Parasiten des 21. Jahrhunderts. Leopold Federmair

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Название Parasiten des 21. Jahrhunderts
Автор произведения Leopold Federmair
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701362899



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uns ein und passen uns an; und die Roboter, die Algorithmen, die Rechenmaschinen – werden auch sie sich einfühlen und sich anpassen an ihre ersten Konstrukteure? Meine Begleiter in jenem Theater in Osaka, die auch die sprachlichen Details der Darbietung im Osaka-Dialekt verstanden, fanden den Sketch übrigens ziemlich altbacken, fühlten sich aber trotzdem gut unterhalten.)

      Die Ausübung des Verstehens, auch Hermeneutik genannt, nach Gianni Vattimo die Erfahrung des Dialogs mit dem immer wieder erneuerten Ziel der Verständigung, der Übereinstimmung, steht heute, wenn ich nicht irre, nicht sehr hoch im Kurs, weder in der alltäglichen Kommunikation, die einerseits durch das konsumentenhafte Nutzen kommunikativer, feed- und filterbestückter Systeme, andererseits durch Selbstbehauptung und Selbstdarstellung geprägt ist, noch in intellektuellen oder akademischen Kreisen. Wozu nach dem Sinn fragen, wenn es doch auf die Performanz ankommt, die durch Sinnfragen nur gestört werden kann? (Aber genau das forderte Rorty: nichtnormale, störende Kommunikation, die sich selbst aufs Spiel setzt.) Harari bezeichnet die Hermeneutik frei heraus als überflüssig. „No one understands how the global economy functions or where global politics is heading. But no one needs to understand.“25 Hauptsache, die Datenströme fließen auf und zwischen den Partner- und Finanzbörsen dieser Welt; Algorithmen analysieren sie besser als Menschen und perfektionieren ihre Leistungen ständig und rasch. Aber versteckt sich hier, in den Sätzen des Historikers, nicht ein unerläßliches Quäntchen Ironie? Geht er auf Distanz zu dem, was er sagt, und versucht also doch, zu verstehen? Und wie funktionierte das Verstehen in humanistischen Zeiten (die durchaus nicht immer „menschlich“ waren)?

      Ich stürme immer noch über die Felder und durch die Wälder des Bewußtseins, wie es sich in meiner Gegenwartserinnerung gestaltet. Ich erinnere mich an komplexe Vorgänge des Durchdringens von Gegenständen und des Entdeckens, wohl auch Konstruierens von Zusammenhängen, des Trennens und neu Verbindens, des Analysierens, d. h. der schrittweisen De- und Remontage, des Drehens-und-Wendens, des Wiederzusammensetzens. Sich auf etwas einlassen, hinabsteigen in die Tiefe unter der Oberfläche, zurückgehen in die Fernen der Geschichte, vorlaufen und vorgreifen in das Kommende. Einfühlen und nachleben. Ich erinnere mich an Formeln wie „Bruder Eichmann“ (Heinar Kipphardt) und „Bruder Hitler“ (Thomas Mann), die Gemeinsamkeiten zwischen den ganz Anderen, den Bösen, und uns selbst, den vermeintlich Wohlmeinenden; der Unterscheidung und Grenzüberschreitung zwischen Gut und Böse; des Tierwerdens (wie Gregor Samsa); der Selbstentäußerung in einem höheren, umfassenderen geistlichen oder weltlichen Wesen – eine, wie uns die Geschichte lehrt, gefährliche Sache. Heute lehrt die Geschichte nichts mehr, weil sie, wenn überhaupt noch von Interesse, nur eine weitere Oberfläche ist, die man „gleichwertig“ über eine gegenwärtige oder eine beliebige andere Epochenfläche legt. Es gibt nichts mehr zu verstehen, das Wissen ist da, gespeichert, alles verfügbar, ein grenzenloser Supermarkt, das meiste darin gratis. Hauptsache, die Daten strömen. Und sie strömen, ob wir wollen oder nicht.

      Früher – ich sage es so sentimental, wie mir zumute ist – früher waren und immer noch sind mir die Dinge wichtig, die materiellen wie die immateriellen. Besonders wichtig war mir etwas, wenn ich es mir erarbeiten, erkämpfen, aneignen mußte. Ihr Wert und meine Wertschätzung wuchsen dann. In der digitalen Welt fällt einem, nicht nur mir, alles in den Schoß, und es geht nicht verloren, ist immer da in den Archiven, diesen riesigen unsichtbaren Lagerhäusern hinter dem grenzenlosen Supermarkt. Man muß sich nichts aneignen, es geht uns nichts an. Daher die unvermeidliche Bequemlichkeit, auch meine. Ein Klick, und es ist da. Noch einer, und etwas anderes ist da, an seiner Stelle. Knowledge is just a mouseclick away, ein beliebter Spruch, der sich auf alles anwenden läßt, Videoclip, Musikstück, medizinische Diagnose, Bild, Text, die gesamte Literaturgeschichte. Your unique islamic wedding invitation is just a mouseclick away, verspricht ein Artikel auf der Internetplattform 26. Kannst du alles haben und ist ebenso schnell wieder weg, verschwunden und vergessen, es gibt keine realweltlichen Lagerungsprobleme mehr. Tatsächlich sind es meist nicht die entlegenen, seltenen Dinge, die von den Usern herbeizitiert, herangeflutet werden, sondern naheliegende, bekannte, aufdringliche. Das Gesetz des Mainstreams, der unaufhaltsam wachsenden Ströme. Auch dies eine Konsequenz und Begleiterscheinung des Nicht-mehr-verstehen-Müssens.

      Neulich las ich ein Interview mit einer Soziologin, die das Klick-Verhalten auf Facebook untersucht hatte, wobei sie einen Ausschnitt gewählt hatte, irgendein Segment, einen Aspekt, den ich längst wieder vergessen habe. Bemerkenswert fand ich ihre Antwort auf die Frage, ob ihre Forschungstätigkeit ihr eigenes Verhalten beeinflusse. Ja, sagte sie, sie werde bei ihren eigenen Klick-Entscheidungen mehr als bisher berücksichtigen, ob ein Objekt, eine Seite, ein Posting viele Likes hat oder nicht, und die mit wenigen Likes vermeiden. Nach dem von ihr mit „wissenschaftlichen“ Methoden erkannten, gängigen, jedermann einleuchtenden Prinzip, daß etwas, das viele Likes hat, positiver zu bewerten sei als etwas, das nur wenige hat.26 Es muß gut sein, weil alle sagen, daß es gut ist. Wenn aber die Likes gar nicht „echt“ sind? Fälschung das tägliche Brot? Solche Fragen stellt die Soziologin nicht. Eigene Wertungsanstrengungen werden durch das reflexhafte Liken und Gelikt-Werden überflüssig. Ebenso wie Begründungen. Es gefällt mir eben, es entspricht meinem Geschmack, meinem vom Personalcomputer oder Smartphone stets bestärkten und geforderten Like-Verhalten.

      Das wäre also ein letzter Aspekt, ein vom Sturm aufgewirbeltes Blatt: Werte und wie sie in posthumanistischen Zeiten herunterkommen. Oder freundlicher gesagt: Wie sie zu Rankings, fünf Sternchen, Rot-und-Grün, Plus-oder-Minus geworden sind. Werte, die einst Verantwortung begründet haben. Hermeneutische Vorgänge, die, je nach dem, Kritik oder Affirmation hervorrufen. Das Vergnügen des Dialogs, der Verständigung. Ein weiteres wesentlich humanistisches Verhalten, das in der von Rechnern beherrschten Welt hinfällig wird. Das Reich der Notwendigkeit, das unsere Freiheit allenfalls „einsehen“, d. h. hinnehmen, akzeptieren kann und schließlich nicht einmal mehr nachvollziehen will, weil es auch ohne unser Zutun, und ohne unser Zutun besser, funktioniert und man eh nichts machen kann, hat begonnen. Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit, das war schon bei Hegel der Weisheit letzter Schluß. Perfektioniere, d. h. überwinde die Einsicht, indem du dich der Notwendigkeit – auch deines eigenen Daseins – ergibst.

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