Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Bernd-Jürgen Fischer

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Название Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«
Автор произведения Bernd-Jürgen Fischer
Жанр Документальная литература
Серия Reclam Taschenbuch
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783159617954



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disparue, erst nach ihrem Tod 1986 ans Tageslicht kamen. Nicht zuletzt diese Entdeckungen ließen die Neuausgabe der Recherche durch Jean-Yves Tadié wünschenwert erscheinen.

      Die Tochter Louise Neuberger der Cousine Laure Lazarus von Prousts Mutter Jeanne (Tochter der Schwester Adèle von Jeannes Vater Nathé) heiratete 1892 den französischen Philosophen Henri Bergson, bei dessen Hochzeit Proust den Trauzeugen abgab. Proust und Bergson hatten sich bereits 1890 kennengelernt, waren aber allem Anschein nach an einem Gedankenaustausch nicht weiter interessiert, wenn auch Bergson 1904 Prousts Übersetzung von Ruskins Bible of Amiens der Académie in äußerst lobenden Tönen vorstellte. Die Mutter seiner Großmutter Adèle Weil war zudem eine Schwester der Großmutter von Valentine Peigné-Crémieux (1855–76), die mit dem erfolgreichen orientalistischen Gleyre- und Gé­rôme-Schüler Jean-Jules Lecomte du Nouÿ (1842–1923) verheiratet war, allerdings noch im Jahr der Eheschließung starb. Von du Nouÿ stammt das bekannte Porträt von Marcels Vater Adrien, das wohl nur dieser Verwandtschaft, die der Maler weiterhin pflegte, zu verdanken sein dürfte, denn ansonsten sind von ihm an Porträts nur solche seiner zweiten Frau Caroline Evrard (1851–92) bekannt. Über die Familie Weil war Proust zudem auch mit Karl Marx verschwägert, jedoch nur so weitläufig, dass er es selbst nicht wusste: eine der Ururgroßmütter von Prousts Großvater Nathé Weil war eine Schwester einer Ururgroßmutter von Karl Marx. Die Eltern der beiden Schwestern und damit die letzten gemeinsamen Vorfahren von Marcel Proust (sieben Generationen zurück) und Karl Marx (fünf Generationen zurück) waren Aaron Moïse Ezechiel Lwow (in deutschen Urkunden häufig »Lemberg« oder »Lemberger«, in französischen Urkunden meist »Levouf«; 1660–1712) und Bat Samuel Cohen (gest. 1700). Zu weiteren Details s. den Stammbaum in Kap. VIII.

      Proust besuchte zusammen mit Jacques Bizet, dem Sohn des Komponisten Georges Bizet, die Grundschule und anschließend das renommierte Lycée Condorcet im 9. Arrondissement, wo die beiden zusammen mit Daniel Halévy, dem Sohn des Librettisten Ludovic Halévy, und Robert Dreyfus einen engen Freundeskreis bildeten. Sein Lehrer Alphonse Darlu, der in der Oberstufe des Condorcet Philosophie unterrichtete und einen spiritualistischen Rationalismus vertrat, wurde von Proust außerordentlich geschätzt und dürfte einen nachhaltigen Einfluss auf ihn ausgeübt haben. Am Condorcet lernte Proust neben dem obligatorischen Latein auch Altgriechisch immerhin so weit, dass er Übersetzungen aus dem Französischen ins Altgriechische anfertigen konnte.

      Geneviève Straus, die Mutter von Jacques Bizet und Tochter des Komponisten Fromental Halévy, öffnet Proust ihren berühmten Salon und gibt ihm so Gelegenheit, bedeutende Künstler seiner Zeit zu treffen, wie ihm auch das Condorcet Gelegenheit gab, viele Sprösslinge bedeutender Familien kennenzulernen. Am Condorcet lernte Proust auch Horace Finaly kennen, der wie sein Vater, der äußerst vermögende Bankier Hugo Finaly, Finanzfachmann wurde und Proust bei seinen Geldanlagen beriet.

      In seinen späteren Schuljahren engagierte Proust sich zusammen mit seinen Freunden für verschiedene hektographierte Schülerzeitschriften mit literarischem Anspruch – Le Lundi, La Revue de seconde, La Revue lilas, La Revue verte –, die es zwar jeweils nur auf wenige Nummern brachten, aber die literarischen Interessen des Freundeskreises formten, der sich in der Folgezeit immer wieder mit ähnlichen Projekten befasste.

      Um der Wehrpflicht zu entgehen, die fünf Jahre betrug, meldete sich Proust 1889 freiwillig für ein Jahr zum Militär. Er leistete seinen Dienst in Orléans ab, nahm sich ein Zimmer und lebte nur pro forma in der Kaserne. Aufgrund seiner schwachen Gesundheit wurde er vom Morgenappell und den anstrengendsten Übungen freigestellt, wie auch später von Wehrübungen. Prousts militärische Laufbahn war vielleicht kein Gewinn für Frankreich, aber sicherlich für Proust selbst, der bei einem Diner des Präfekten des Dép. Loiret den späteren Diplomaten Robert de Billy (1869–1953) kennenlernte, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband, die sich in einem umfangreichen Briefwechsel niederschlug.

      Nach dem Militärdienst schrieb sich Proust an der juristischen Fakultät und an der École libre des sciences politiques ein, wo er zwar ausgewählte Vorlesungen mit Interesse anhörte, das Studium jedoch niemals ernstlich aufnahm: »Etwas Grauenvolleres als den Anwaltsberuf habe ich mir selbst in den Tagen meiner größten Verzweiflung nicht vorstellen können« (Brief vom 28. 9. 1893 an den Vater, Corr. I, S. 238). Immerhin besuchte er in der juristischen Fakultät die Vorlesungen von Paul Desjardins (1859–1940), der ihn auf Ruskin aufmerksam machte, und an der École libre lernte er den symbolistischen Dichter Gabriel Trarieux (1870–1940) kennen, der ihm die Bekanntschaft mit André Gide vermittelte. 1892 erwarb er sein Diplom als Lizentiat in Jura. 1894/95 hörte Proust verschiedene philosophische Vorlesungen an der Sorbonne, insbes. die von Victor Egger und von Charles Secrétan, und bestand im März 1895 seine Prüfung zum Lizentiat in Philosophie.

      Neben seinem lustlosen Studium beschäftigt sich Proust vor allem mit der Zeitschrift Le Banquet, die Ferdinand Gregh 1892 gegründet hatte und an der seine alten Schulkameraden Bizet, Halévy, Dreyfus und Robert de Flers sowie Gabriel Trarieux beteiligt waren; sie erschien ein Jahr lang, mit 8 Heften insgesamt, in denen sich jedoch bereits Studien Prousts befinden, die dann später in mehr oder weniger veränderter Form in Les Plaisirs et les Jours Eingang fanden und schon die Hand des zukünftigen Meisters spüren lassen. Dennoch fühlte sich die Redaktion bemüßigt, sich in einem Hinweis von Prousts wohlwollendem Blick auf das mondäne Leben zu distanzieren – was einigermaßen überflüssig war, denn nach dem nächsten Heft war die Kasse leer. Während dieser Zeit entwickelte sich eine enge Beziehung zwischen Proust und dem Marquis Robert de Flers (1872–1927), der in der Folgezeit Karriere als Journalist und Bühnenautor machte.

      Nach vielen unrealistischen Überlegungen hinsichtlich einer diplomatischen Laufbahn oder einer Verwaltungslaufbahn nahm Proust schließlich im Juni 1895 eine Stelle als Bibliothekar bei der bedeutenden Bibliothèque Mazarine an, sieht aber diese Stelle offenbar als eine Fortsetzung seines Studiums: »Er war der am wenigsten ›mitarbeitende‹ Mitarbeiter von allen und nahm einen Urlaub nach dem anderen« (André Maurois, À la recherche de Marcel Proust, S. 82); schließlich wurde ihm im Dezember desselben Jahres ein einjähriger Urlaub bewilligt. 1900 wurde überraschenderweise sein Fehlen bemerkt und sein Dienst beendet.

      Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs Anfang August 1914 rückten die deutschen Truppen binnen weniger Wochen bis auf wenige Kilometer an Paris heran. Proust wurde Zeuge der Bombardierung der Stadt durch Zeppeline und des Abwehrkampfes am nächtlichen Himmel. Anfang September brachte er sich dann aber doch, wie viele seiner Freunde zuvor, nach Cabourg an der normannischen Küste in Sicherheit, wo er sich an der Betreuung von Verwundeten in Hospitälern beteiligte. Dass er selbst trotz Kampfeswillen nicht kriegsverwendungsfähig war, war ihm klar, jedoch nicht der Militärbürokratie, die den dreiundvierzigjährigen Asthmatiker einziehen wollte – bis ihn 1915 zwei Militärärzte besuchten und »musterten«. Sein Bruder Robert arbeitete in Feldlazaretts, mehrere seiner engsten Freunde wie Reynaldo Hahn kämpften als Freiwillige an der Front, und die täglichen Gefallenenlisten in den Zeitungen berührten ihn unmittelbar: »durch die schreckliche Gewöhnung an die tägliche Angst hat der Krieg uns eine neue Fähigkeit verliehen, nämlich die, uns für Unbekannte leiden lassen zu können« (Brief an die Prinzessin Soutzo vom 29./30. 10. 1917; Corr. XVI, S. 272). Der Tod des nahen Freundes Robert d’Humières 1915, der ihm bei der Ruskin-Übersetzung assistiert hatte, und vor allem des angebeteten Freundes Bertrand de Fénelon schon in den ersten Kriegsmonaten, im Dezember 1914, stürzte Proust in eine tiefe Depression, die unübersehbar Ausdruck in seiner Behandlung der Weltkriegserfahrung in Le Temps retrouvé gefunden hat. Die Zusammenführung des Obszönen und des Erhabenen, die Koinzidenz von Prostitution und Heldentum in dem Orden, den Saint-Loup im Bordell verliert, das Abgleiten der Erotik in die »Dark­rooms« der Métroschächte bei Fliegerangriffen zeigen, in welch hohem Maße Proust die »Grande Guerre« als die Perversion der christlichen Zivilisation wahrgenommen hat: der Feuersturm von Sodom wird parodistisch zum Brutofen für Homosexualität verkehrt, die Selbstzerstörung des Abendlandes – wie der Erste Weltkrieg jedenfalls von Prousts Zeitgenossen wahrgenommen wurde, die vom zweiten noch nichts wussten – findet ihren metaphorischen Ausdruck in der masochistischen Flagellation Charlus’ in Jupiens Bordell.1

      Proust war bereits 1913 mit dem ersten Band der Recherche für den äußerst renommierten