Westside Blvd. - Entführung in L.A.: XXL Leseprobe. Torsten Hoppe

Читать онлайн.
Название Westside Blvd. - Entführung in L.A.: XXL Leseprobe
Автор произведения Torsten Hoppe
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847647287



Скачать книгу

Angus Riley blickte kurz auf und nickte mir zuversichtlich zu. »Noch zwei Minuten, dann steht die Verbindung.«

      Ich steckte mein Notizbuch ein und stand auf.

      »Wir können im Moment nur sehr wenig tun, Mr. Simms. Aber wenn er sich das nächste Mal meldet, dann kriegen wir ihn. Detective Riley wird bei Ihnen bleiben und alles Nötige in die Wege leiten. Wir wissen nicht, wann er wieder anruft, aber es wird immer ein Kollege hier sein. Versuchen Sie auf jeden Fall, das Gespräch in die Länge zu ziehen. Je länger es Ihnen gelingt, ihn in der Leitung zu halten, desto größer sind unsere Chancen, den Anruf zurückzuverfolgen. Wir werden inzwischen versuchen, im Umfeld Ihrer Tochter Anhaltspunkte zu finden. Mein Kollege ist gerade auf dem Weg zu Heathers Wohnung, um mit ihren Mitbewohnerinnen zu sprechen, und ich werde mich im Studio umhören, ob es dort Probleme gab. Wenn es irgendwo ein Motiv gibt, dann werden wir es erfahren. Wir melden uns bei Ihnen, sobald wir einen Hinweis haben; das verspreche ich Ihnen. Versuchen Sie, ruhig zu bleiben und sich nicht selbst verrückt zu machen. Wir finden Heather.«

      Wir gaben uns die Hand und John Simms begleitete mich zum Ausgang. Als ich wieder die Straße erreicht hatte und mich noch einmal umdrehte, sah ich, wie auch er am Fenster stand. Er hatte den Arm um seine Frau gelegt, und schien beruhigend auf sie einzureden. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie ihm wirklich zuhörte.

       Kapitel 9 (Heather Simms)

      Ich lag auf dem alten Bett und starrte die Decke an. Mit hinter dem Kopf verschränkten Händen versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen. Es waren mittlerweile mehrere Stunden vergangen, seitdem Mister Mondgesicht erfolglos versucht hatte, in sein Telefon zu sprechen. Vor meinem geistigen Auge sah ich wieder und wieder sein verkrampftes, angespanntes Gesicht und seine zuckenden Mundwinkel. Er stand wie erstarrt da. Der selbst ernannte Gehilfe Justitias hatte sämtlichen Mut verloren und in jenem Moment auf mich wie ein kleiner, unter einer Brücke ausgesetzter Junge gewirkt, der Angst vor der großen, weiten Welt hat. Das ganze selbstsichere Auftreten, das nur Minuten zuvor zusammen mit diesem wahnsinnigen Ausdruck in seinen Augen ein Bild der Bedrohung und Gefahr dargestellt hatte, war in dem Moment verschwunden, als er den Hörer gegen sein Ohr gepresst hatte. Der Rächer, der seiner eigenen Meinung nach auf den Spuren Gottes wandelte, fiel von dem selbst erbauten Podest und wurde zu einem kleinen, unbedeutenden Nichts, das hilflos dastand und die Wand anglotzte. Was für ein Freak.

      Die Angst, die mich zuvor so gnadenlos erfasst hatte, war in diesem Moment völlig verschwunden. Ich wusste jedoch beim besten Willen nicht, ob dies berechtigt war. War dieser Mann nur ein Feigling, der gerne den harten Mann spielte, oder war er wirklich so wahnsinnig und unberechenbar, wie seine Augen es vermuten ließen? Es gab allerdings auch überhaupt keinen Grund, mich durch sein misslungenes Telefongespräch in irgendeiner Form sicherer zu fühlen. Ich war noch immer eine Gefangene, die darauf angewiesen war, dass der Fremde mich mit Lebensmitteln versorgte. Vielleicht wäre er nicht in der Lage, mich zu vergewaltigen oder mit seinen bloßen Händen oder einer Waffe zu töten, aber es gab schließlich eine ganz einfache Methode mit Erfolgsgarantie, um mein Leben zu beenden: Er brauchte sich ja schließlich nur in sein Auto zu setzen und drei Wochen Urlaub zu machen; sein siebzehnjähriges Problem würde sich von ganz alleine lösen.

      Aber anscheinend ging es ja überhaupt nicht um mich. Es ging um meinen Vater. ‘Er wird für seine Taten bezahlen müssen.’ Dieser Satz ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ausgerechnet mein Vater? Ein Mann, dessen zweiter und dritter Vorname ‘Ehrlichkeit’ und ‘Rechtschaffenheit’ waren? John Simms war der mit Abstand anständigste Mann, den ich kannte. Was sollte mein Vater denn überhaupt für ein Verbrechen begangen haben? Er hatte doch schon ein schlechtes Gewissen, wenn er bei Rot über eine Ampel ging. In puncto Mut und Selbstbewusstsein war Dad ein absoluter Spießer, der immer mit dem Strom schwamm und absolut jedem Konflikt aus dem Weg ging. Früher hatte ich mich wahnsinnig oft über sein total angepasstes Verhalten aufgeregt, aber im Laufe der Zeit hatte ich auch die positiven Nebeneffekte dieses Charakterzuges zu schätzen gelernt: Er war die personifizierte Zuverlässigkeit – wahrscheinlich sein vierter Vorname.

      Nein, es konnte nicht sein, dass mein Dad ein Verbrechen begangen hatte. Klar, man sieht in einem Menschen – besonders wenn er einem nahesteht – zwar oft nur das, was man in ihm auch sehen will, aber der Sprung vom spießigen Familienvater zum Verbrecher war wie eine Reise in eine unbekannte Galaxis. So sehr konnte sich eine Tochter doch gar nicht in ihrem Vater täuschen. In Filmen entdeckten die Familien oft, dass der pedantische Vater früher ein ganz harter Hund bei der CIA oder beim FBI war, aber hier ging es schließlich um Mr. John ‘Ehrlichkeit’ ‘Rechtschaffenheit’ ‘Zuverlässigkeit’ Simms.

      Das Klacken des Schlosses riss mich aus meinen Gedanken. Ich kniff die Augen zusammen, als die Tür aufgestoßen wurde und das grelle Licht zu mir hereinfiel. Der Schatten des Mannes kam mit schnellen Schritten herein. Als er aus dem Lichtkegel heraustrat, erkannte ich sein angespanntes Gesicht. Er stellte ein Tablett auf den Tisch und drehte sich wieder um. Ohne ein Wort zu sagen, ging er auf die Tür zu.

      »Warten Sie.« Ich hatte meinen ganzen Mut zusammengenommen und mich aufrecht hingesetzt. Der Mann blieb für eine Sekunde stehen, dann drehte er sich langsam zu mir um.

      »Ich muss dringend auf die Toilette. Ich ... ich kann nicht mehr warten. Bitte ...«

      Er musterte mich mit einem durchdringenden Blick. Dann wand er sich wortlos ab und ging einfach hinaus. Die Tür fiel in ihr Schloss.

      »Herzlichen Dank«, brüllte ich aus einem Gefühl der Wut heraus, das meine Angst vorübergehend in den Hintergrund drängte. »Welche Ecke des Raumes darf ich denn als Toilette benutzen? Oder hatten Sie mehr an die Schublade der Kommode gedacht?«

      Die Tür wurde von außen wieder aufgerissen und ich fuhr erschrocken zusammen. Der mutige und vorlaute Teil in mir hatte gerade beschlossen, für unbestimmte Zeit in Urlaub zu fahren ohne eine Adresse zu hinterlassen. Zurück blieb eine ängstliche siebzehnjährige, die kurz davor war, sich in einer Mischung aus Furcht um ihr Leben und nicht auszuhaltendem Druck auf der Blase in die Hose zu machen. Oh Mann, warum konnte ich nicht einfach meine blöde Schnauze halten? Der Schatten des Mannes zeichnete sich bedrohlich im Türrahmen ab. In seiner linken Hand hielt er einen Eimer. Er kam zwei Schritte auf mich zu und stellte den Eimer ab.

      »Das muss für den Moment reichen«, sagte er. »Ich werde die Toilette für dich fertigmachen.«

      Er sah mich mit seinen dunklen, leeren Augen an und ich spürte, wie das Unbehagen in mir anstieg.

      Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und stand vom Bett auf.

      »Wie lange wollen Sie mich hier festhalten? Ich habe Ihnen doch nichts getan.«

      Der Mann starrte mich noch für einige Sekunden durchdringend an, dann drehte er sich wortlos um.

      »Was hat mein Vater Ihnen getan?« Meine Stimme klang schrill und leicht hysterisch. »Er hat doch nie etwas Unrechtes getan, wofür wollen Sie ihn bestrafen?«

      Erneut blieb der Mann stehen. Er verharrte regungslos, dann wirbelte er ruckartig herum.

      »Glaubst du wirklich, dein Vater wäre so ein Heiliger?« Die Worte klangen hart und verbittert, und ich wich eingeschüchtert zurück.

      »Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wer er wirklich ist. Ich habe das Leid gesehen, das er anderen Menschen zugefügt hat. Ich habe die Tränen geschmeckt, die seine Opfer vergossen haben; habe ihre Schmerzen gespürt, wenn er sie gequält hat. Dein Daddy wird bezahlen. Für alles.«

      Er ging mit schnellen Schritten auf den Flur hinaus und warf die Tür ins Schloss. Ich zuckte erneut zusammen. Nein, dieser Mann war nicht harmlos, er war ein fanatischer Irrer. Und er hatte es sich zum Ziel gemacht, meinen Vater für irgendetwas zu bestrafen. Was hatte Dad nur schreckliches getan? Zusammen mit der Dunkelheit kehrte auch die Furcht zurück und ließ meinen Körper erzittern. Hatte ich bisher nur Angst um mich selbst gehabt, so kam nun noch die Angst um meinen Vater dazu. Angst um den Mann, den ich als John ‘Ehrlichkeit’ ‘Rechtschaffenheit’ ‘Zuverlässigkeit’ Simms kannte und von dem man jetzt behauptete, sein zweiter Vorname sei ‘Verbrecher’.