Название | Miro |
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Автор произведения | Christina Hupfer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783742718716 |
„Hättest es anders haben können.“ Sogar seine Sprache wurde grober. “Meinst wohl, bist was Besseres. Musst noch viel lernen. Willst doch nicht, dass Papas zweites Bein auch Schaden nimmt. Oder Kleine von deinem Bruder. Kinder haben schnell mal schlimmen Unfall.“
Mit einem unverständlichen Wortschwall — wahrscheinlich russisch, aus dem die ganze Bosheit eines frustrierten Individuums sprach, warf er sich auf ihren sich hilflos windenden Körper.
An das, was der „nette“ Karel in dieser ersten Nacht in der Fremde mit ihr angestellt hatte, konnte sie nicht denken ohne einen Weinkrampf zu bekommen. Es half auch nicht, dass sie von allen Seiten gesagt bekam, daran müsse sie sich eben gewöhnen. Je schneller, desto besser.
Fast noch schlimmer war es, sich selbst ins Gesicht sehen zu müssen, als sie ihr zeigten, wie sie sich gefälligst herzurichten habe.
Am Schluss blieben nur noch Fragmente der alten Miroslava übrig. Papa, Mama, ich bin doch eure Slavenka. Aber ich kann nie wieder heim. Ich würde mich auch nie trauen. Sie würden mich finden. Sie würden euch finden. Ich wollte ich wäre tot.
5
Senf! Eine angebrochene, halb ausgequetschte verschmierte Tube. Sie registrierte es eher beiläufig als sie die angebissenen Reste ihres Abendbrots wieder in den Kühlschrank packte. Seit Tagen war sie wie betäubt, funktionierte nur noch. Doch diese Tube! Ihr Herz klopfte plötzlich wie verrückt. Sie schnappte sich ein Stück Wurst und etwas Brot, drückte eine ordentliche Portion Senf auf ihren Teller und verspeiste alles bis auf den letzten Krümel. Und sogar mit etwas Genuss.
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„Sieh dir an! Was ich soll mit der! Morgen kommt Kunde, dem ich habe versprochen. Fast wie neu. Lange Beine, Haare und Gesicht wie Schneewittchen!“
Der Mann, den sie Chef nannten tobte so laut mit Karel, dass man es auch durch die gepolsterte Tür hätte hören können, wenn sie nicht nur angelehnt gewesen wäre.
„Und wie sieht jetzt aus? Schaff weg! Und schau, wer von Mädchen kann übernehmen. Provision du kannst vergessen!“
Befriedigt betrachtete sich Miroslava in dem kleinen Taschenspiegel während sie dem Gebrüll lauschte. Leuchtend rote Pusteln bedeckten ihr Gesicht und einige davon begannen bereits zu eitern. Sie hätte nie gedacht, dass sie einmal über diese Allergie, die sich vor langer Zeit beim Verzehr von Baba Doras Lieblingsgewürzpaste herausgestellt hatte, so froh sein würde. In diesem Zustand würden die feinen Herren sie nicht mal mit Handschuhen anfassen!
Ihre Hand tastete dankbar nach der kleinen Senfportion in ihrer Hosentasche. Die Beutelchen hatte sie bei ihrer gründlichen Suche im Kühlschrank auch noch gefunden. Sie waren nicht ganz so auffällig wie die dicke Tube, und sie würden hoffentlich bei niemandem einen Verdacht aufkommen lassen. Bald wäre sie vielleicht schon wieder auf dem Weg nach Hause. Sie würde nie wieder weg wollen. Nie, nie wieder! Und die Männer konnten ihr alle gestohlen bleiben, auch Marek. Es tat so weh. Ob er das gewusst hatte? Ob er sie wissentlich ausgeliefert hatte?
•••
Der alte Bus rumpelte durch die Nacht, und die Köpfe ihrer müden Leidensgenossen schwankten in seinem Rhythmus. Regen prasselte gegen die Scheiben, und der Wind blies ihn in Schlieren davon. Im Scheinwerferlicht des Gegenverkehrs erkannte sie abgeerntete Felder und Wiesen, die dunkle Silhouette eines Waldes, eines einzelnen Baums, und ab und zu blinkte ein freundliches Licht aus einem einsam stehenden Haus. Dann wurde es hell. Menschen unter nass glänzenden Schirmen eilten durch erleuchtete Strassen ohne die bunten Auslagen in den Schaufenstern zu beachten. Drängten sich in Hauseingängen oder verschwanden mit kräftigem Schütteln in einladenden Türen.
Ihre Wange lehnte am kühlen Glas, auf dem ihre Tränen, vermischt mit Zinksalbe, einen schmierigen Film hinterließen. Sie befühlte die juckenden Stellen und wünschte, die Senftherapie langsam beenden zu können. Aber bei der gestrigen unwürdigen abendlichen Untersuchung, um festzustellen, ob sie auch ja jeden Cent der erbettelten Beute abgeliefert hätten, hatte sie den anzüglichen Blick ihres Kolonnenführers aufgefangen, und es schauderte sie noch immer.
Es müsste doch reichen, dass sie sich bemühte, alles andere als attraktiv auszusehen. Ungewaschene lange Haare über dem wunden Gesicht, die Kleider wie aus dem Altkleidersack gezogen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand an so etwas Gefallen finden konnte.
Wie sollte sie dieser Hölle nur wieder entkommen? Sie hatten ihr unmissverständlich klargemacht, dass sie eine horrende Summe abzuarbeiten hätte. Der Flug, die Unterbringung, auch die in diesem hässlichen Schuppen, in den sie von nun an jeden Abend gebracht wurden, das Essen. Es wurde jeden Tag mehr. Sie hatte keine Papiere. Die lagerten zum Schutz vor der ‚schlimmen Stadt‘ noch immer im Safe in Berlin.
Als diese widerlichen Menschen festgestellt hatten, dass sie ihnen mit ihrem entstellten Gesicht kein Geld bringen würde, hatten sie sie kurzerhand Wladimir ausgehändigt. Der hatte gerade in dieser riesigen Stadt eine Truppe armer Teufel für seine Bettlerkolonne zusammengetrieben, die im Süden Deutschlands operieren sollte. In welcher Ecke der Welt hatten die eigentlich nicht ihre schmutzigen Finger? Ravensburg stand auf dem Ortsschild, an dem sie nun jeden Tag vorüber fuhren. Die Stadt der Spiele wäre das, hatte jemand zu ihr gesagt. Ha! Es war ein übles, chancenloses Spiel, das das Leben hier mit ihnen spielte. Tag für Tag mussten sie dieser unwürdigen ‚Arbeit‘ nachgehen, und wenn sie nicht genug ‚verdienten‘ mit Schlägen und Schlimmerem rechnen. Aber auch wenn jemand von ihnen ohne Ausweis flüchten und eventuell untertauchen könnte. Ihre Wärter würden sich an den Familien bitter rächen.
„Haben dich in Netz, kleiner Vögelchen. Musst mitsingen. Sonst wir holen vielleicht kleine Kind von Verwandte. Bringt viel Geld.“ Der faulige Atem des Mannes, dem sie nicht ausweichen konnte, ließ sie in Hoffnungslosigkeit erstarren. „Ist überhaupt gute Idee!“ Wenn sie Wladimir in seiner neuen billigen Trainingshose und der imitierten Lederjacke auch nur näher kommen sah, wurde ihr schlecht. Wie immer sie auch in schlaflosen Nächten hin und her überlegte: sie fand keinen Ausweg. Wie oft schon hatte sie in der öffentlichen Toilette gesessen und sich vorgestellt, einfach dort sitzen zu bleiben oder in eine andere Richtung davonzulaufen. Und doch zog es sie unbarmherzig immer wieder zurück. Sie zappelte im wahrsten Sinne des Wortes in einem Netz aus Drohungen, Verantwortungsgefühl und Scham.
Sie dachte an den Brief, den sie heute in die kleine Plastiktüte gesteckt und in einer Ritze der Mauer versteckt hatte. Mama, Papa, ich kann nicht mehr. In der kleinen Mauer um eine grüne Insel vor einem Einkaufszentrum, an der man sie seit einigen Tagen, Gott sei Dank, wieder zum Betteln ausgesetzt hatte. Der Mauer, in der in einer anderen Ritze das Geld steckte, das sie immer wieder heimlich von ihren Einnahmen abgezweigt hatte. Viel war es nicht, aber wenigstens eine kleine Hoffnung, und besser als Nichtstun. Genauso eine kleine Gegenwehr wie ihre recht guten Deutschkenntnisse. Die hatte sie instinktiv verschwiegen. Wehmütig dachte sie an Baba Dora. Wenn sie von ihren Eltern zum Helfen dort hin geschickt wurde — sie war ja nicht immer nur am Streunen — hatte sie mit ihr begeistert deren heimatliche Lieder gesungen. ‚Sah ein Knab ein Röslein stehn‘ beim Beeren pflücken. Das Lied von der Bachforelle beim Wäsche aufhängen. ‚Am Brunnen vor dem Tore‘ abends auf der Bank vor dem kleinen Haus. Sie hatte von ihr die Übersetzungen wortwörtlich gelernt und ab und zu in dem Kirchen-Gesangbuch der alten Frau geblättert, und sich gefreut, wenn sie ein Wort davon wiedererkannt hatte. Und Baba Dora hatte gegluckst vor Vergnügen wenn sie ihr auf Deutsch eine Gute Nacht und ‚So manchen süßen Traum’ gewünscht hatte. In der Schule hatte sie weitergelernt, und in ihrer kurzen Zeit im Reisebüro war ihr das sehr zugute gekommen. Für normale Unterhaltungen taugte das also durchaus, und in Gedanken übte sie, was sie der Polizei sagen würde. Sagen wollte!
Aber unter ihren Leidensgenossen im Bus saß einer der das auch versucht hatte. Wladimir hatte ihm vor kurzem ein Foto seines Kindes in die Hand gedrückt, aber erst nachdem er es ihnen allen mit einem bösen