Gelöscht - Die komplette Reihe. Sabina S. Schneider

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Название Gelöscht - Die komplette Reihe
Автор произведения Sabina S. Schneider
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742730121



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sogar geliebt? Das kleine Licht in mir, das sie nicht löschen konnten, zuckt unruhig bei diesem Gedanken hin und her. Und ich bin entschlossen, zu finden, was sie mir genommen haben. Berechtigt oder nicht.

      Kapitel 03 - Das Glaslabyrinth

      Ich mache mich so klein wie möglich, zwänge meinen Körper in die Schatten, die das Licht der leuchtenden Geländer nicht erreichen kann, und begutachte mein Werk. Ein Stück Papier, dessen Inhalt mich einen Monat gekostet hat.

      Vier Zahlenstränge sind in vier Seiten eines Würfels aufgezeichnet. Sie beginnen unten mit null und enden oben mit sieben. Jede Ebene hat eine Zahl. Im Erdgeschoss gibt es keine Türen, sondern vier Löcher im Boden, die mit Stahlklappen verschlossen sind. Aus einer dieser Stahlklappen bin ich neugeboren mit Sunshine herausgetreten.

      Die erste Ebene des Glaswürfels, der das Rolltreppenlabyrinth beherbergt, ist meine Ebene. Hier leben wir White. Wir haben das schlimmste Verbrechen begangen: Wir haben Leben ausgelöscht. Und der Preis für ein solches Vergehen ist unsere Erinnerung. Sind die Wände aus Glas, um uns zu jeder Zeit beobachten zu können? Uns davon abzulenken, dass wir in einem Gefängnis leben?

      Ich denke an die vielen ausdruckslosen Gesichter und frage mich, ob das wirklich Leben ist. Nur wenige tragen noch ein Licht in sich.

      Dannie ist … war eine von ihnen.

      Jeden Tag haben meine Augen sie gefunden und nach einem Zeichen der Besserung gesucht. Nichts. Keine Gefühlsregung. Nicht einmal, als ich ihr heißes Wasser über die Hand geschüttet habe. Wie sehr haben sie ihr Gehirn zerstört, ihren Geist zerfetzt, wenn sie nicht einmal auf starke körperliche Reize regiert?

      Tag für Tag suche ich nach dem Funken, den ich so leicht am ersten Tag gefunden habe. Seine Seltenheit und Kostbarkeit kann ich erst jetzt wertschätzen.

      Die Ethikklasse von Mutter Aira wird immer kleiner. Was geschieht mit den Mädchen und Frauen, die zu viel Geist haben? Werden sie wirklich in die Gesellschaft zurückgeführt? Leben sie, sich ihrer eigenen Schuld nicht bewusst, ein normales Leben? Heiraten sie, bekommen sie Kinder? Gründen sie eine Familie?

      Familie …

      Das Wort klingt leer. Ich kenne die Bedeutung. Ich weiß, was ein Vater ist. Ich weiß, dass eine Mutter mehr ist als die Frauen, die sich hier um uns kümmern. Mir sagen auch die Begriffe Schwester und Bruder etwas. Doch das Gefühl fehlt mir. Zwei Menschen bekommen Kinder und werden zu Mutter und Vater. Ändert sie das? Werden sie zu mehr als Mann und Frau? Ist Geschwisterliebe stärker als Freundschaft?

      Wenn Freundschaft so schmerzen kann, wie schlimm ist es bei der eigenen Familie? In meinem leeren Inneren finde ich keine Antworten. Was mir fehlt, ist die Erfahrung. Wie soll ich gut von schlecht unterscheiden, wenn ich keine Pfeiler habe, an denen ich die Grenzen ziehen kann? Die Werte, die mir Mutter Aira beigebracht hat, haben ihre Allmacht verloren. Ihre Wahrheit ist auf einer Lüge aufgebaut und kann mir nicht helfen. Ich will wissen. Ich will fühlen. Ich will erfahren.

      Und alles, was mir im Moment bleibt, ist die Lösung des Glaslabyrinthes, das sich vor mir auftut. Verwirrend und doch mit einer tieferen Logik verflochten. Logik. Kann sie mir helfen? Mich leiten und mir den richtigen Weg zeigen? Zweifel regiert mein Herz und ich suche nach dem Licht in mir, ein leises Kitzeln im Gehirn an einer Stelle, die man mit den Fingern nicht erreichen kann. Kurz frage ich mich, ob dieses Licht mich leiten kann, doch dann schalte ich diese Gedanken ab, konzentriere mich auf das Rätsel vor mir, dessen Lösung ich in den Händen halte.

      In der Mitte des Raumes starten sieben Rolltreppen. Mit vier der Rolltreppen gelangt man in den ersten Stock, doch jeweils nur zu einer bestimmten Tür. So weit so gut. Eine Treppe führt direkt zum zweiten Stock, eine andere zum dritten und die siebte zum vierten Stock. Zwei der Treppen halten in jeder Ebene. Die Zweiertreppe reicht nur bis zur Sechs, so auch die Dreiertreppe. Die Vierertreppe ist eine Sackgasse. Ein paar Treppen sind knifflig, aber dank vielen Versuchen und meiner Labyrinth-Karte weiß ich, welche Treppe ich nehmen muss, um zu welcher Tür zu gelangen.

      Meine Finger zittern. Ich bin nervös. Was wird man mit mir machen, wenn sie herausfinden, dass ich mich in andere Ebenen schleiche? Doch ich kann nicht aufhören. Ich habe schon zu viel riskiert und das, was ich bereits weiß, kann ich nicht einfach verdrängen. Das morbide System des Kubus‘ ist faszinierend, lenkt mich von meiner inneren Leere ab. Das Rätsel ist zu meinem ständigen Begleiter geworden, wo es vorher die Freundschaft mit Dannie war, wie auch das Adrenalin, das jetzt durch meine Adern schießt.

      Die erste Ebene ist aus Glas, wie der Kubus selbst. Ebene Zwei hat ebenfalls Glaswände, doch sie sind nicht durchsichtig, sondern milchig. Man sieht, dass sich jemand im Raum befindet. Doch die Umrisse sind verschwommen. Die Frauen und Mädchen dort tragen gelbe Armbänder. Sie sprechen sich mit Namen an, nicht mit Monat und Tag. Ihre Augen sind nicht so leer wie die der Bewohner meiner Ebene. Auf der dritten Ebene tragen die Frauen grüne Armbänder. Die meisten von ihnen lächeln. Ich habe mich bereits in beide Ebenen geschlichen.

      Heute ist Ebene Vier mein Ziel. Die Ebenen scheinen alle ähnlich aufgebaut zu sein. In zwei Flügeln sind die Novizen untergebracht, bei den White Neugeborene genannt. In einem anderen die Lehrer und die Bediensteten. Im vierten Flügel sind die Ausbildungsräume und die Mensa. In Ebene Zwei und Drei wird dieses Muster aufrechterhalten, vermutlich auch in allen anderen. Mein Ziel in Ebene Vier ist der Lehrbereich.

      Ich werfe einen letzten Blick auf meine Karte und verstaue sie in einer Innentasche meines BHs. Aus dem Körbchen ziehe ich eine blaue Folie, klebe sie sorgfältig auf mein weißes Armband, schleiche mich zur Treppe, drücke mich auf allen Vieren so nahe wie möglich an die sich bewegenden Stufen. Mein Herz klopft. Ich habe nicht viel Zeit. Sunshine ist mit einem Mädchen, das auffällig geworden ist, im Befragungsraum. Sie ist beschäftigt und meine Abwesenheit wird niemandem auffallen. Auch wenn die Wände gläsern sind und jeder alles sehen kann, sind die meisten zu apathisch, um ihre eigene Existenz anzuerkennen, geschweige denn die einer anderen Person.

      In der Aufregung wird mich keiner vermissen … hoffe ich. Die Treppe bewegt sich quälend langsam und ich verfluche sie, wage es jedoch nicht mich zu bewegen und lasse mich hochrollen. Oben angekommen, trete ich an die Tür, die sich ohne mein Zutun öffnet. Warum nur, ist es so leicht, frage ich mich zum vierten Male. Glauben sie nicht, dass wir intelligent genug sind?

      Ich schreite durch die Tür, husche in den Gängen herum und gleite schnellstmöglich in eine Toilette, verschließe die Kabine, setze mich auf den Klodeckel und sperre meine Ohren auf. Manchmal muss ich zurück, ohne auch nur irgendetwas Neues herausgefunden zu haben.

      Gerade als ich wieder gehen will, höre ich, wie die Tür sich öffnet. Schritte von einer Person. Die Kabine neben mir schließt sich. Ich zähle bis zehn, betätige die Spülung und begebe mich ans Waschbecken. Ich wasche mir die Hände und richte mir die Haare, starre in das Gesicht, das mir immer noch fremd ist.

      Das Geräusch der Spülung reist mich aus meiner Gedankenwelt und ich blicke immer noch starr in den Spiegel, als eine junge Frau sich zu mir ans Waschbecken gesellt. Ich lächle sie schüchtern an und sage: „Hallo.“

      „Hallo“, erwidert die Frau.

      „Ich … ich heiße Annabell und du? Entschuldige, aber ich bin noch nicht lange hier und kenne niemanden“, sage ich und lächle, wie ich hoffe, schüchtern.

      „Mein Name ist Nyks. Willkommen Annabell! Ich hoffe, dir gefällt dein neues Zuhause.“

      Das Lächeln der Frau scheint ehrlich zu sein und ich komme mir mit meiner Lüge schmutzig vor. „Nyks … ein schöner Name!“ Wenigstens das kann ich von Herzen ehrlich sagen.

      „Danke, meine Eltern haben mich nach meiner Großmutter väterlicherseits benannt.“

      Ihre Worte sind Dolchstöße in mein Herz. Sie kennt nicht nur ihren Namen, sondern erinnert sich an ihre Eltern? An ihre Großeltern. Meine Hand zittert. Ich zwinge mich zu einem Lächeln. „Weißt du … was die Farbe unserer Armbänder bedeutet?“ Verwirrt blickt Nyks mich an, dann leuchten ihre Augen auf.

      „Meine