Krautrock. Henning Dedekind

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Название Krautrock
Автор произведения Henning Dedekind
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783963181399



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Lothar Stahl –

      »Wir hatten diese ganze Geschichte satt!«

      – Hans-Joachim Irmler –

      Noch Anfang 1966 dröhnen aus deutschen Übungskellern holprige Versionen von »(I Can’t Get No) Satisfaction« oder »Sweet Little Sixteen«. Andere bemühen sich in heute längst vergessenen Eigenkompositionen, dem Sound aus Übersee möglichst nahezukommen. 1967 gelingt der nach britischem Muster geformten Beat-Kapelle The Rattles mit »The Witch« sogar der erste internationale Hit aus Westdeutschland. Nach wie vor aber hängt die deutsche Rockmusik am Rockzipfel ihrer großen angelsächsischen Schwester. »Ich habe mich damals immer noch an englischen und amerikanischen Musikern orientiert«, gesteht der ehemalige Düül-Schlagzeuger Peter Leopold rückblickend.

      Viele Bands sind es jedoch leid, als zweitklassige Kopien den Samstagabend im Jugendclub zu bestreiten. »Ich glaube, wir sind die erste Generation, die das abschüttelte«, so Ralf Hütter (Kraftwerk) 1975 in einem Interview mit dem US-amerikanischen Musikjournalisten Lester Bangs. »Wir können nicht leugnen, dass wir aus Deutschland stammen, denn die deutsche Mentalität […] wird immer ein Teil unseres Benehmens sein.«

      Der britische Beat und die Rockmusik als uramerikanisches Phänomen sind zwar zweifellos auch die Wurzeln des Krautrock, andererseits zeigt jedoch gerade die amerikanische Jugendkultur der Sechziger, dass es möglich ist, sich über eine eigene Musik zu definieren und von gesellschaftlichen Fesseln zu befreien. Wie eine solche Musikkultur aussehen kann, haben die Besatzer auf deutschen Bühnen hautnah vorgemacht. »Man merkte, dass die Musiker, die man bewunderte, ihre eigene Sache verfolgten«, erzählt Roman Bunka. »Das hat natürlich dazu angespornt, sich selbst auf den Weg zu machen. In dieser Hinsicht war das auch eine klare Vorbildfunktion.«

      Münchener, Düsseldorfer und Berliner Lokalmatadoren arbeiten nun hartnäckig daran, sich von ihren übermächtigen Vorbildern abzunabeln. Doch der Wille zum Umbruch allein genügt nicht. Was fehlt, ist musikalische Orientierungshilfe. Zum Dreh- und Angelpunkt wird so die Suche nach einer Ausgangsbasis für das eigene Schaffen. Kraan-Bassist Hellmut Hattler erinnert sich noch genau an einen Nachmittag im Haus der Eltern seines Freundes Jan Fride: »Wir saßen bei Jan im Wohnzimmer. Seine Eltern besaßen so eine große Braun-Stereoanlage. Es war ein ruhiger, sonniger Nachmittag. Ich sagte, ›eigentlich sollten wir eigene Stücke spielen‹. Jan antwortete, ›wie willst du denn das machen?‹«

      Schlüsselrolle:

      Free Jazz

      »Mein Bruder Ulrich, der heute Musiklehrer ist, hat damals zu mir gesagt, ›sag mal, hörst du immer noch Dixieland?‹ Ich antwortete, ›na, und was hörst du?‹ Er sagte nur, ›Free Jazz‹. Das war ein Schlag ins Gesicht … das ging zur Sache.«

      – Peter Leopold –

      Für viele bietet der moderne Jazz neue Entfaltungsmöglichkeiten. Zur ersten Riege deutscher Jazzmusiker, die einen entscheidenden Schritt in Richtung progressiver Formen und Spielweisen wagen, gehören Mitte der Sechziger unter anderem der Pianist und Komponist Wolfgang Dauner, der Posaunist Albert Mangelsdorff und der Saxofonist Peter Brötzmann. Doch auch der Jazz, einst Synonym geistig-musikalischer Freiheit, droht in bürgerlicher Spießigkeit zu verkrusten: »Jazz ist zum Kulturgut stilisiert und damit in den Konsumprozess bürgerlicher Kunstverwalter integriert worden«, wettert der Publizist Rolf-Ulrich Kaiser 1969 in seinem Buch der neuen Pop-Musik. Der Begriff ›Jazz‹ stehe für »die Überreste einer vormals spontanen und vitalen Kreativität. Jazz hört man sich in luxuriösen oder wenigstens erhabenen Sälen an; extra dafür zubereitet, gepudert, parfümiert und frisiert wie für einen Opernbesuch.« Wie Kaiser können sich viele Fans und Musiker mit der akademischen Schlips-und-Kragen-Mentalität mancher Veranstaltungen nicht mehr identifizieren. »Die normale (Jazz-) Szene in den Sechzigern war konservativ«, sagt Christian Burchard. »Die haben gespielt, was gerade gefragt war – Standard-Jazz.«

      In »angesagten« Lokalen wie dem Ulmer Jazzkeller hingegen legt man großen Wert auf ein fortschrittliches Programm. Unter den regelmäßigen Besuchern ist auch der junge Hellmut Hattler: »Nachdem wir mit fünfzehn, sechzehn Beat und Soul abgehakt hatten, waren wir fasziniert von der Free-Jazz-Szene. Über gemäßigte Sachen wie Albert Ayler und John Coltrane haben wir uns dann in die Extreme reingehört – das war eine Zeit lang eine sehr intensive Hör- und Verarbeitungsgeschichte.«

      Wegbereitern wie Coltrane, Coleman, Eric Dolphy, Sun Ra oder Pharoah Sanders folgend, experimentieren deutsche Gruppen mit freier Tonalität, dissonanten Akkorden, neuen Spieltechniken und einer geradezu ekstatischen Intensität – und wagen sich so auf ein Terrain vor, das auch für die Jazz-Nation USA noch größtenteils Neuland ist. »Meiner Ansicht nach wurde der Free Jazz in den Clubs von Köln erfunden« sagt Hans-Joachim Irmler. »Er hat sich dann nach New York fortgepflanzt und ist später als Neuheit aus Amerika verkauft worden.« Diese These mag zwar einigermaßen gewagt klingen, doch ganz Unrecht hat der Faust-Orgler damit nicht: Während der Sechzigerjahre bildet sich ein europäischer Free Jazz heraus, an dessen Entwicklung deutsche Musiker wie Brötzmann, Gunter Hampel, Joachim Kühn, Manfred Schoof oder Alexander von Schlippenbach maßgeblich beteiligt sind.

      Der oft auch als »Avantgarde-Jazz« bezeichnete Stil bietet endlich eine Möglichkeit, der eigenen Kreativität freien Lauf zu lassen. In einer Konzertbesprechung aus dem Jahre 1969 schreibt die Ulmer Schwäbische Zeitung über die neu gegründete Veith Wolbrandt Group, aus welcher später Kraan hervorgehen soll:

      »Die Gruppe nimmt bekannte Themen und variiert sie im eigenen Arrangement zu dem Sound, den sie für richtig hält. Dabei gelingt es ihnen, den Stil der ›Kinder von Marx und Coca Cola‹ zu interpretieren. Gitarre und Querflöte simulieren Drogenrausch, unterbrochen von dem harten Schlagzeug und dem Bass. Den Melodieinstrumenten gelingt es immer wieder, eine ›verträumte‹ Atmosphäre zu schaffen.«

      Dem Free Jazz komme für die Entwicklung der deutschen Rockmusik »eine Schlüsselrolle als musikalische und soziale Revolution zu«, betont Roman Bunka. »Es war ein sehr starker Einfluss. Free Jazz war ein Mythos.« Ein Mythos, der eine sehr reale Wirkung entfaltet: Das bequem gewordene Jazzpublikum zeigt sich von den schrillen Tönen zu beiden Seiten des Atlantiks gleichermaßen schockiert. »The New Thing« ist nicht nur Musik, sondern auch lautstarker Protest einer jungen Generation gegen soziale Ungerechtigkeit und verstaubte Konventionen. Die jazzbegeisterte deutsche Jugend nimmt diesen Ansatz mit Feuereifer auf. Hellmut Hattler: »In der Jugend ist alles voller Leidenschaft … Es gab damals eine Band namens Progressive Jazz Group Ulm. Auf dem Plakat war mein entblößtes Hinterteil mit einer Zigarette drin zu sehen. Das war schon unglaublich.«

      Popmusik mit Botschaft:

      »Underground«

      Gleichzeitig mit dem Free Jazz dringt auch eine neue Popmusik an deutsche Ohren, die das musikalische und inhaltliche Format der Beat-Single sprengt. In »Kill For Peace« singen die New Yorker Fugs um den Beatnik-Poeten Tuli Kupferberg gegen den Vietnamkrieg an, Frank Zappa rüttelt an der bürgerlichen Sexualmoral und propagiert die Revolution. Diese »Underground-Musik« übt eine bislang ungekannte Faszination aus: »Sie ereignet sich innerhalb einer Gesellschaft, die dem Menschen verwehrt, über sich selbst zu verfügen«, schreibt Rolf-Ulrich Kaiser euphorisch. »Untergrund« sei die »direkte Beziehung der Musik zur politischen und sozialen Situation, in der die Gruppe agiert«.

      Die gesellschaftskritischen Textbotschaften spiegeln sich in aggressiven Gitarrenriffs und drogenschwangeren Instrumentalteilen wider. Inhalt und Form verschmelzen zu einer Einheit, die den konservativen Vorgaben der Musikindustrie zuwiderhandelt und eine eigene Sprache sucht. Resultat ist eine Musik, wie sie auch vielen deutschen Rockmusikern vorschwebt. »Irgendwann kommt eine Generation und sagt, ›Hoppla, wie lange soll diese Verarschung noch weitergehen‹«, kommentiert Othmar Schreckeneder, Betreiber von Schneeball Records, den raschen Siegeszug der »neuen Popmusik«. »Das war bei uns genau dasselbe. Es gab eine Popmusik, die war so schlimm und verlogen, dass sich niemand mehr mit ihr anfreunden konnte. Plötzlich hörte man aus irgendwelchen