Robins Garten. Marc Späni

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Название Robins Garten
Автор произведения Marc Späni
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858301949



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das sich Florian in den zwei Jahren, seit er hier arbeitete, kein einziges Mal hatte entgehen lassen.

      «Und, schon was Spannendes gesehen?», fragte Charly mit gespieltem Ernst.

      Florian schüttelte den Kopf, ohne den Blick vom hell erleuchteten Fenster zu nehmen.

      Sein Teamchef konnte nicht verstehen, warum er für jede Umschaltung drei Etagen nach unten fuhr und zehn Minuten seiner Pausenzeit opfert, schliesslich war die ganze Karte der Nordostschweiz, mit viel besseren Navigations- und Such-Tools versehen auch im Internet einsehbar, zudem konnten sich die Sachbearbeiter über Auf- und Abstufungen von Parzellen in der internen Datenbank informieren. Aber Florian liebte diesen Moment, auch wenn er nach 12.00 Uhr meistens keinen Unterschied erkennen konnte.

      Der Zwanzigjährige hatte zwar nicht direkt mit der Gestaltung der Karte zu tun, dafür waren die PR- und die grafische Abteilung zuständig, er war nur einer von Hunderten von Sachbearbeitern, welche die Daten, Analysen und Einschätzungen verarbeiteten, auf deren Basis der Hauptcomputer für jede Parzelle in der Nordostschweiz über Auf-, Abstufung oder Beibehaltung der Einstufung entschied, ohne dass Mitarbeiter wie er in die komplexen Berechnungsabläufe Einblick hatten. Dies hatten nur die Versicherungsmathematiker höherer Stufen, die wiederum von den Geschichten nichts wussten, die hinter den Zahlen standen.

      Erst einige Sekunden nach 12.00 Uhr löste Florian den Blick vom Bildschirm. Er hatte nichts sehen können, wie meistens. Zu gering waren die Anpassungen, zu gross das kartographierte Gebiet. Erst ein einziges Mal hatte er mitverfolgen können, wie sich vor seinen Augen um 12.00 Uhr eine Parzelle verfärbt hatte – was ihm über eine Woche lang ein besonders Glücksgefühl beschert hatte, und zudem die irrige Vorstellung, dies sei ein Zeichen, dass ihm weiteres Glück bevorstehe.

      Charly war einige Schritte weitergegangen, drehte sich dann aber nochmals um. «Bist du am Nachmittag noch da?», fragte er über die Schulter.

      «Nein, ich nehme heute meinen freien Halbtag.»

      Der Teamleiter nickte und ging.

      Florian musste am Nachmittag zu seiner Grossmutter, die in einer Altersresidenz wohnte, über eine Stunde mit S-Bahn und Postbus Richtung Voralpen. Da seine Mutter sich vor einem halben Jahr in klösterliche Isolation begeben hatte, um einmal mehr den Verlust des Vaters endgültig zu überwinden, und sich Moritz erfolgreich mit Kinderbetreuung und Familienpflichten zu entschuldigen pflegte, blieb dieser Besuch an ihm hängen. Diesmal hatte die alte Dame nicht zuerst den älteren Bruder, sondern direkt Florian angerufen, und er hoffte, dass es nicht zur Gewohnheit werden würde. Für seine freien Halbtage hatte er ganz andere Pläne, und wenn es nur war, im Café der Shopping Mall unter seiner Wohnüberbauung Grüntee zu trinken und in einem Magazin über Modellschiffbau zu blättern.

      Er musste über eine Reihe von Kinderwägen steigen, um in den Sitzbereich des S-Bahnwagens zu gelangen, wo er, eingezwängt zwischen jungen Vätern und Müttern, quengelnden Kleinkindern und Seniorengruppen schliesslich einen Platz fand. Über den Bildschirm an der Wagendecke liefen abwechslungsweise Werbefilme und Nachrichten. Florian war eine halbe Stunde früher als geplant. Er wollte nur schnell Grossmutters Aufträge abholen und dann endlich wieder einmal bei Robin Fahrni vorbeischauen, der ganz in der Nähe der Seniorenresidenz seinen Hof hatte. Er hatte den Landwirt und Leiter der Freien Interessengemeinschaft für Grenzwissenschaften und Spiritualität schon Jahre nicht mehr gesehen und freute sich auf einen Tee in der Ruhe des japanischen Gartens. Es war 14.38 Uhr, als sich der Zug in Bewegung setzte, aus dem Nebenbahnhof heraus, vorbei an den hohen Verwaltungsgebäuden beim Güterbahnhof und ins Dunkel des Kehrtunnels, der die rund hundert Meter bis ins Riethüsli überwand, von wo aus die Bahn der Kantonsstrasse ins Appenzellische folgte.

      Am Bildschirm las Florian, dass in der Zone erneut ein Haus überfallen und mit Gewehren beschossen worden war, allerdings ohne dass jemand verletzt worden wäre.

      Das war seltsam! Vor allem in der Zone, wo nur noch wenige Leute lebten, die bewusst auf die Vorzüge des modernen Stadtnetzes verzichteten und weitgehend auf sich allein gestellt ihren Alltag bewältigten. Gut, da waren noch die Reichen in ihren Landhäusern, aber deren Grundstücke waren hermetisch abgeriegelt, und eine solche Villa hatten die Heckenschützen nie angegriffen.

      Die S-Bahn fuhr grösstenteils unter der Erde. Wo das Trassee zwischendurch kurz an die Oberfläche kam, sah man spielende Kinder und Familien in den Grünzonen der Grossüberbauungen. Gelbe Schilder markierten das Ende des Wohngebiets und den Beginn der Zone, dem Gebiet ohne Versicherungsschutz, in dem sich die Natur langsam, aber sicher ihren Platz zurückeroberte. Verlassene Höfe, ja ganze leerstehende Dörfer wurden Meter für Meter von schnellwachsenden Heidepflanzen überwuchert und von einheimischen Tieren besiedelt, die man ausgestorben geglaubt hatte. Die wenigen bewohnten Flächen bildeten kleine oder grössere Oasen in dieser neuen Wildnis, von alteingesessenen Bauern mit altem Gerät mühsam freigekämpft oder von vollautomatischen Mährobotern systematisch in Spielwiesen, grosszügige Gartenanlagen oder Golfplätze verwandelt. Die Älteren erzählten gerne von der Zeit, als es die Trennung in Stadtnetz und Zone noch nicht gegeben hatte und man sich überall frei bewegen konnte. Erlitt man zu jener Zeit eine Panne oder einen Unfall, konnte man von überall her Hilfe anfordern, was unter Umständen sehr lange dauern konnte. Mit der Versicherung war alles einfacher geworden: Innerhalb des Netzes städtischer Infrastruktur hatte jeder Versicherte Anrecht auf Rettung durch die Rettungskräfte der Versicherung, wofür er je nach Einstufung seines Grundstücks mehr oder weniger bezahlte. Schafften es die Rettungskräfte einmal nicht, in der festgelegten Frist von nur wenigen Minuten vor Ort zu sein, riskierte die Versicherung eine Klage und hohe Entschädigungszahlungen. Das System war gut und gerecht, oder zumindest insofern neutral, als Rechner über die Einstufung entschieden und nicht Menschen, zudem bot es einem etwas vom Wichtigsten im modernen Leben: Sicherheit. Kein Wunder, dass nach und nach die Leute vom Land weg ins Stadtgebiet zogen und auch neue Landwirtschaftsgebiete in dieses integriert wurden. Der Boden ausserhalb der Versicherungsschutzzone verlor innert weniger Jahrzehnte seinen Wert, was den Prozess der Entsiedelung noch beschleunigte. Für Florian war das Geschichte. Solange er sich zurückerinnern konnte, hörte seine Welt bei den gelben Warntafeln auf. Was dahinter lag, war mit Angst und Unsicherheit konnotiert und konnte deshalb auch getrost in seiner Erfahrungswelt fehlen.

      Die S-Bahnstrecke führte nur bis zu den Fünf Dörfern, einem Komplex aus fünf neuen Megaüberbauungen mit autonomem Wohnkonzept. Die Station war ein grauer Betonwürfel, dem die Architekten nicht einmal Fenster gegeben hatten, dafür eine auf die Aussenwand projizierte grosse Digitaluhr, die 15:19 Uhr anzeigte. Florian hatte zwanzig Minuten Aufenthalt, weil die Fahrpläne der S-Bahn und des Kleinbusses, der ihn zur Residenz bringen sollte, nicht aufeinander abgestimmt waren. Überhaupt fuhren die Kurse nur, wenn man sich vorher per Handy anmeldete.

      Er setzte sich auf eine Bank, einen Betonquader an der Rückseite des Stationsgebäudes, und blickte auf den leeren Gehsteig. Im Schatten war es angenehm kühl. Eine Frau mit einem Dreierkinderwagen ging vorbei, später zwei Senioren mit motorisierten Gehhilfen, anschliessend fuhr ein Elektroauto der Spitex vorbei. Florian gähnte und streckte die Beine aus.

      Nach einer Weile kam der Bus. Die Strasse führte zunächst in grosszügigen Serpentinen den Hang hoch. Florian war der einzige Fahrgast, sodass der Bus wenigstens nicht in jedes Seitental fuhr, in das sich die Versicherungszone in immer dünneren Verästelungen zog. Anfänglich waren links und rechts Häuser und Siedlungen zu sehen, dann, als die Strasse ein Plateau erreichte, lag auf beiden Seiten nur die Zone, hinter Maschendrahtzaun, der nur an wenigen Stellen unterbrochen und mit gelben Warntafeln versehen war.

      Die Residenz war ein wuchtiger, dunkler Kasten aus den Anfängen des Kurtourismus Ende des 19. Jahrhunderts, auf mehreren Seiten durch unauffällige Neubauten erweitert. Ein halbes Einfamilienhaus, dessen andere Hälfte abgerissen und durch eine nackte, graue Wand ersetzt worden war, ragte wie eine Kriegsruine schräg hinter der Residenz auf.

      Die Neuenburger Uhr im Zimmer des toten Erwin Gadze hatte bereits vier Mal geschlagen, als Florian Walpen aus dem Bus und in die Eingangshalle mit den marmornen Treppen trat. Vor rund einer Stunde hatte eine junge Ärztin den Toten gefunden, als sie ihn zur Ergotherapie abholen wollte. Der zugezogene Residenzarzt hatte eine halbe Stunde später den Tod festgestellt, und nun lag Erwin Gadze