Название | Traumgleiter |
---|---|
Автор произведения | Christian Fülling |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783748595526 |
„Die Heißeste, die wir je gesehen haben“, stellte Tomas richtig.
„Die Heißeste, die unsere vier Hände gleichzeitig gespürt hatte“, schwärmte Borchardt.
„Nicht nur unsere Hände“, flüsterte Tomas angeregt.
„Tomas.“
„Ja, was Tomas?“
„Das ist fast dreißig Jahre her.“
„Ja, ist das nicht erstaunlich? Man hat ein außergewöhnliches Erlebnis und die Erinnerung daran will einfach nicht verblassen.“
„Das ist nicht erstaunlich, mein Lieber! Genauso, wie hässliche Erfahrungen ein Trauma auslösen können, können als angenehm empfundene visuell-sinnliche Erfahrungen Ähnliches im Gehirn auslösen.“
„Mit anderen Worten, wir sind traumatisiert.“
„Mein Guter, du bist traumatisiert“, feixte Borchardt.
„Sollen wir noch eins bestellen?“
„Nur ein kleines für mich.“
„D’accord.“
Tomas bestellte bei der vorbeilaufenden Servicekraft zwei kleine Helle.
„Ich trau mich gar nicht, dich zu fragen.“
„Dann lass es besser sein.“
„Möchtest du dich nicht mal… so langsam für… für eine neue Beziehung öffnen?“
„Ach Mensch, Tomas, ich dachte wirklich, wir könnten das heute sein lassen.“
„Wir haben ewig nicht darüber gesprochen. Nadine ist jetzt schon seit über sechs Jahren tot.“
„Ich weiß.“
„Und du hast seitdem keine Frau mehr gehabt.“
„Haben könnte ich jederzeit eine.“
„Ich würde mich einfach freuen, wenn du dich diesem Thema öffnen würdest.“
„Heute Vormittag, als ich eingeschlafen bin, hatte ich von ihr geträumt.“
„Ach ja, genau. Mensch, was war denn da los?“
Borchardt klärte ihn auf.
„Das kenne ich gar nicht von dir, dass du einfach einschläfst.“
Die Servicekraft brachte die beiden Hellen.
„Ja, glaubst du denn, dass der Traum eine Bedeutung hat?“
„Jeder Traum hat eine Bedeutung. Dieser jedoch will mich auf etwas hinweisen. Wann kommst du mich in Puerto de Mogán besuchen?“
„Hoffentlich das nächste Mal, wenn du da unten bist.“
„Das Klima ist so genial, dass man einfach nur da bleiben möchte“, schwärmte Borchardt.
„Ich will nicht leugnen, dass ich ein wenig neidisch bin. Da unten müsste es doch auch hübsche Frauen geben, oder?“
„Was du nicht sagst.“
„Und? Schon was in Aussicht?“
„Du gibst nicht auf, alter Haudegen, oder?“
„Wenn es um dein Wohl geht, nicht, mein Freund.“
„Wenn ich ehrlich bin, gibt es da unten eine sehr interessante einheimische, allerdings nicht aus Puerto de Mogán stammende Dame. Sie betreibt eine Konditorei mit Eiscafé direkt am Hafen.“
„Wo du gerne ein Eis und einen Kuchen zu dir nimmst?“
„Was bleibt mir anderes übrig?“
„Na dann, nichts wie ran an die Bouletten“, sagte Tomas sichtlich erfreut.
„Immer locker bleiben, mein Lieber.“
„Auch wenn wir die weibliche Natur nie wirklich verstehen werden, so brauchen wir sie dennoch, Martin.“
„Autsch, Tomas fängt an zu philosophieren“, sagte Borchardt lachend.
13
Wäre Eduard gefragt worden, dann hätte er sich gegen seine Eltern entschieden. Die beiden waren das Kaputteste, was die damalige Welt zu bieten hatte. Sie hatten sich während dieser schmierigen sadomasochistischen Low-Budget Filmproduktionen Ende der 80er Jahre kennengelernt. Sie waren die Hauptdarsteller.
Ursula war die Tochter eines Junkie-Pärchens, das, als sie zarte sieben Jahre alt war, vor ihren Augen an einer Überdosis Heroin elendig krepierte. Franz war das Kind eines miesen Hamburger Zuhälters, der eine seiner Flittchen ungeschützt mehrfach strafvergewaltigte und dann untertauchte. Das Flittchen wollte nicht abtreiben und verstarb während Franz‘ Geburt an einem Herzstillstand. Franz kam ins Waisenhaus. Ursula kam ins Waisenhaus. Sie wurde sadistisch. Er wurde masochistisch. Ihre Lebensläufe waren eine Aneinanderreihung unvorstellbarer Traumata, die von einem Albtraum zum nächsten führten und beide zusammenbringen mussten.
Franz sah in Ursula die perfekte Brücke zu seinem ausgeprägten Masochismus und seinem aufkeimenden Interesse an Sadismus. Und so trug es sich zu, dass sich beide nach dutzenden unter Einfluss von Drogencocktails gedrehten Pornofilmen und enthemmten Partys als spießbürgerliches Paar getarnt niederließen. Hier und da mal eine Produktion, falls das Geld nicht ausreichte. Hier und da mal zugeballerte Abende, um ihren seelischen Müll zu vergraben. Ansonsten ein unauffälliges Leben zu führen, um ihrer mittlerweile gemeinsamen Passion - dem Sadismus - die höchste Aufmerksamkeit zu widmen und die wohl teuflischste Idee, die je ein Mensch auf Erden hatte, zu gebären. Sie gebaren Eduard zugunsten eines Experiments: Was geschieht mit einem Menschen, den man von Geburt an bewusst psychisch misshandelt? Und nur einer konnte diese Frage beantworten: Eduard selbst.
Leider bescherte Eduard Ursula einen Kaiserschnitt. Er wollte einfach nicht geboren werden. Und dieser Kaiserschnitt war das Letzte, was passieren durfte, denn er minderte Ursulas Marktwert. Das entfachte ihre blanke Wut, was wiederum ein passender Katalysator war, das Experiment mit Nachdruck durchzuführen. Franz war empört und versprach Ursula entsprechende Konsequenzen. Und diese bekam das Neugeborene unverblümt zu spüren: kein Bett im Schlafzimmer seiner Eltern. Kein Lächeln. Kein Streicheln. Minimaler Blickkontakt. Kein Reagieren auf sein Schreien und Weinen. Stundenlanges allein lassen. Und jedes Mal, wenn Eduard in die Windeln machte, schimpfte Franz ihn brüllend aus. Ursula war begeistert. Schwere körperliche Misshandlungen waren allerdings tabu. Zum einen wollten sie keine sichtbaren Beweise hinterlassen, zum anderen war die Seele das Ziel. Daher gab es nur jede Nacht, immer wenn Eduard tief schlief, eine gezielte Backpfeife, die ihn aus dem Schlaf riss und verängstigt im dunklen Zimmer allein zurückließ.
Ja, Franz‘ und Ursulas Schöpferkräfte waren immens. Sie zogen das Ding durch - eiskalt, ohne Wenn und Aber. Und bis zum Ende seines ersten Lebensjahres hielten sie eisern an ihrer Strategie fest. Hinzu kamen die gänzlich missachteten ersten Geh- und Sprechversuche Eduards. Auch hier wandte Franz seine Beschimpfungs- und Einschüchterungsmethode an. Und die Backpfeife wurde jetzt zu jeder Schlafenszeit eingesetzt.
Die erste Hälfte des zweiten Lebensjahres verlief ähnlich. Eduard konnte zwar schon aufrecht gehen, es schien aber eher ein unterentwickeltes Daherschleichen zu sein, als ob er sich schämte, sich zu bewegen. Auch sein Sprechen wies beginnende Anzeichen einer Fehlentwicklung auf.
Und mit anderthalb Jahren zeigte Eduard erste motorische Defizite und Verhaltensauffälligkeiten. Ursula und Franz betrachteten das als Zwischenerfolg. Aber das reichte ihnen nicht. Sie ließen Eduard von da an als Zuschauer an ihren privaten sadomasochistischen Praktiken teilnehmen und verhielten sich absichtlich abartig und angsteinflößend.
Am Ende seines zweiten Lebensjahres hatte Eduard nach wie vor kein einziges Lächeln seiner Umwelt empfangen. Gelegentliche Albträume quälten ihn.