Название | Christlich-soziale Signaturen |
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Автор произведения | Группа авторов |
Жанр | Зарубежная публицистика |
Серия | |
Издательство | Зарубежная публицистика |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783950493948 |
Man kann die Eigenverantwortung untertreiben und übertreiben. (a) Man untertreibt sie, wenn man die vollständige Daseinsvorsorge als Aufgabe des Staates festlegt – Etatismus, Paternalismus, wohlfahrtsstaatlicher Autoritarismus; Betreuungsmentalität; Unmündigmachung. (b) Man übertreibt sie, wenn man unter Bezugnahme auf pauschale Freiheitspostulate oder vermeintliche Leistungsträgerschaften Marktergebnisse nicht korrigieren will – dann befinden wir uns beim Brutalkapitalismus, nicht beim schlanken, sondern beim magersüchtigen Staat, bei der Privatisierung von gemeinschaftsnotwendiger Fürsorge. Manche nennen es „Neoliberalismus“. Im Streit der Weltsichten werden Notlagen dann als bloße Ergebnisse von Faulheit oder Disziplinmangel angesehen – Dispositionen, die im Einzelfall natürlich tatsächlich vorkommen können und deren Leugnung wiederum unrealistisch-ideologisch wäre.
Das Wesen der Sozialen Marktwirtschaft besteht darin, dass man die Kräfte der Menschen, vor allem ihre kreativen Fähigkeiten, nach Tunlichkeit wirken lässt, dass man aber die Risiken, die sich mit der Natur des Menschen und mit den Gefährdungen durch das System verbinden, abfedert und Notlagen beseitigt (Kaufmann 2004, 2019). Soziale Marktwirtschaft bedeutet also nicht nur die Beschreibung eines Regelsystems, sondern verweist auf normative Vorstellungen. Die europäische Ausprägung des Sozialstaates (oder Wohlfahrtsstaates) ist eine genuine Innovation (Becker 1994; Herder-Dorneich 1982; Kaelble/Schmid 2004; Strasser 1983). Wenn Vergleiche mit den USA angestellt werden, dann wird etwa das großartige System einer europäischen Krankenversicherung (mit all den Unterschieden in verschiedenen Ländern) immer wieder herausgestellt. Es ist kein Beispiel für gelingende Eigenverantwortung, wenn man, um die erforderliche Magenoperation zu finanzieren, sein Haus verkaufen muss.
Zwangsläufig ist immer umstritten, in welchem Ausmaß kollektive Vorkehrungen getroffen werden oder Problemlösungen dem Einzelnen überlassen werden sollten; aber das kann gerade in einer ebenso komplexen wie turbulenten spätmodernen Gesellschaft nicht anders sein. Doch das „Subsidiaritätsprinzip beruht auf der anthropologischen Prämisse, dass das Gelingen des menschlichen Lebens nicht in erster Linie vom Sozialleistungssystem abhängt, sondern von der Bereitschaft und der Fähigkeit des einzelnen Menschen, Initiativen zu ergreifen, Anstrengungen auf sich zu nehmen und Leistungen zu erbringen.“ (Spieker 2000, S. 319). Eine solche Maxime verpflichtet ein sozialstaatliches System, das Notwendige zu tun, aber sie entlastet es auch davon, alle wahrnehmbaren Probleme lösen zu müssen. Sie hat zudem eine Forderung an die Wählerschaft: „Sie gebietet auch dem Bürger, sein Verlangen nach sozialstaatlichen Leistungen zu zügeln, ständig zu überprüfen und auf Leistungen zu verzichten, die er gar nicht nötig hat oder die ihren Zweck – Hilfe zur Selbsthilfe – erreicht haben.“ (Spieker 2000, S. 321). Das richtet sich gegen die Maxime: „Herausholen, was herauszuholen ist, solange es die anderen zahlen.“
Eigenverantwortung ist nicht Egoismus
Soziale Marktwirtschaft und Sozialstaat sind europäische Errungenschaften, sodass in einigen europäischen Ländern die am wenigsten ungerechten Gesellschaften der Geschichte geschaffen wurden. Eigenverantwortung schließt keineswegs die Sensibilität für Armut und Bedürftigkeit aus, auch mit Blick auf jene, die aus eigener Kraft nicht mehr hochkommen. Sie braucht die komplementäre Komponente der Solidarität (Große Kracht 2017): Wo Eigenverantwortung der Person A nicht mehr greifen kann, muss Solidarität der Person B (bzw. eines Kollektivs) geübt werden – jede Versicherung beruht auf diesem Prinzip. Umgekehrt formuliert: Wenn es A in seiner individuellen Verantwortung nicht schafft oder schaffen kann, wird die kollektive Verantwortung, also Solidarität, aktualisiert (Bayertz 1998; Hondrich und Koch-Arzberger 1992; Prisching 2003, 2010).
Für die Übung von Solidarität gilt:
(1) Solidarität muss machbar sein. Weltferne Utopien sind wenig hilfreich. Freilich kann man sich ein Paradies vorstellen, in dem man ohne Arbeit in Reichtum lebt. Aktuelle Vorstellungen eines bedingungslosen Grundeinkommens sind Beispiele (Eicker-Wolf 2013). Aber das gehört in eine fiktive Welt, die den Einzelnen von jeder Verantwortung entlastet.
(2) Solidarität muss so geartet sein, dass sie an der Natur der Menschen nicht scheitert. Die Imagination der „neuen Menschen“ knüpft meist an rousseauistische Vorstellungen an: Der Mensch ist an sich gut; er ist durch die Zivilisation (durch den Kapitalismus) verdorben worden; und wenn erst ein neues Ambiente geschaffen ist, wird er wieder gut sein und sich ganz anders verhalten als die derzeit empirisch sich vorfindlichen Menschen. Das sind unbegründete Träume. Wir haben es mit konkreten Menschen – und ihren guten und bösen Eigenschaften – zu tun. Das ist Anthropologie, nicht Sozialpolitik.
(3) Solidarität muss nicht bis zur Selbstaufgabe führen, im Dienste der Beseitigung des Elends auf der ganzen Welt. Freilich ist es moralisch geboten, den eigenen Überschuss zu verwenden, um Menschen in Not zu unterstützen. Das aber lässt sich auf konkrete Fälle herunterbrechen: Darf man sich ein (billiges) Auto kaufen, wenn man mit demselben Geld ein paar Dutzend Menschenleben in Zentralafrika retten könnte? Darf man ein Schnitzel verzehren, wenn man mit demselben Geld einen Menschen vor der Blindheit bewahren könnte? Bei solcher Zuspitzung wäre es geboten, das Leben aller Europäer auf das Existenzminimum zu reduzieren, um eine globale Umschichtung vorzunehmen. Jeder Kinobesuch wäre Sünde. Es gibt aber wohl eine (räumlich) abgestufte Verantwortung, und diese ist mit gängigen Gerechtigkeitsgefühlen verträglich. Das ist auch auf Migrationsprobleme anwendbar. Wenn man die ethische Latte so hoch legt, dass man sie nur durch den eigenen Ruin erreichen kann, ist das weder lebenspraktisch noch ethisch sinnvoll.8
Dennoch gilt auch wieder: Freiheit stabilisiert sich nicht nur durch Institutionen. Sie braucht ein Substrat an Gesinnung, und das bei jedem Einzelnen: Respekt dem Nächsten gegenüber, in seiner Würde, auch wenn er in dieser oder jener Hinsicht – ethnisch, habituell, sexuell – ein wenig „anders“ sein mag (Etzioni 1994; Sen 2002). Ein wohlverstandenes, moralisch akzeptables Selbstinteresse entbindet nicht von jeder Verantwortung. Vielmehr gelten Verpflichtungen: über niemanden einfach drüberfahren in der Berufung auf die „Wahrheit“ (wie alle linken und rechten Dogmatiker), im Dienst einer höheren (allenfalls religiösen) Ordnung oder zugunsten einer besseren Zukunft (unter Opferung der Gegenwartsgeneration).
Eigenverantwortung gilt für unterschiedliche institutionelle Ebenen
Die Handlungsreichweite der Menschen hat sich erweitert: von Nachbarschaften und Städten über Regionen und Nationen bis zu Europa und der Welt. Die zeitweise betonte politische Einheit, der Nationalstaat, ist längst auch Teil eines politisch-administrativen Mehrebenensystems geworden. Wir haben es mit dem weiten Feld von Subsidiarität und Zentralität, Lokalismus und Kosmopolitismus, Föderalismus und Einheitlichkeit zu tun; aber auch mit der Logik von verhaltensbestimmenden Systemen. Die Theoretiker des Marktversagens stellen immer wieder heraus, dass eine ungenügende Definition von Eigentumsrechten die Eigenverantwortung beseitigt, weil die negativen Konsequenzen individuellen Handelns eine Gemeinschaft (ein Kollektiv) trägt. Allmende-Probleme unterhöhlen die Eigenverantwortung. Damit ist es dem Einzelnen gestattet, „unverantwortlich“ zu sein für das Ganze. Regelsysteme sollen tunlichst Freerider- beziehungsweise Gefangenendilemma-Situationen vermeiden, denn die Berufung auf die Eigenverantwortung der Akteure (im Sinne einer Forcierung von Moral zulasten des Eigeninteresses) scheint nicht hinreichend zu funktionieren.
(a) Dass die Staaten für die Aufrechterhaltung „nachhaltiger Meere“ verantwortlich sind, würden die meisten befürworten, doch bislang hat dies zu keinen ausreichenden Konsequenzen geführt. Die Klimapolitik ist generell ein gutes Beispiel dafür, dass die Eigenverantwortung sich nicht selten der Eigensucht beugt; denn die Forderungen