In Roy Wagners anthropologischem Ansatz ist das Unausgesprochene, Ungehörte, Unbekannte genauso wichtig wie das Vorhandene. Das Nicht-Anwesende, von Wagner als »Anti-Zwilling« bezeichnet, ist wesentlich für die Entstehung von Kultur und ihre Erforschung. In diesem Notizbuch schafft Mariana Castillo Deball eine Kommunikation auf doppelter Ebene mit einem Auszug aus Wagners Texten. Auf der einen Ebene entfaltet sich die Konversation zwischen Wagner und Kojote, seinem Anti-Zwilling, der das Abwesende ausspricht und den Äußerungen Wagners entgegenhält. Auf der anderen begleiten und kommentieren die filigranen Zeichnungen der Künstlerin – der mexikanischen Folklore nahestehende Fantasiefiguren und -gebilde, die sie eigens für dieses Notizbuch angefertigt hat – Wagners Text. Mariana Castillo Deball (*1975) ist Künstlerin und lebt in Berlin und Amsterdam. Roy Wagner (*1938) ist Professor am Department of Anthropology der University of Virginia. Sprache: Deutsch/Englisch
In einem Brief an Bettina Funcke, Leiterin der Publikationsabteilung der dOCUMENTA (13), verwebt der in New York lebende Dichter Kenneth Goldsmith (*1961) verschiedene Stränge seiner künstlerischen Tätigkeit zum Gesamtbild seines Schaffens. Am Anfang steht dabei das von ihm 1996 gegründete Online-Archiv UbuWeb: eine nichtkommerzielle Plattform, auf der er sonst meist schwer zugängliches Material aus allen Bereichen der avantgardistischen künstlerischen Produktion (u. a. Dichtung, Film, Video und Sound) zur Verfügung stellt. Die Beschreibungen seiner Arbeit an UbuWeb sowie als Autor (der bereits existierende Text abtippt), als Moderator einer wöchentlichen Radiosendung (der Musiklisten anderer DJs und Texte von Bloggern abliest) und als Professor für englische Literatur (der unkreatives Schreiben unterrichtet) verdichten sich im Zusammenspiel mit theoretischen und poetischen Einschüben zu einer komplexen Reflexion über Dichtung unter dem Einfluss der Appropriation.
In der zweiten Ausgabe seines Buchs (Vampires): An Uneasy Essay on the Undead in Film (2003) bemerkt Jalal Toufic: »Viele Jahre habe ich mich mit Schizophrenie und Schizophrenen beschäftigt, die in Credits Included: A Video in Red and Green, 1995, auftraten; jetzt interessiere ich mich für ›das kleine Mädchen‹, das voraussichtlich in meinem kommenden Vampir-Film eine Rolle spielen wird … Auf einer Ebene kann die 13. Serie in Gilles Deleuze’ Logik des Sinns, 1969, ›Der Schizophrene und das kleine Mädchen‹, so zurückblickend als Programm für zehn Jahre meiner Arbeit gesehen werden.« In seinem neuen Essay schreibt er über das Bildnis des pubertierenden Mädchens, wie es auch in Poes »Das ovale Porträt« erscheint. »Beim gelungenen Bildnis eines jungen Mädchens handelt es sich nicht um einen Übergangsritus, sondern um einen Nichtübergangsritus; nicht der Übergang, bei dem es sich (zumindest in historischen Gesellschaften) um den Naturzustand handelt, macht einen Ritus erforderlich, sondern der Nichtübergang, der radikale Unterschied zwischen dem Vorher, in diesem Fall einem jungen Mädchen, und dem Nachher, einer Frau.« Vom Porträt des pubertierenden Mädchens bewegt sich Toufic zum Porträt im Allgemeinen und dessen paradigmatischer Beziehung zum Engel; daher der Titel dieses Notizbuches: Poes »Das ovale Porträt«, mit den Augen eines Engel gelesen und umgeschrieben. Die meisten von Jalal Toufics Büchern stehen auf seiner Website www.jalaltoufic.com als frei herunterladbare PDF-Dateien zur Verfügung.
1955 fand die erste documenta in Kassel statt. Zunächst als einmalig konzipiert, ist sie zu einer heute alle fünf Jahre wiederkehrenden, grundlegenden Ausstellung und Reflexion zeitgenössischer Kunst geworden. In seinem Essay, 1987 an der University of British Columbia, Vancouver, als Vorlesung gehalten, beleuchtet Ian Wallace die erste documenta, die nach dem 2. Weltkrieg ebenjenen Künstlern ein Forum bieten wollte, die im Nationalsozialismus als »entartet« verfemt worden waren. Die erste documenta ist gleichermaßen Spiegel wie Protagonist des kulturellen und politischen Klimas der Nachkriegszeit und hat unter der Führung von Arnold Bode, mit Unterstützung Werner Haftmanns, wesentlich zum Siegeszug der Abstraktion beigetragen, der West-Deutschland den Anschluss an die europäische Moderne verschaffte. Ian Wallace (*1943) ist Künstler. Er lebt in Vancouver und hat an der University of British Columbia sowie der Emily Carr University of Art and Design gelehrt.
1973 identifizierte ein Mitarbeiter der Deutschen Bank in Heidelberg den einflussreichen Literatursoziologen und Marxisten György Lukács (1885-1971) als den Besitzer eines dort seit 1917 hinterlegten Materialkonvoluts. Unter den ca. 1.600 Briefen und Textfragmenten in der als «Heidelberger Koffer» in die Forschung eingegangenen Sammlung befand sich auch das Notizbuch, das in dieser Publikation in Ausschnitten reproduziert ist. Der Inhalt des Notizbuches besteht aus zwei Teilen: Der vordere Teil ist die deutsche Mitschrift einer 1906 von Georg Simmel an der Berliner Universität gehaltenen Vorlesung zum Thema «Logik und Probleme der Philosophie der Gegenwart». Einige Jahre später nutzte Lukács das Notizbuch weiter und schrieb in ungarischer Sprache, von der letzten Seite beginnend, eine Skizze mit dem Titel «Kunstsoziologie» nieder. Mit einer Einführung von Lívia Páldi, Chefkuratorin am Mucsarnok/Kunsthalle Budapest und Agentin der dOCUMENTA (13).
Griselda Pollock bietet mit ihrer Betrachtung einer Auswahl von Arbeiten Charlotte Salomons eine radikal neue, nicht-autobiografische Lesart des Werkes einer Künstlerin, die als Jüdin 1943 in Auschwitz ermordet wurde. Bereits 1940 war sie im französischen Konzentrationslager Gurs interniert worden, eine Erfahrung, nach der sie begann, Gouachen und Pauspapiere als Theater der Erinnerung anzufertigen. In nur sechs Monaten, zwischen 1941 und 1942, schuf sie einen umfangreichen narrativen Zyklus, der 1.325 Bilder und Texte sowie musikalische Angaben für den Gesangsvortrag umfasst, die sie als abgeschlossenes Gesamtwerk mit dem provokativen Titel Leben? oder Theater? in einem Karton bei einem Arzt in Nizza deponierte. Die einzelnen Blätter eröffnen intime Einblicke in die Gedankenwelt einer Namenlosen, deren Status als Künstlerin einzig auf der Deportationsliste nach Auschwitz verzeichnet ist und die erst mit großer Verspätung zu einem Namen als Kunstschaffende und damit zu angemessener Anerkennung kam. Griselda Pollock (*1949) ist Professorin für Social and Critical Histories of Art sowie Direktorin des Centre for Cultural Analysis, Theory and History an der Universität von Leeds. Sprache: Deutsch/Englisch
In seinem Essay untersucht G. M. Tamás (*1948), ungarischer Philosoph sowie ehemaliger und gegenwärtiger Dissident, den Charakter »unschuldiger Macht«. Macht ist per se zerstörerisch, und ihr Effekt lässt sich an verschiedenen Arten von Ruinen ablesen, darunter romantische Ruinen, Kriegsruinen und solche, die in der zeitgenössischen Kunst geschaffen werden. Die unschuldige Macht zeichnet sich dadurch aus, dass sie, wie das Kapital, unpersönlich und konzeptuell, ist; sie ist eine Ansammlung von Konzepten, deren »Legitimität« auf »Wissen« basiert. Ihre Anerkennung als herrschende Ordnung ist mit unserer Art zu wissen verbunden. Widerstand gegen die unschuldige Macht ist vor diesem Hintergrund weder legal noch intelligent. Wenn es mögliche Formen der Opposition und Rebellion gegen ihre Auswirkungen, die in Knechtschaft und Erniedrigung oder willkürlich zugemutetem Elend bestehen können, gibt, so werden diese ipso facto unzumutbar gemacht.
In ihrem poetischen Essay beschreibt die Künstlerin, Dichterin und Essayistin Etel Adnan (*1925) verschiedene Formen der Liebe: die Liebe zu einer Idee, zu Gott, zu Dingen und zur Natur. Doch haben wir uns heute weit entfernt von einer sich selbst verzehrenden Liebe zu etwas Höherem, wie sie etwa Nietzsche in den Wahnsinn oder den islamischen Mystiker al-Hallaj in den Märtyrertod trieb. Die Liebe zur Natur, die Adnan anhand eigener Erfahrungen schildert, scheint sogar der Verachtung gewichen zu sein – wie sonst ließe sich die ökologische Katastrophe erklären, auf die wir zusteuern? Der Preis dafür, diese aufzuhalten, wäre zu groß, denn er wäre mit der radikalen Veränderung unserer Lebensweise verbunden – ähnlich wie die konventionellste Form der Liebe, die zwischen zwei Menschen, die eine Intensität mit sich bringt, die nur wenige bereit sind zu ertragen.
Ein Abdruck von Seiten eines Tagesbuchs aus dem Oktober 1980 von Erkki Kurenniemi (*1941), einem Nuklearphysiker, der zum Künstler und Protagonisten der elektronischen Musik in Finnland wurde und dessen von radikalen Vorstellungen geprägtes Werk das Vorurteil widerlegt, dass Technologie mit kühlem Denken und Sensibilitätsverlust gleichzusetzen ist. Über Jahrzehnte hat Kurenniemi sein Archiv des Selbst angelegt, das Fotografien, Disketten und Festplatten, Hunderte von Video- und Audiobändern sowie Dutzende von Notizbüchern wie das hier abgedruckte umfasst. Mit einer Einführung von Lars Bang Larsen.
Dem Skript für seinen Film Dune, nach dem gleichnamigen Science-Fiction-Roman von Frank Herbert aus dem Jahr 1965, widmete der chilenische Regisseur, Comiczeichner, Komponist und bildender Künstler Alejandro Jodorowsky (*1929) ein voluminöses Notizbuch, auf das er eigens den Titel drucken ließ. Sein ambitioniertes Projekt blieb jedoch unrealisiert, und so diente das Notizbuch von 1974 schließlich seinen intensiven Recherchen über das historische Tarot de Marseille. Drei Jahre lang begab sich Jodorowsky auf die Spuren des berühmten Kartendecks, untersuchte seine Herkunft und Entwicklung sowie die verschiedenen mit ihm verbundenen Lehren und Analysen und hielt die Ergebnisse seiner Begegnungen, Gespräche und Lektüre in Texten, Collagen und Diagrammen fest, die hier in einer Auswahl reproduziert sind. Mit einer Einleitung von Chus Martínez, Agentin, Mitglied der Kerngruppe und Leiterin der Abteilung der dOCUMENTA (13) sowie assoziierte Kuratorin am MACBA, Barcelona.