Im Stillen klagte ich die Welt an. Dora Stettler

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Название Im Stillen klagte ich die Welt an
Автор произведения Dora Stettler
Жанр Зарубежная психология
Серия
Издательство Зарубежная психология
Год выпуска 0
isbn 9783038550426



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zur letzten Minute hatte ich gehofft, Mama würde sich erbarmen und uns wieder mit nach Hause nehmen. Als sie aber gegen den Zufahrtsweg geschritten war, schwand jegliche Hoffnung dahin.

      Wie angewurzelt blieb ich auf dem steinigen Vorplatz stehen. Im Geiste sah ich mein Zuhause, die Stadt mit den Laubenbogen, den Zytglogge und Papas Gartenhäuschen; ich hörte das singende Tram … Dies alles sollte ich für lange Zeit nicht mehr wiedersehn. Ich durfte nicht mehr an Mamas Hand über die Kornhausbrücke trippeln.

      Verbittert und traurig blieb ich im Hof und starrte auf die Topinamburstauden, hinter denen meine Angehörigen verschwunden waren. Ich fühlte mich verlassen; allein unter fremden Leuten auf diesem Bauerngut.

      Vom Hause her näherte sich meine neue Betreuerin, Frau Burri. Sie nahm mich an der Hand und sagte: «Komm, wir gehen jetzt auf den Hohbüehl.»

      Stumm schritt ich neben der fremden Frau einher. Sie führte mich über einen Graben und auf Waldwegen einer Anhöhe zu. Wir näherten uns einem Haus, von dem vorerst lediglich das mächtige, steile Dach erkennbar war. Dort, wo der Brunnen plätscherte, schlüpften wir unter das Riesendach.

      Der Hohbüehl war Frau Burris Elternhof. Dort wurde ich ausführlich begutachtet: «Jawohl, da hast du nun es gäbigs Meetscheli, das kann dir Kommissionen machen oder dir in der Küche zur Hand gehen», meinte die Hohbüehl-Bäuerin zu ihrer Tochter, meiner Betreuerin. Vor dem Kommissionenmachen graute mir schon jetzt. Ich fürchtete die vielen grossen Hofhunde, die einsamen Wege und den dunklen Wald, den wir durchquert hatten.

      Die Leute auf dem Hohbüehl mochten mich. Der Hohbüehl war ein grosser, alter Hof. Die Küche sehr geräumig und rabenschwarz, eine typische Rauchküche. Erst konnte ich rein nichts sehen in dieser Dunkelheit, dann musste ich immer die Augen zukneifen, weil mich der Rauch brannte. Als die Vorführ-Visite zu Ende war, mussten wir beinah im Laufschritt zurück auf die Lischenmatte, auf den Bauernhof, der künftig mein neues Zuhause sein sollte.

      Dort beschäftigte sich die Bäuerin gleich am Holzherd. Indessen schaute ich mir noch einmal meine neue Schlafstätte an: ein Holzbett mit Sprossenwänden, auf der Vorderseite eine etwas niedrigere, um bequem einsteigen zu können. Dies alles nahm ich durch einen Schleier von Tränen wahr, gegen die ich dauernd ankämpfen musste.

      Dicht neben diesem Bett befand sich eine Tür, die in die hintere Stube führte. Überrascht starrte ich in diesen Raum. Dort lagen auf einem Bett alle meine Kleider! Alles war da, auch Winterkleider. Demnach musste ich längere Zeit hier verbringen. Eine Bestätigung mehr, die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Hause zu vergraben.

      Mama hatte wirklich alles planmässig vorbereitet. Ohne dass wir etwas ahnten, hatte sie unser Hab und Gut, Puppen und etliches Spielzeug inbegriffen, schon Tage zuvor in diese abgelegene Gegend befördert. Natürlich mit Hilfe ihres Freundes Karl.

      Uns fiel bei diesem Zusammenpacken nichts Besonderes auf. Mama hatte zu diesem Zeitpunkt ohnehin den ganzen Hausrat in Kisten verstaut. Sie war im Begriff, in eine neue Wohnung im Sulgenbach-Quartier umzusiedeln. Beiläufig teilte sie uns mit, künftig werde auch Karl in diesem Haushalt leben! Für uns Kinder jedoch hatte das neue Paar offenbar keinen Platz vorgesehen.

      Als Angenommene

      Nun lebte ich also gezwungenermassen bei diesem Ehepaar auf der Lischenmatte. Kürzlich hatten sie ihren dreijährigen Sohn verloren. An was er starb, habe ich nie herausgefunden.

      Der Bauer war eher klein, breitschultrig und hatte einen schleppenden Gang. Dies zeigte sich besonders, wenn er mit dem Melkerkessel über die Bretter der Güllengrube schlarpte. Die Frau war schlank, was ihre schwarze Kleidung noch betonte. Sie hatte ein frisches Gesicht und stets rote Wangen. Ich glaubte, sie hätte sie angemalt, wie etliche Stadtfrauen es taten.

      Die beleidigte Bäuerin entgegnete empört: «Was stellst du dir eigentlich vor? Das haben wir doch nicht nötig. Für einen solchen Blödsinn hätten wir ohnehin weder Geld noch Zeit. Wir sehen nicht aus wie gebleichte Leintücher; unsere Farbe ist echt.»

      Ich lernte sehr bald, dass Stadt und Land verschiedene «Gesichter» hatten. Ein Städter war unter der Landbevölkerung leicht zu erkennen und galt als Fremdling. Umgekehrt fühlte sich ein Bauer in der Stadt deplatziert.

      In dieser Landwirtschaftsgegend hatte die Schule noch nicht begonnen; die Kinder genossen zwölf Wochen Sommerferien. Erstaunlicherweise fand ich auch meinen alten Schulsack in der hinteren Stube.

      Wo immer es ging, musste ich bei der Arbeit mithelfen. So etwa Kleeblümchen abzupfen, die bestimmt waren für den Samen im folgenden Jahr, Hühner füttern, Holz herbeitragen, Geschirr trocknen und abends den Hühnerstall schliessen. Die Arbeit, die ich nicht mochte und mir Mühe machte, war die Mithilfe bei der Kartoffelernte. Ich kniete neben dem Kratten und sortierte die so genannten «Säuer» von den Speisekartoffeln aus. Die Gefässe wollten und wollten sich nicht füllen. «Wenn du so weitermachst, gibt es keinen Ankebock zum zʼVieri», warnten sie mich.

      Von Heimweh geplagt und in Gedanken versunken, zerdrückte ich in meiner Hand eine harte Erdknolle, schaute zu, wie der Sand zwischen den Fingern auf die Erde rieselte, dann sagte ich im Flüsterton: «Ich mag gar keinen Ankebock; viel lieber möchte ich wieder nach Hause gehen.»

      Die Bauersleute antworteten nicht. Sie kehrten mir wieder den Rücken zu, schlugen den Karst in die Ackerfurchen und beförderten ganze Nester von neuen Kartoffeln ans Tageslicht. Als ich dann zur Imbisszeit die Küche betrat, richtete ich doch zuerst den Blick auf meinen Platz am Tisch. Beruhigt stellte ich fest, dass sie mir trotzdem ein Butterbrot hingelegt hatten.

      Tage und Wochen vergingen, da eröffnete mir eines Morgens Frau Burri, sie möchten noch ein weiteres Kind annehmen. Einen Buben, dreijährig. Nach diesem überraschenden Bericht wurde mir sehr bange. Ich fühlte, dass ein Neuzuzüger unweigerlich erhebliche Veränderungen in meinen nun schon gewohnten Tagesablauf bringen würde.

      Es war jedoch schon längst beschlossene Sache. Dieser Knabe, Walter mit Name, war ziemlich verwahrlost, hatte kaum Kleider und konnte nicht sprechen. Zudem hatte er einen Ausschlag auf dem Kopf. Die ganze Kopfhaut war mit Krusten bedeckt. Während des Essens sass der Kleine neben dem Bauern. Der hatte dann nichts Besseres zu tun, als dem Kind die Krusten abzukratzen. Das ging einige Tage so, bis doch die Bäuerin ihn aufforderte, diese Kratzerei am Tische zu unterlassen.

      Mein Bett neben dem Ofen wurde Walti zugewiesen. Ich konnte eine Schlafstätte in der hinteren Stube beziehen. Der gewohnte Tagesablauf hatte sich geändert. Mir wurde eine neue Aufgabe zugeteilt. Ich musste dieses Kind hüten.

      Erst versuchte ich, dem Buben einige Wörter beizubringen. Vor allem seinen Namen «Walti». Es dauerte einige Zeit, bis er wenigstens «Alti» aussprechen konnte. Auch Milch und Kaffee sollte er sagen können, verlangte Frau Burri. Aber er verwechselte oft die Buchstaben und sprach Maffee oder Filch. Das ärgerte die Bäuerin, tagelang musste er ihr Wörter nachsprechen, die sie ihm vorsagte. Was man an ihm in drei Jahren an Erziehung und Fürsorge unterlassen hatte, wollte sie ihm in zehn Tagen einpauken. So sagte er eben aus lauter Angst und völlig verwirrt immer wieder Maffee oder Filch. Als er statt seines Namens noch Malti sagte, flippte die Bäuerin aus und versetzte dem dreijährigen Buben eine Ohrfeige.

      Ich erschrak ebenso wie der Kleine. Wenn die für so etwas dreinschlägt, muss auch ich mich ganz schön in Acht nehmen, warnte ich mich selbst.

      Meine ganze Familie war nun komplett auseinander gerissen worden. Geschwister, Vater, Mutter – und was mich besonders schmerzte, war die weite Distanz zu meiner geliebten Stadt.

      Meine Schwester Elsbeth lebte schon eine gewisse Zeit im Heim nördlich von Bern. Irgend jemand hatte nun die Idee, dieses Kind auch hierher zu einem Bauern zu bringen.

      Nach Verhandlungen mit Burris waren diese einverstanden, Elisabeth, wie sie mit vollem Namen hiess, auch anzunehmen. Gegen Kostgeld natürlich, um das ging es ja in erster Linie. Darauf wurde meine Schwester aus dem Kinderheim, in welchem sie sich schon gut angepasst hatte, herausgeholt und auf die Lischenmatte gebracht.

      Damit hatte die junge Frau innert