Im Grunde war Dom Ruiz de Retortilla, der Stadtkommandant von Havanna, ein feiger Mann, der seinen Mangel an Mut hinter herrischem Gehabe und forschem Auftreten verbarg. Aber den deutschen Kaufherrn Arne von Manteuffel konnte er damit nicht beeindrucken, als er verlangte, dessen Handelshaus nach einem Frauenmörder durchsuchen zu müssen. Der reagierte nämlich mit einer Duell-Forderung wegen Beleidigung, und da stand der Stadtkommandant ziemlich dumm da, vor allem, weil er jetzt seine Gardisten nicht vorschicken konnte, die heraushalten würden, weil sie ein Ehrenhändel nichts anging. Dem sehr ehrenwerten Don Ruiz wurde der Kragen eng, denn das war klar: Ein Duell mit Blankwaffen gegen den kraftvollen Deutschen würde er nicht überstehen…
Capitan Roca, der Militärbefehlshaber von Havanna auf Cuba, kannte nur noch ein Ziel: die totale und endgültige Vernichtung der Seewölfe. Er war ein harter und zäher Mann, ein Kämpfer, der eins niemals tun würde: die Flagge zu streichen. Aber dann mußte er doch kapitulieren – nicht vor dem Feind, sondern vor dem Höllenriff der Schlangen-Insel…
Sie war der Gottheit des Flusses geopfert worden, die kleine, hübsche Chinesin mit dem klingenden Namen «Flüssiges Licht im beginnenden Sommer». Aber sie lebte, weil der Gott sie verschmäht hatte. Sie trieb auf einem Bambusfloß, das der Fluß ins Meer geschwemmt hatte. So wurde sie von den Seewölfen gefunden und an Bord der «Isabella» genommen. Was für ein Juwel sie war, begriff Philip Hasard Killigrew erst, als sie zu sprechen begann, denn sie sprach die portugiesische Sprache – und das konnte für die Seewölfe lebensrettend sein in dem fremden, unheimlichen Land des Großen Chan…
An Deck war alles ruhig, nichts knackte und knisterte mehr. Der Mond schien bleich auf die Wüste nieder, der Sandsturm hatte sich verabschiedet, und es war fast unwahrscheinlich, daß er noch vor ein paar Minuten mit unvorstellbarer Heftigkeit getobt hatte. Der Fockmast stand wie ein riesiger, schwarzer Leichenfinger an Deck. Er trug keine einzige Rah mehr. Der halb nach vorn gestürzte Großmast hatte ihm die Spieren abgeschlagen, alle mit einem einzigen, gewaltigen Hieb. Ein Teil der Back war völlig zertrümmert, das Schanzkleid zerschlagen. Einzelne Teile hatte der Sturm über eine weite Fläche gewirbelt, bis weit in die Wüste hinein. Das war nicht mehr ihr Schiff, das war nur noch Kleinholz…
Der Alte nahm den Schlüssel, den er um den Hals trug, beugte sich vor und öffnete das geschmiedete große Schloß seiner Seemannskiste. Die Seewölfe standen mit neugierigen Augen um ihn herum. Seekisten hatten seit je etwas Geheimnisvolles an sich. Immerhin hatte das Ding ein beträchtliches Gewicht, fast so, als befänden sich Goldbarren darin. Als der Deckel zurückschlug und der Inhalt sichtbar wurde, gab es betroffene Gesichter an Deck der «Isabella». Der Alte blinzelte ungläubig, zuckte zurück, beugte sich wieder vor und warf einen zweiten Blick hinein. Dann schüttelte er fassungslos den Kopf…
Die Entfernung zu den drei Langbooten mit den etwa vier Dutzend Kriegern an Bord betrug noch eine knappe Kabellänge, als der Häuptling einen Befehl rief. Da standen alle Krieger in einer einzigen fließenden Bewegung auf und griffen nach ihren Bogen. Einen Lidschlag später flog ein Pfeilhagel heran und spickte die Bordwand der «Santa Barbara», die unbeirrbar auf ihrem Kurs blieb. Als der nächste Pfeilhagel heranraste, gab Philip Hasard Killigrew den Feuerbefehl für die Drehbassen auf der Back der Galeone. Carberry und Al Conroy zündeten, und schon fegte der Blei- und Eisenhagel über das Wasser. Die Wirkung war verheerend…
Die Kerls an den Drehbassen reagierten, als sie bemerkten, daß nicht alles so klappte, wie sie das gewohnt waren, wenn sie ein Schiffchen ausnahmen. Der eine stürzte mit wildem Gebrüll auf die Drehbasse zu. Er gelangte nur drei Schritt weit. Dann stoppte ihn eine Faust. Die brettharte Rechte Roger Brightons krachte ihm so unters Kinn, daß er sich auf die Zehenspitzen erhob, rücklings aufs Schanzkleid fiel und über Bord ging. Der zweite Drehbassenschütze wollte ebenfalls seinen Mut beweisen. Aber darauf hatten Al Conroy und Matt Davies nur gewartet. Ein Treffer Al Conroys ließ den Kerl auf Matt Davies zutorkeln. Matt langte mit seinem eisernen Haken zu. Ein kurzer Ruck in den Gürtel der Hose, und der Kerl flog mit einem brüllenden Schrei ebenfalls über Bord…
Die «Empress of Sea» lag feuerbereit im Sichtschutz der Insel auf der Lauer. Als das Floß mit den sechs Kerlen auftauchte, segelte die Karavelle ihnen entgegen. Das Floß war langsam und schwerfällig. Der Kerl am achteren Riemenruder hielt stur Kurs auf die Insel, wo Old Donegals Mannen Fackeln am Strand entzündet hatten, um die Kerle zu täuschen. Und jetzt war es soweit: Old Donegal gab Feuererlaubnis. Zwei Drehbassenschüsse fetzten in das Floß und rissen es auseinander. Holz splitterte, Kerle stürzten brüllend ins Wasser. Ein dritter Schuß folgte und erhellte blitzartig die Nacht. Der Blei- und Eisenhagel raste über das Wasser. Vom Floß blieben nur noch Trümmer…
Ben Brighton nahm den Kieker zur Hand und betrachtete die fünf Schiffe, die von Norden her aufgetaucht waren – vier Kriegsgaleonen und eine Karavelle. Ein Schiff nach dem anderen nahm er ins Okular. Bei dem letzten, der Karavelle, fiel ihm fast der Kieker aus der Hand. Verdammt, diesen Dreimaster kannte er doch! Und wie er ihn kannte! Das war der Kahn von dem alten Schlitzohr Sir John, den er vor zwei Jahren mit der Sambuke westlich von Plymouth verfolgt hatte. Ja, daran gab es gar keinen Zweiffel, es war die «Lady Anne», denn er selbst hatte das Schiff nach Plymouth zurückgesegelt, nachdem es von den Arwenacks geentert worden war. Dan O´Flynns scharfe Augen aber sahen noch mehr, denn auf dem Flaggschiff des Verbandes entdeckte er zwei bekannte Gestalten, deren Anblick bei ihm die Galle hochsteigen ließ…
Die Arwenacks starrten auf das grausige Bild, das sich ihren Blicken bot. In den schroffen Klippen hing eine dreimastige, tief geladene Galeone, wüst ramponiert und auf der Seite liegend, aber noch von den Riffen gehalten. Und da war eine Schebecke, die sich ihr näherte, um sie auszuplündern. Am Bug der Schebecke stand ein uralter Kerl, ein Methusalem, mit der Visage eines greisen Teufels. Der bösartige Alte hatte eine Muskete auf die Gabelstütze gelegt und zielte mit der Waffe auf die im Wasser treibenden Männer, die sich gegen den heimtückischen Schützen nicht wehren konnten. Bei diesem Anblick wurde das Gesicht des Seewolfs kantig, und seine Gesichtsfarbe begann sich rötlich zu verfärben…