Der Salamander. Urs Schaub

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Название Der Salamander
Автор произведения Urs Schaub
Жанр Языкознание
Серия Simon Tanner ermittelt
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919046



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      Was ich dir beschreibe, ist die hohe Kunst, das sage ich dir. Geht das nicht in deinen Schädel?

      Michel nickte.

      Doch, doch.

      Er schielte zur Frau vom Stocker, die sich gerade abwandte, sodass er ihr zugegebenermassen verlockendes Profil sehen konnte.

      Stocker warf die Hände in die Luft.

      Ich sprach von gutem Sex. Mein Gott, den kann man nicht sehen. Das kann man nur erleben. Bist du so, oder tust du gerade ein bisschen kompliziert? Das Aussehen zählt vielleicht am Anfang, wusstest du das nicht?

      Ja, ist ja gut, Stocker. Reg dich ab. Wenn bei euch wirklich alles so gut läuft wie das Geschäft, dann ist ja alles gut. Das verstehe sogar ich, stell dir vor. Ist ja sicher auch schön für dein Ego. Falls du weißt, was das ist.

      Ja, was meinst du, was du denn heute gegessen hast. Gebratenes Ego!

      Sie lachten herzhaft.

      Also, was ist das für eine Geschichte, die du mir unbedingt erzählen willst?

      In diesem Augenblick brachte Frau Stocker persönlich das Dessert und den Kaffee für Michel.

      Ich wünsche einen guten Appetit.

      Sie ging betont Hüfte schwingend in Richtung Theke. Dann wandte sie sich lächelnd noch einmal um.

      Stocker grinste übers ganze Gesicht und schaute Beifall heischend zu Michel.

      Ja, ja, Stocker. Ich habe es begriffen. So. Jetzt aber zum Dessert.

      Michel nahm einen Löffel voll und roch daran.

      Oh, das riecht ja fantastisch.

      Dann steckte er den Löffel in den Mund.

      Stocker, du bist ein Genie.

      Der Angesprochene lachte.

      Sag ich doch. Also, hör mal. Bevor ich die Geschichte erzähle, eine wichtige Frage: Verjährt Mord?

      Michel schluckte erst runter, dann wischte er sich bedächtig den Mund mit der Serviette.

      Nein, Stocker. Mord verjährt nicht. Warum? Hast du jemanden ermordet? Ich habe ausnahmsweise keine Handschellen dabei.

      Mach jetzt keine Witze, Michel. Mord verjährt also nie, sagst du?

      Ja. Genau so ist es. Mord verjährt nie.

      Michel blickte ihn an.

      Kommt jetzt die Geschichte oder was?

      Ich erzähle dir eine Geschichte von einer ziemlich ärmlichen Familie aus dem Seeland da unten. Das ist auf der anderen Seite vom Hügel. Etwa eine halbe Stunde Fahrzeit von hier. Sie waren zu Pacht auf einem kleinen Bauernhof. Der Vater hatte zu seinen besten Zeiten nie mehr als sieben Kühe. Sie pflanzten ein bisschen Gemüse, ein bisschen Kartoffeln und so weiter. Sie hatten drei Kinder, und alle hatten ständig Hunger. Die Mutter pflegte zu sagen: Wir sind zwar arm, aber anständig und zufrieden.

      Michel nickte.

      Ja, den Spruch kenne ich. Weiter.

      Direkt in unmittelbarer Nachbarschaft lag noch ein Hof, der war sogar noch kleiner. Da lebte Karst, Heinrich Karst, und zwar ganz allein. Sie nannten ihn Onkel Karst, obwohl sie nicht miteinander verwandt waren. Also, alt war er eigentlich noch nicht gewesen. Für Kinder ist jemand über dreissig alt, zumal er körperlich leicht behindert war. Er hatte es mit dem Rücken und lief etwas gekrümmt. Er war wohl früher längere Zeit im Ausland gewesen, aber die Kinder wussten nichts Genaues. Er lebte also allein und hatte weit und breit keine Familie. In dem Sinne waren sie seine Familie. Sie durften bei ihm drüben spielen, und der Vater half ihm in allem aus, als wäre der Karst sein eigener Bruder oder so. Wenn es nötig war, half er ihm im Wald oder auf dem Feld und erledigte wohl vor allem Karsts ganzen Papierkram und stritt auch mal mit der Gemeinde, wenn der Karst das Gefühl hatte, dass man ihn bescheißen wollte. Die Mutter pflegte den Karst, wenn er krank war und besorgte ihm Arzneimittel und so weiter. Kannst du dir die Situation vorstellen, Michel?

      Klar kann ich.

      Michel schleckte gerade liebevoll seinen Dessertlöffel ab, den Teller hatte er schon minutiös gesäubert.

      Mmh, mmh … diese Suppe hat aber ganz besonders gut geschmeckt … hätte meine Mutter gesagt. Sie lebt übrigens schon lange nicht mehr. Also Stocker, du kannst weitererzählen. Ich verstehe bis jetzt alles. Nur eines noch: muss ich mir die beiden Höfe in einem Dorf vorstellen, oder lagen die sozusagen alleine abseits? Vielleicht spielt es ja keine Rolle, aber ….

      Doch, doch, du hast recht, das ist nicht ganz unwichtig: Die lagen ziemlich abseits. Bis ins nächste Dorf waren es sicher zwanzig Minuten zu Fuß.

      Gut. Und wie geht es weiter? Du hast einen Mord angekündigt.

      Der kommt, sei mal nicht so ungeduldig. Willst du noch einen Kaffee?

      Michel nickte und Stocker gab seiner Frau ein Zeichen.

      Also: Eines Tages im Hochsommer fand das älteste der drei Kinder, ein Mädchen, den Karst auf dem Boden seiner Küche. Zuerst dachte sie wohl, er würde schlafen. Ab und zu hatte er nämlich einen über seinen Durst getrunken, insofern war es für das Kind nichts besonderes, ihn irgendwo am Boden zu finden. Manchmal schlief er seinen Rausch im Stall oder auch schon mal auf dem Miststock aus. Also, das kannten sie. Damit konnte man sie nicht mehr sonderlich beeindrucken. Aber da war Blut – und zwar ziemlich viel Blut. Das Mädchen hatte einen Schock. Sie lief schreiend in das Haus und alarmierte Vater und Mutter. Es dauerte allerdings eine Weile, bis sie erklären konnte, was sie gesehen hatte. Der Vater ging sofort rüber und sah, dass der Karst tot war. Er lag offensichtlich in seinem eigenen Blut. Angefasst habe er ihn nicht, sagte der Vater atemlos, als er wieder kam, er habe vielmehr einen kleinen Spiegel über seinen offenen Mund gehalten und so gesehen, dass er tot wäre. Die Mutter wollte es gar nicht erst sehen und verbot den Kindern strikte, ins Haus rüber zu gehen. Der Vater musste sich erst einmal setzen, und die Mutter hat ihm sofort die Schnapsflasche hingestellt und die Kinder in ihre Kammer im ersten Stock gescheucht. Sie hatten also nicht mitbekommen, was ihre Eltern in der Küche gemacht oder besprochen haben, aber es ging relativ lange, bis sie durch das Fenster sahen, wie der Vater mit seinem Fahrrad ins Dorf gefahren ist. Sie hatten ja kein Telefon.

      Stocker unterbrach sich einen Moment und holte tief Atem.

      Michel stutzte.

      Das ist deine Geschichte, Stocker, oder?

      Stocker nickte.

      Dieses Bild werde ich mein Leben lang nicht vergessen, nämlich wie mein Vater irgendwie geschwankt hat auf dem Fahrrad und sich sehr langsam vom Haus entfernt hat. Er fuhr über die holperige Feldstraße, die von unserem Haus ins Dorf führte, und es schien, als komme er nicht vom Fleck, obwohl er sich offensichtlich anstrengte. Wir haben unseren Vater dann wochenlang nicht mehr zu Gesicht bekommen.

      Michel stutzte.

      Warum denn das? Ist er verhaftet worden?

      Ja, genau. Aber nicht nur er, auch meine Mutter kam in Untersuchungshaft. Sie wurden beide verdächtigt, gemeinsam den Karst umgebracht zu haben. Das habe ich aber erst viele Jahre später begriffen.

      Gab es denn Hinweise?

      Wart mal, Michel. Ich erzähle der Reihe nach, sonst vergesse ich die Hälfte.

      Als unser Vater also ins Dorf gefahren war, hat uns unsere Mutter gepackt und zu ihrer Schwester gebracht, die auf einem anderen Hof wohnte, nicht weit von uns. Sie fand es besser, dass wir die ganzen Umtriebe mit der Polizei und dem toten Karst irgendwie nicht mitkriegen würden.

      Michel räusperte sich.

      Ja, gut. Das kann ich quasi aus mütterlicher Sicht sogar verstehen. Es gab zum Beispiel bei uns zu Hause vor der Haustür eine Weile Verkehrsunfälle. Es war wie verhext: genau vor unserem Haus. Als erstes hat meine Mutter mich jeweils ins hinterste Zimmer verbannt, damit ich ja nichts mitbekam. Dafür hat sich dann alles in meiner Fantasie abgespielt.