Название | Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe |
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Автор произведения | Erich Auerbach |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783772001543 |
Der Inhalt der Mimesis wie aller Schriften Auerbachs besteht zu einem Teil in einer bestimmten Blickrichtung, durch die alle Literatur in eine neue Behandlung gerückt wird und damit auch eine neue Gestalt gewinnt. Denn wenn es ihm auch fern lag, eine vollständige Geschichte des abendländischen RealismusRealismus zu schreiben, so kann seine Darstellung doch eine historische mit systematischer Absicht genannt werden. Seine Beispiele mögen beliebige sein – «weit eher nach zufälliger Begegnung als nach genauer Absicht ausgewählt» –, universal ist gleichwohl der Anspruch, daß die Grundmotive seiner Geschichte der Wirklichkeitsdarstellung «sich an jedem beliebigen realistischen Text aufweisen lassen müßten», und es ist – auch wenn der Begriff Wirklichkeit viele Empfindungen in Bewegung versetzt und mangels endgültiger Präzisierung aus dem Kontext verstanden werden muß – doch ein wesentlicher Fortschritt, daß die Mannigfaltigkeit verschiedener Wirklichkeitsdarstellungen durch neue geistige Medien erblickt wird.
Die Art, wie dies geschieht, ist jedoch keineswegs die deduktive. Es wird keinerlei Theorie oder Prinzip an die Spitze der Untersuchung gestellt. Kein Leser kommt wohl auf den Gedanken, daß die Untersuchung «Mimesis» überschrieben sein könnte,8 und man wird auch erst zum Schluß auf den Titel verwiesen. Für die Darstellung im ganzen ist charakteristisch, daß alle ihre Gedanken an eine Anschauung anknüpfen, die aus dem Eindruck einer Quelle, eines literarischen Textes hervorgeht. Denn jedes Kapitel nimmt seinen Ausgangspunkt von einem Text, der dem Leser im Original – und sofern es sich um antike oder mittelalterliche Texte handelt, im Interesse des erhofften gebildeten Publikums auch in Übersetzung – mitgeteilt wird. Diese Texte erfüllen dieselbe Funktion wie Illustrationen in einem kunsthistorischen Werk und wirken wie von der Darstellung abstreifbare, auch in sich ruhende Bilder oder Zeichnungen. Kennt man das ganze Buch, so wird man verschiedene Kapitel miteinander vergleichen, aufeinander beziehen, miteinander einen wollen, aber man kann auch jedes für sich lesen wie ein Gebilde sui generis, das lediglich aus seinem eigenen Gestaltungsprinzip heraus verstanden werden kann. Und in den Interpretationen treten die Kraft der ästhetischen Phantasie, die freie Beweglichkeit des Autors, der keinen Terminus zur Schablone erstarren läßt, sich jeder neuen Aufgabe differenzierend anpaßt und jeden Text bis in seine feinsten inhaltlichen wie stilistischen Nuancen und Abschattungen zugliedert, auf das glücklichste hervor: vergessene oder selten gelesene Texte wie Ammianus MarcellinusAmmianus Marcellinus, Gregor von ToursGregor v. Tours werden dank der stets unpolemischen, lautlosen und diskreten Meisterschaft des Autors lebendig, andere, wie PetroniusPetronius, werden nicht nur vorzüglich interpretiert, sondern mit einer Eleganz und Delikatesse in die Berliner Mundart übertragen, deren HeinseHeinse, N., hierin schwerfällig, nicht fähig gewesen wäre.
Die Gegenüberstellung des homerischenHomer und des alttestamentlichen Stils dient als Einleitung und Ausgangspunkt. Verkörpern sie doch Grundtypen, deren sachliches Widerspiel oder Korrelat man in der späteren Literatur antreffen wird. So entfernt HomerHomer auch vom Prinzip der StiltrennungStiltrennung ist – sein «idyllisch-friedlicher» RealismusRealismus bleibt doch scharf geschieden von dem tragischen des Alten TestamentsAltes Testament, in dem die «beiden Bezirke des Erhabenen und des Alltäglichen nicht nur tatsächlich ungetrennt, sondern grundsätzlich untrennbar sind». Die stiltrennende antike Literatur wird aber nicht in die Untersuchung einbezogen.9 Auerbach beginnt unmittelbar mit PetroniusPetronius, TacitusTacitus, ApuleiusApuleius und Ammianus MarcellinusAmmianus Marcellinus. Denn so verschieden auch diese Autoren sind, sie scheinen ihm doch geeint zu sein durch die Art, wie sie die niedere Welt von der höheren scheiden. Erst am Ende der antiken Kultur, in der konkreten und rohen Wiedergabe des Sinnlichen bei Gregor von Tours, wird die Umbildung vorbereitet, kraft der das genus humilegenus humile später, in der stilmischenden christlichen Literatur, nicht mehr als nachträglich und abgeleitet, sondern als objektive selbständige Kraft angesehen wird. Selbst im späten MittelalterMittelalter, besonders in Frankreich, kann die christliche Stilmischung in der Form eines Realismus wirksam sein, den Auerbach «kreatürlich» nennt. Er meint damit, exemplifizierend an Antoine de la SaleSale, A. de la, VillonVillon, F., ja sogar noch an Montaigne, einen RealismusRealismus, der, ohne seine Herkunft aus dem christlichen verleugnen zu können, sich doch vom christlichen Ordnungsgedanken emanzipiert hat: «Das irdische Leben wird weit wirksamer gegen den irdischen Verfall und gegen den irdischen Tod abgesetzt als gegen das ewige Heil.»
Demgegenüber steht die ritterliche, die höfische DichtungRoman (höfischer) unter einem andern Gesetz. Die feudale Standesethik der Chansons de gesteChanson de geste, die Sublimierung der Liebe in den Romanen Chrétiens de TroyesChrétien de Troyes bilden keine gemeinsame Beziehungsebene für Gegensätze, die im Denkraum des christlichen RealismusRealismus leicht beisammen wohnen konnten. Sie wirken wie ein Präludium jener Stiltrennung des französischen 17. Jahrhunderts, die viele Züge trägt, die der antiken und auch der höfischen Literatur eignen. Komödie und Tragödie sind hier keineswegs eine unmittelbare Ausstrahlung der Wirklichkeit. Die Personen stehen ihr vielmehr wie isoliert, kontrastierend gegenüber, losgelöst von den Gegebenheiten des täglichen und menschlich-kreatürlichen Lebens. Es ist als ob sie innerhalb der Voraussetzungen der antiken, der höfischen Literatur das Recht eines neuen Faktors erweisen wollten. Insofern eine systematische Reaktion auf RabelaisRabelais, F., MontaigneMontaigne, M. de, ShakespeareShakespeare, W., die für die zuströmende Fülle des Stoffes auch eine selbständige bewegliche Form gefunden haben, die Proportionen, Bezirke, Stile in einem perspektivischen Bewußtsein durcheinanderwirbelt, dessen freier Weiterbildung erst der HistorismusHistorismus im 19. Jahrhundert zugänglich ist. Denn nur wenige wachsen wie der in seiner Zeit isolierte Saint-SimonSaint-Simon, duc de über die Grenzen des 17. Jahrhunderts hinaus, und nur die Fragestellung eines einzigen Schriftstellers, nämlich RousseausRousseau, J. J., barg in sich den Konflikt, der im Fortgang der Entwicklung immer deutlicher die konkrete Gesellschaft zum Problem macht. Diese nicht auf Grund eines idealen Musters, sondern aus ihren eigenen historisch-ökonomischen Voraussetzungen zu begreifen, wird Aufgabe des Historismus und des modernen «realistischen» Romans von StendhalStendhal, H. und BalzacBalzac, H. de bis zu FlaubertFlaubert, G. und ZolaZola, E..
Auf einem so langen Weg hat der Autor uns in die eigene Zeit geführt, deren Wirklichkeitsdarstellung er an Stellen aus Virgina WoolfsWoolf, V. Roman To the Lighthouse und aus Marcel ProustProust, M. untersucht. Daß alles, was hier gesagt wird, durch das Medium eines spiegelnden Bewußtseins wieder erscheint, eines vielfältigen Bewußtseins, das sich frei in die Tiefe der Zeit bewegt, dies erscheint ihm als das Charakteristikum der Moderne, in der ein neues Ganzes sich bilden könnte und hinter deren Theorie und Kraft der Gestaltung ein differenziertes Gefühl für die Wirklichkeit steht, etwas Neues und Elementares, das sie über die Grenzen der frühen Literatur hinausführt: «… die Wirklichkeitsfülle und Lebenstiefe jedes Augenblicks, dem man sich absichtslos hingibt.»
Wie die einzelnen Kapitel der Mimesis und der Literatursprache, so haben auch die miteinander verbundenen Aufsätze ihren Einheitspunkt in der Entwicklung jenes perspektivischen Historismus, dessen Einwirkung Auerbach erfahren und den er – MeineckesMeinecke, F. Historismusbuch ergänzend – in der Interpretation der abendländischen Literatur neu zu begründen versucht hat. Verschiedene neue Prinzipien sind in dieser Interpretation erfaßt: die Verbindung der antiken und der modernen Literatur durch einen einmütigen Zusammenhang, Kombination der stilkritischen Analyse mit der soziologischen, Erschließung der Einheit der Wirklichkeitsauffassung in der Breite einer Periode und im Sinn des Verlaufs der geschichtlichen Entwicklung, so daß jede einzelne Erscheinung zugleich in ihrer Zeit und in ihrer Bedeutung als einem Moment im Ganzen des universalhistorischen Zusammenhangs verstanden werden konnte. Und nicht zuletzt die stets fühlbare Wechselwirkung des Interpreten