich habe mir so sehr gewünscht, dass dir dein letzter Wunsch erfüllt wird, sagte Anna und fühlte, wie sie vor Erleichterung zu weinen begann. Zu unerträglich war ihr die Vorstellung gewesen, der Großmutter würde die Erfüllung ihres letzten Wunsches verweigert werden.
Hier habe ich meine geistliche Heimat, sagte die Großmutter und sah Anna ernst an mit der deutlichen Ermahnung, dass auch sie endlich Frieden mit Gott schließen solle.
Ich weiß, sagte Anna. Du hast es immer geschrieben. Ich hab auch gedacht, du kannst nie zu alt sein.
Es steht dir nicht zu, mit den Eltern zu hadern. Nein. Nun gibt es ja auch keinen Grund mehr.
Die Großmutter setzte sich auf ein kleines Sofa. Anna nahm neben ihr Platz und schaute auf die zusammengelegten männlich kräftigen Hände.
Es ist aber gut, dass ich hergekommen bin. Keiner hat mir gesagt, dass du hier bist. Und wenn du bald sterben wirst, ist es gut, wenn ich dich vorher noch einmal sehe, nicht wahr? Anna strich über die Außenflächen der Hände. Sie fühlte, sie hatte ein Recht, die Großmutter zu streicheln.
Die Hände der Großmutter öffneten sich. Anna legte ihre hinein.
Du denkst daran, dass ich dich wiedersehen möchte, sagte die Großmutter. Du weißt, es gibt nur einen Weg.
Ja, Omi. Anna bemühte sich, an den bekümmerten alten Augen vorbeizuschauen. Wenn du hier so allein wohnst, sagte sie, dann könnten die Eltern wieder zu dir ziehen. Sie müssen ohnehin ihre Wohnung räumen. Anna freute sich, wie leicht sich alles löste.
Die Großmutter schwieg. Sie hatte Anna wohl nicht gehört. Ich möchte dich wiedersehen, Kind, sagte sie noch einmal.
Plötzlich war Anna allein. Sie stand auf und suchte nach Spuren, die bewiesen, dass sich die Großmutter in der Wohnung aufgehalten hatte. Am gewohnten Platz hing ein Foto in silbernem Rahmen: die Großmutter und der Großvater. Die Großmutter spitznasig, die Haare in der Mitte gescheitelt und eingerollt und mit einer wenig zu ihr passenden Handarbeit beschäftigt. Den Großvater erkannte Anna an dem abrasierten Schädel und dem Zwicker. Er hielt eine Zigarre in der dicken Hand.
Nachdem Anna das Foto gesehen hatte, wusste sie, dass sie auf ein Wiederkommen der Großmutter nicht mehr hoffen durfte. Die Großmutter hatte etwas mitzuteilen gehabt