Название | Traumgleiter |
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Автор произведения | Christian Fülling |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783748595526 |
Mit Lichthupe signalisierte sie einem kleineren Sattelschlepper, der gerade den Blinker nach links gesetzt hatte, freie Fahrt und erkannte im Rückspielgel einen dunklen Porsche 911, der mit enormer Geschwindigkeit auf sie zuraste; ebenfalls mit Lichthupe und bedrohlich nah auffahrend. Der Fahrer gestikulierte wild und schimpfte.
Die Durchschnittsgeschwindigkeit auf der linken Spur wurde stark gedrosselt. Hinter Nadine reihten sich blitzschnell Wagen an Wagen. Die Schlange wurde immer länger, der Sattelschlepper mit Anhänger neben ihr endlos ausgedehnt, ebenso ihre Nerven.
Der Porschefahrer brüllte wie ein Choleriker, und Nadine hatte das Gefühl, ihn hören zu können. Der zum Überholen ansetzende Sattelschlepper hatte indes mit seiner Fahrerkabine den Mittelstreifen überwunden. Nadine konnte die Aufregung hinter ihr verstehen, aber was sollte sie jetzt noch machen? Es war bereits zu spät.
Sie verstellte den Rückspiegel, sodass sie den Porschefahrer nicht mehr sehen musste und setzte gleichzeitig den Blinker nach rechts. Der schier endlose Sattelschlepper mit Anhänger neben ihr bremste ab. Offensichtlich amüsierte sich der Fahrer und hieß Nadines Entgegenkommen seinem Kollegen gegenüber willkommen. Dessen Wagen war derweil zur Hälfte auf der linken Spur angekommen, und Nadine konnte vor ihm einen weiteren offenen Sattelschlepper mit ausländischem Kennzeichen sehen, der dutzende meterlange Stahlrohre transportierte.
Endlich war der kleine Sattelschlepper zu dreiviertel auf der linken Spur und der große mit Anhänger weit genug hinter ihr, sodass sie auf die rechte Spur wechseln konnte. Der Porsche überholte hupend und der Fahrer brüllte sie mit ausgestrecktem Mittelfinger weiter an. Nadine versuchte, ihn zu ignorieren und griff nach einem Taschentuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Das Handy klingelte.
„Ja, hi.“
„Ich wollte mich nur erkundigen, ob alles okay ist bei dir“, tönte Borchardts Stimme aus der Freisprechanlage.
„Ja, es geht. Die Autobahn ist sehr voll. Kannst du mich bitte in ein paar Minuten noch einmal anrufen?“
„Ja klar, mach ich.“
Sie unterbrach die Verbindung und war kurz davor, in Tränen auszubrechen, als ihr der LKW hinter ihr einfiel. Sie positionierte den Rückspiegel zurück in die Ausgangsposition, konnte ihn sehen und schaltete kurz die Warnblinker ein, um sich für seine Aufmerksamkeit zu bedanken.
Unterdessen verfluchte der Porschefahrer den kleinen Sattelschlepper und die nachfolgenden Autofahrer wirkten ebenfalls genervt. Nur eine Fahrerin, die jetzt auf Nadines Höhe war - eine elegant gekleidete Dame im vorgeschrittenen Alter -, schaute sie verständnisvoll an und zwinkerte ihr zu. Endlich konnte Nadine lächeln und durchatmen. Und als sie ihren Blick wieder der netten Dame zuwandte, die kurz hinter der Spiegelung ihres Beifahrerfensters verschwunden war, gestikulierte diese hektisch. Die Spiegelung löste sich auf, und das freundliche Gesicht der Dame war zu einer panikerfüllten Fratze transformiert. Nadine folgte ihrem Blick und sah den mit Stahlrohren beladenen LKW aus der Spur kommen. Er schlängelte nach links und nach rechts, um dann mit voller Wucht zurück nach links auf den Porsche zu krachen, der chancenlos gegen die Leitplanke knallte. Seine Hinterreifen hoben ab.
Nadine schrie auf. Sie befand sich in Reaktionszeit und schaute instinktiv nach links, wo die freundliche alte Dame ungebremst in den Wagen vor ihr schmetterte und mit dem Kopf auf das Lenkrad knallte. Nadine schaute nach vorne. Der LKW schlug nach rechts aus, die Ladefläche geriet außer Kontrolle und begann, unaufhörlich hin und her zu schaukeln, sodass sich einige Stahlrohre aus ihrer Halterung lösten.
Nadine, am Ende ihrer Reaktionszeit angekommen, bremste, während der freundliche LKW Fahrer hinter ihr damit beschäftigt war, eine auf den Boden gefallene CD aufzuheben. Als er sie endlich hatte und die Katastrophe, in der er sich befand, erkannte, war es bereits zu spät. Mit gleichbleibender Geschwindigkeit raste er in Nadines Auto, bescherte ihr ein leichtes Schädelhirntrauma und schob sie unaufhaltsam nach vorne.
Nadine konnte nur noch mit ansehen, wie sich eines der Rohre vollständig löste und mit der nächsten ruckartigen Bewegung in ihre Richtung katapultiert wurde, während der LKW sie weiter nach vorne presste. Sie hatte keine Chance. Das Stahlrohr mit etwa 5 cm Durchmesser durchschmetterte die Windschutzscheibe und bohrte sich durch ihren Kopf wie ein Pfeil durch einen Apfel. Währenddessen klingelte erneut ihr Handy. Es war Borchardt.
Sechseinhalb Jahre später
Vorbereitungen
„Ich weiß nicht, ob ich ein Mann bin,
der träumt, ein Schmetterling zu sein,
oder ob ich ein Schmetterling bin,
der träumt, ein Mann zu sein.“
Dschuang Dsi,
chinesischer Philosoph und Dichter
1
„Können Sie sonst noch was sehen, hören oder riechen? Irgendetwas, das Ihnen noch nicht aufgefallen ist? Irgendwelche Personen oder Gegenstände. Lassen Sie sich Zeit. Schauen Sie sich in Ruhe um.“
„Nein, nicht wirklich“, sagte Herr Günther nach einer Weile. Seine Lider zuckten.
„Dann bleiben Sie bitte noch für einen Moment in diesem Gefühl. Nehmen Sie es noch einmal bewusst wahr und öffnen Sie dann langsam wieder Ihre Augen.“
Nach einer kurzen Weile tat der Klient, wie ihm geheißen und schaute Borchardt leicht benommen an.
„Wie geht es Ihnen jetzt?“, fragte Borchardt.
„Ich bin geschockt, dass ich wieder dasselbe Gefühl hatte wie bei meinen letzten Träumen.“
„Genau darum geht es aber, Herr Günther. So sehr der Verstand das auch leugnen möchte, Ihre gesamte Lebensproblematik hängt im Großen und Ganzen mit Ihrer damaligen Erfahrung als Siebenjähriger zusammen.“
„Ja, das wird mir jetzt so langsam bewusst. Ich hätte nie gedacht, dass unsere Träume uns so wichtige Hinweise geben.“
Borchardt lächelte. „Es ist jetzt von Bedeutung, dass Sie sich in der kommenden Woche die heutigen Erkenntnisse in Gänze vergegenwärtigen. Wenn Ihnen wirklich bewusst wird, dass der kleine Siebenjährige in Ihnen für einen Großteil Ihrer heutigen Probleme verantwortlich ist, erst dann können wir gemeinsam sicheren Kontakt zu ihm aufnehmen und einen nachhaltigen Heilungsprozess einleiten.“
Herr Günther stand auf und die beiden Männer schüttelten sich die Hände. „Dann bis nächsten Mittwoch, Herr Borchardt.“
„Ja genau, bis nächsten Mittwoch. Falls Sie Fragen haben, die bis dahin nicht auf sich warten lassen können, Sie haben meine Nummer.“
„Haben Sie vielen Dank.“
„Ich muss mich bei Ihnen bedanken für Ihr Vertrauen und Ihren Mut. Weiter so. Machen Sie’s gut!“
Herr Günther verließ den Praxisraum, und Borchardt setzte sich an seinen Schreibtisch. Er machte sich Notizen wie immer, wenn ein Klient gerade eine Sitzung verlassen hatte. Es war sein Markenzeichen, während der Sitzungen nicht mitzuschreiben, mit Ausnahme in den ersten beiden Stunden einer beginnenden Therapie. Dieses ständige Aufschreiben störte nur die Konzentration und war oft der Grund, wichtige körperliche Regungen beim Klienten zu verpassen; Regungen, die Anzeichen verdrängter Gefühle sein können. Und diese verdrängten Gefühle, so war er sich sicher, waren der Hauptschlüssel zur Heilung psychologischer