Neue Zeiten - 1990 etc.. Stefan Koenig

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Название Neue Zeiten - 1990 etc.
Автор произведения Stefan Koenig
Жанр Языкознание
Серия Zeitreise-Roman Band 7
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753185569



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Kanzler zu sagen hat. Sein Minister hatte ihm mit auf den Weg gegeben: „Jetzt kannste mal sehen, wie die im Westen das Ding umdrehen.“

      Als der Strom bei Kohls Rede ein paar Mal ausfällt, witzelt der West-Kanzler, das sei wahrscheinlich die Stasi. Die Menschen lachen. Und ganz zum Schluss sagt Kohl etwas Verblüffendes: „Ich kann Ihnen kein Versprechen abgeben, wie es manche tun zum Thema Währungsumstellung, weil wir mitten in Verhandlungen sind. Und weil ich es nicht mag, dass Versprechungen abgegeben wer­den vor der Wahl, die nach der Wahl nicht eingehalten werden.“

      Noch vor ein paar Tagen hat er auf einer Wahlveranstaltung in Cottbus versprochen, die Sparguthaben würden bei der Währungsunion selbstverständlich im Verhältnis 1 zu 1 umgestellt werden. Und nun das. Doch die Menschen scheinen dieses Hin und Her gar nicht zu registrieren. Ihrer ausgelassenen Stimmung tut die Kehrtwende keinen Abbruch. Schließlich sagt Kohl: „Herr Modrow wollte über 15 Milliarden, und mir wurde vorgeworfen, ich würde die Menschen aufgeben hier in der DDR, das genaue Gegenteil ist der Fall. Ich war nicht bereit, gutes Geld in ein schlechtes System zu investieren.“

      Frenetischer Jubel brandet auf, »Helmut«-Sprechchöre erheben sich. Lauter werden die Menschen an diesem Abend nicht mehr sein. Der bundesdeutsche Kanzler hat soeben verkündet, dass er die DDR die nächsten Monate ausbluten lassen wird.

      Detlef Scheunert glaubt, dass es bei den Sportpalast-Veranstaltungen in der Nazi-Zeit ähnlich gewesen sein muss. Die Menschen sind wie berauscht, sie skandieren wieder »Helmut! Helmut!« Immer wieder spricht der Kanzler sie als »liebe Landsleute« an. Landsleute, wer hätte die Ostdeutschen sonst so genannt, fragt sich Scheunert und hört Kohl sagen: „Ich bin sicher, dass wir in wenigen Jahren unter der Voraussetzung einer vernünftigen Politik hier in Leipzig, in Sachsen und überall in der DDR erleben werden, dass auch hier ein Wirtschaftswunder möglich sein wird.“

      Und dann sagt er noch: „Es stehen Tausende von Unternehmungen in der Bundesrepublik bereit, weltweit operierende Konzerne und kleine Handwerksbetriebe, hierher zu kommen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.“

      Tatsächlich sind die Konzerne schon lange da. Nicht nur die Deutsche Bank hat ihren Deal mit der Kreditbank von Edgar Most detailliert vorbereitet. Auch Siemens hat ein Büro »Verbindungsstelle DDR« in Berlin, das Dossiers über interessante Ostbetriebe führt. Der größte deutsche Elektronikhersteller konnte so bis zur Leipziger Messer bereits Verträge mit 26 ostdeutschen Unternehmen abschließen. Das Unternehmen aus München ist scharf darauf, die Lizenz zum Telefonieren zu bekommen. Die Siemens-Strategen wissen, dass die ganze Infrastruktur, die Kraftwerke, die Kommunikationsnetze in der DDR modernisiert werden müssen. Das ist das Kerngeschäft des bundesdeutschen Multis, der schon jetzt jährlich über 60 Milliarden umsetzt.

      Später wird die neue DDR-Regierung an Siemens ebenso wenig wie an den vielen anderen westdeutschen Großkonzernen vorbeikommen. Thyssen hat bereits mehrere Kooperationsverträge abgeschlossen, darunter mit dem lukrativsten Volkseigenen Betrieb der DDR, dem »Außenhandelsbetrieb Metallurgie-Handel«, der das Stahlgeschäft der DDR im Ausland abwickelt. Das Ostunternehmen verfügt über erhebliche liquide Mittel und weist einen Umsatz von 34 Milliarden Ostmark aus.

      Bereits seit Dezember 1989 sind die größten bundesdeutschen Energiekonzerne in der DDR aktiv. Um auf Nummer sicher zu gehen, haben sie die Betriebsleiter vieler VEB an Weihnachten zu privaten Feiern eingeladen. So will man sie an die zukünftig bestimmenden Partner binden. Die Preussag AG mietet Busse, mit denen sie Emissäre in den Osten schickt. Sie besuchen ein Kraftwerk nach dem anderen und versuchen, die Kraftwerksleiter auf ihre Seite zu bringen. Es startet eine einzigartige kapitalistische Missionierung.

      Derweil fahren Aufkäufer der bundesdeutschen Handelsketten durch die DDR und kaufen Großimmobilien auf. Die Realkauf-Kette lässt sich über den Generaldirektor des Kombinats »Waren des täglichen Bedarfs« die Rechte an sieben großen Immobilien in Leipzig über­schreiben. Raab Karcher, die Tochter des Energiekonzerns VEBA, sichert sich ein Exklusivrecht in den größeren Städten Mecklenburg-Vorpommerns, sodass nur Raab hier Baumärkte errichten darf.

      Die westlichen Heilsbringer nutzen das Machtvakuum schamlos aus, bevor die Wahlsieger die Situation beeinflussen können. Und bevor die Treuhandanstalt überhaupt etabliert ist.

      Unfaire Spiele, dafür alte Freunde

      Es war jetzt über zwei Monate her, dass wir den Förderantrag über rund zwei Millionen DM für unser GTU-Datenbankprojekt beim Bundesumweltministerium eingereicht hatten. In der letzten Januarwoche war ich gemeinsam mit unserem IT-Genie Dr. Comma und dem Projektleiter Dr. Schimmelreith zur Erläuterung unseres umfangreichen Förderantrages auf Wunsch des Ministerialdirektors in Bonn gewesen. Wir hatten den Antrag bereits vor Weihnachten per Post und Einschreiben dorthin gesandt. Wir waren von der zuständigen Abteilungsleiterin, Frau Dr. Schmittmann, und ihrem Mitarbeiter empfangen worden.

      Gegen Ende der dreistündigen Konsultation hatte man uns Hoffnung auf eine baldmögliche Förderung gemacht. Wir hatten bereits eine große Vorleistung erbracht. Alleine das, was wir in unserem Antrag dem Ministerium vorlegten, hatte einen Arbeitszeitwert von einer halben Million.

      Spätestens im Mai sei alles entschieden, aber wegen eines Zwischenbescheids könnten wir bereits Anfang März nachfragen. Das genau stand heute auf meiner To-Do-Liste. Ich rief bei Frau Dr. Schmittmann an. Sie wusste gleich Bescheid, worum es ging, aber mir fiel auf, dass sie sofort anfing rumzueiern. Mit einer nur annähernd dafür ausgeprägten Sensibilität spürt man an Ton­fall, Wortwahl und natürlich am Inhalt, wenn jemandem etwas unangenehm aufstößt.

      Dieser Ministerialbeamtin war es sehr unangenehm, dass ich anrief. Mir war schleierhaft, weshalb sie so schrecklich nebulös dahersprach. „Ja … gut, na, wissen Sie … also es dauert halt alles seine Zeit … aber nein, äh, da kann ich nichts dazu sagen … also wahrscheinlich …, vielleicht dauert es noch etwas, ich nehme an …“ So ging es in einem fort. Bei unserer letzten Besprechung vermochte sich die Frau noch flüssig, klug, in gewählten Worten und klar auszudrücken. Und jetzt das Gestottere, eine Aneinanderreihung von heimlichen Gewissensbissen. Zwei Monate später sollte ich den Hintergrund ihrer miserablen Sprachakrobatik verstehen.

      Danach rief ich in Berlin an. Ich ließ mich in der Telefonzentrale der »UTB, Gesellschaft für Informationstechnik, Umwelt- und Betriebsberatung« mit meiner Geschäftsführerin verbinden. Das von meinem besten Freund Jan und mir initiierte Umweltinstitut hatte seinen ersten Geschäftssitz im Westberliner Wedding unter dem Dach des Berliner Innovations- und Gründerzentrums.

      Frohen Mutes sagte ich: „Moin Katrin, wie geht es dir im neuen Job? Und wie laufen unsere Umweltinformatik-Kurse?“ Auch hier wurde mein morgendliches Weltbild von einem merkwürdigen Gestottere erschüttert. Schon dachte ich, es läge an meiner eventuell mangelnden Wahrnehmungsfähigkeit am frühen Arbeitstag. Also ließ ich mich von Katrin zu ihrem Mann weiterverbinden.

      „Moin Jan, wie steht’s, wie geht’s, altes Haus?“

      „Ach, du bist’s!“

      „Hat es dir Katrin nicht gesagt?“

      „Ach, stimmt. Na ja, bin abgelenkt gewesen. Alles klar bei dir?“

      „Ja, bis auf den Umstand, dass man mich in Bonn ziemlich kaltschnäuzig abgewimmelt hat.“

      „In Sachen Umweltdatenbank?“

      „Genau.“

      „Ach, schade.“

      Es herrschte Stille auf der anderen Seite. „Jan?“

      „Ja, ja.“

      „Was meinst du zu der Bonner Reaktion?“

      „Reaktionär.“ Jan lachte komisch.

      „Und sonst?“

      „Sonst nichts“, sagte er.

      Das war mir zu blöd. „Puhh“, stöhnte ich ins Telefon. „Etwas mehr Mitgefühl hätte mir jetzt gut getan.“

      Es entstand eine ungewöhnliche und unangenehme Pause.