Neue Zeiten - 1990 etc.. Stefan Koenig

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Название Neue Zeiten - 1990 etc.
Автор произведения Stefan Koenig
Жанр Языкознание
Серия Zeitreise-Roman Band 7
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753185569



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gewohnt hatte und das zweifellos schön sei, war ihr zu laut und zu geschäftig erschienen. Da hatte sie das Heimweh nach den Klippen von Honeybridge und dem Meer gepackt. Ohne Fiona hätte sie hier jedoch nirgendwo Arbeit gefunden. Und dann fügte sie noch hinzu, dass dieser Ort ihrer Ansicht nach etwas Heilendes und Spirituelles an sich habe, das helfe, jeglichen Schmerz im Herzen zu lindern.

      „Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen“, sagte John. „In der kurzen Zeit, in der ich hier bin, spüre ich bereits, wie ruhig und ausgeglichen ich werde.“

      „Ja, das Leben ist hier gewiss sehr anders als das, was Sie gewohnt sind“, meinte Mara.

      „Ganz anders“, erwiderte er, ohne darauf näher einzugehen, welche Art Leben er führte.

      „Bei sich zu Hause können Sie wahrscheinlich nicht einfach ins nächstbeste Café gehen und völlig normal eine Tasse Kaffee ordern …“

      John sah sie scharf an. „Wie meinen Sie das?“, fragte er nach einem kurzen zögerlichen Moment.

      Postel fliegt auf

      In der Zwischenzeit war Gert Postels Arbeit als selbsterfundener Dermatologe insgesamt recht angenehm und kurzweilig verlaufen. Dreimal pro Woche spritzen brachte ihm monatlich 16.000 DM. Er arbeitete eine Zeit lang auch in Thessaloniki mit Patienten, die ihren gesamten griechischen Familienanhang mitbrachten. Da »Mutti«, die Frau des Haarinstitut-Besitzers, das ölige Essen der Griechen nicht mochte und zu Hause blieb, durfte Mandy im Hotelzimmer des Chefs übernachten. Abends, nach getaner Arbeit, veranstaltete er jedes Mal mit der ganzen Belegschaft eine große Sause in gemütlichen Restaurants. Überhaupt war er hier und in Abwesenheit von »Mutti« immer sehr aufgeschlossen. Vielleicht tat Mandy dazu ihr übriges. Wahrscheinlich war es auch die phantastische Tatsache, dass hier die Einkünfte der Landessitte entsprechend als vollständig steuerfrei galten.

      Zurück in Deutschland, ließ sich einmal ein berühmter Unterhaltungskünstler in einem Hamburger First-Class-Hotel unter großer Geheimhaltung Haare implantieren. Nur wenige Haare – und auch nur an einer bestimmten Stelle seines Kopfes. Der berufsmäßige Spaßvogel blieb während der ganzen Behandlung sehr ernst.

      Medizinisch hatte sich Postel im Institut bisher nichts zuschulden kommen lassen. Er führte sogar eine spritzige Innovation ein, die die Implantation schmerzfreier und das Nachspritzen überflüssig machte. Er verdoppelte einfach das zu spritzende Anästhetikum.

      Doch heute – es ist der Tag vor der entscheidenden Wahl in der DDR – läutete sein abruptes letztes Stündlein in diesem außerordentlich lukrativen Implantations-Institut. Und das kam so: Einmal hatte der Chef im Zuge der beängstigenden Expansion seines Unternehmens einen Unternehmensberater engagiert, der nach einer Analyse der Personalkosten vorschlug, Postels Honorar dem des Dr. Warga anzugleichen. Das bedeutete de facto, dass Postel in Zukunft nur noch 9.000 Mark im Monat verdienen sollte. Nun war auch das immerhin noch eine schöne Summe Geldes, und er hätte sich damit durchaus auch abfinden können.

      Doch da war noch ein anderer Aspekt dieses Vorschlags, nämlich die darin enthaltene Abwertung von Postels Persönlichkeit. Das konnte der Hochstapler nicht verkraften. Es ist tatsächlich so, dass es mit dem Selbstbewusstsein dieser Art Persönlichkeiten nicht zum Besten bestellt ist. Ihr hochgemutes, scheinbar selbstsicheres, manchmal auch herrisches Auftreten ist nicht Ausdruck eines ebensolchen Charakters. Vielmehr ist ihr wahres Ich zuweilen kleinlaut, ängstlich und vollkommen unfähig, Aggressionen anderer länger auszuhalten. In solchem Fall blieb Postel nur die Pose des beleidigten Rückzugs. Alles andere konnte er sich nicht leisten. Zurückschlagen konnte er nur, wenn er das sichere Gefühl hatte, über genügend und über stärkere Bundesgenossen zu verfügen.

      Schon wenn er eine Situation nicht genau einschätzen konnte, zog Postel sich lieber zurück. Sein oberstes Prinzip war es, unter allen Umständen irgendwelche demütigende Situationen zu vermeiden. Einen Tag, nachdem er von den Gehaltskürzungsplänen erfahren hatte, geschah etwas, das ihn endgültig davon überzeugte, es sei klüger die Institutstätigkeit so schnell wie möglich zu beenden.

      Am frühen Vormittag wurde er gerufen, um einen Patienten lokal zu betäuben, von dem er durch einen kurzen Blick in die Patientenakte wusste, dass es sich um einen Juristen aus dem norddeutschen Raum handelte. Im Institut war es üblich, dass die Implanterinnen, bevor sie dem Arzt Bescheid sagen, den Patienten bereits auf dem Stuhl fixiert, die Kopfhaut mit Alkohol desinfiziert und das Spritzbesteck samt den Ampullen bereitgelegt haben.

      Gert Postel, angetan mit Haube, Mundschutz und Arztkitte, betrat also in Begleitung von Mandy und ihrer Kollegin den Behandlungsraum. Er sah einen Glatzkopf von hinten im Behandlungsstuhl, stellte sich halb seitlich vor ihn, ergriff seine auf der Armlehne liegende Hand, schüttelte sie und sagte: „Ich bin Dr. Postel; ich werde jetzt bei Ihnen eine lokale Betäubung durchführen. Sind Sie allergisch gegen irgendetwas?“

      Der Patient erwiderte überraschend: „Kann ich mit Ihnen einen Moment unter vier Augen sprechen?“

      Postel hatte ein ungutes Gefühl, weil ihm die Stimme irgendwie bekannt vorkam und weil der Patient ihn, den vermeintlichen Arzt, unter Weglassung des Doktortitels angesprochen hatte. Gleichwohl antwortete Postel souverän: „Unsere Mitarbeiterinnen unterliegen alle der ärztlichen Schweigepflicht, aber ich kann sie bitten, einen Moment den Raum zu verlassen.“ Ein Blick von Postel reichte und die beiden Damen verschwanden.

      Sobald sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte, sagte der Patient: „Ich habe starke allergische Reak­tionen gegen Wiederholungstäter, oder tue ich Ihnen etwa Unrecht, Herr Postel? Haben Sie vielleicht ehrlich das Abitur gemacht und Medizin studiert und promoviert und, und, und …?“

      Postel fiel es wie Schuppen von den Augen. Er hatte sich von der Berufsbezeichnung »Jurist« täuschen lassen. »Jurist« klang so neutral, so nach Syndikus-Anwalt. Aber natürlich – auch wenn man bei der Strafjustiz in Norddeutschland tätig war, konnte man ja diese Berufsbezeichnung angeben. Vor Postel auf dem Behandlungs­stuhl lag niemand anderes als Dr. Ortmann, der sich einst um die Ahndung seiner frühen Hochstapeleien gekümmert hatte. Erkannt hatte Postel ihn unter anderem deshalb nicht, weil er bislang ein Toupet getragen hatte.

      Eigentlich sollte Richtern und Staatsanwälten aus Gründen der Wahrheit das Tragen von Toupets untersagt werden, dachte Postel. Ein Berufsstand, der so stark der Wahrheitsfindung verpflichtet ist, sollte mit einer wandelnden Unwahrheit, einer ständigen Täuschung, wie sie ein Toupet nun einmal darstellt, nichts zu tun haben. Dieser Gedanke half ihm in der konkreten Situation allerdings nicht weiter.

      Postel überlegte hin und her, wer von ihnen beiden in der misslicheren Lage sei – der Staatsanwalt, fixiert auf dem Behandlungsstuhl und schon um 60.000 Mark erleichtert, auf der Suche nach einem dynamisch-jüngeren Aussehen und nun vielleicht gezwungen, die näheren Umstände von Postels Enttarnung in öffentlicher Hauptverhandlung zu bekunden. Oder er, Postel, als neu entdeckter falscher Arzt.

      Da ihm in diesem Moment sowieso alles gleichgültig war, sagte er ganz ruhig: „Nach dieser Art von Allergien habe ich nicht gefragt. Mich interessiert nur, ob Sie das von uns verwendete Anästhetikum vertragen. Ich spritze im Übrigen hervorragend und vergleichsweise schmerzfrei. Wenn Sie jedoch eine Betäubungsspritze durch unseren Herrn Dr. Warga wünschen, lässt sich das ohne weiteres arrangieren. Er stünde in fünf Minuten zur Verfügung.“

      Dr. Ortmann sah aus seiner fixierten Liegeposition leicht gequält zu Postel auf.

      Postel wich seinem Blick nicht aus. „Sie können natürlich einen Skandal machen“, sagte er, „mich anzeigen und dann vor Gericht gegen mich aussagen. Ich würde in einem Prozess sowieso schweigen und könnte Ihnen daher ein Erscheinen als Zeuge nicht ersparen. Ob Ihr Auftritt sich vor Ihrer Heimatpresse, vor Ihrer Dienststelle wirklich geheim halten ließe, kann ich selbstverständlich nicht garantieren. Immerhin haben meine Prozesse stets einige Aufmerksamkeit gefunden.“

      Da Dr. Ortmann noch immer nichts erwiderte, holte Postel nach einer kurzen Pause zum letzten Schlag aus: „Wie ich hier aus Ihren Unterlagen ersehe, haben sie heute Morgen 60.000 Deutsche Mark eingezahlt. Die Dame im Sekretariat hat schon