Station 9. Hansjörg Anderegg

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Название Station 9
Автор произведения Hansjörg Anderegg
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783967526981



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sah sie mit demselben betroffenen Gesichtsausdruck an wie nach ihrem ersten Kuss.

      »Was denkst du denn? Nick ist mein Freund.«

      Mit dem du über zehn Jahre keinen Kontakt hattest, dachte sie.

      »Seltsam«, sagte sie nur und begann, sich umzuziehen.

      Der Abend würde genügend Gelegenheit bieten, sich darüber zu unterhalten. Im Übrigen war sie in Wien im Urlaub. Sie wartete, bis Jamie sich ins Bad zurückzog, dann rief sie Berlin an.

      Kollege Haase, rechte Hand und eine Art erweitertes Hirn für sie, antwortete sofort. Er saß wie immer auch an diesem Freitagabend an seinem Schreibtisch in Treptow – oder stand an der Kaffeemaschine.

      »Ich dachte, Sie machten Urlaub.«

      »Dachte ich auch bis vor ein paar Stunden. Sie haben das Theater in Wien sicher mitbekommen …«

      »Die Geiselnahme am Kongress. Waren Sie da? Sind Sie …«

      »Alles in Ordnung«, wehrte sie ab. »Ja, ich war dabei. Mein Mann soll ein Referat halten, aber das tut nichts zur Sache. Ich habe eine Bitte.«

      Den Rest flüsterte sie hastig ins Telefon, denn Jamie kehrte vom Bad zurück. Er hörte zwar nicht, was sie sagte, durchschaute sie aber trotzdem.

      »Schon wieder an der Arbeit, Frau Kommissarin?«, fragte er lächelnd. »Ich empfehle dringend, das Handy mit der Dienstwaffe im Safe einzuschließen für heute Abend.«

      »Hättest du wohl gern. Ich überlege mir, ob ich die Glock nicht auch mitnehmen soll – bei dem Gesindel, das in dieser Stadt herumläuft.«

      Das betroffene Gesicht!

      »War ein Scherz. Das Kleid passt sowieso nicht zur Pistole.«

      Der Empfang im Steirereck entsprach den Preisen auf der Karte. Seit der Tragödie im Billrothhaus gehörte Nick zum exklusiven Kreis prominenter Eintagsfliegen. Das war der Grund, weshalb es wie durch ein Wunder einen freien Tisch für sie gab.

      »Sie sehen umwerfend aus«, stellte Mona zur Begrüßung fest.

      Was antworten auf dieses Kompliment aus dem Mund der Frau, die alle Blicke im Lokal auf sich zog? Am besten gar nichts. Stattdessen fragte sie trotz Monas strahlender Erscheinung besorgt:

      »Besser?«

      »Ich versuche, den Albtraum zu verdrängen. Hauptsache, Nick ist O. K.«

      Kaum hatte er sich gesetzt und am Wasserglas genippt, sagte Nick düster:

      »Der Mann ist gestorben.«

      Alle schwiegen betroffen, obwohl die Nachricht niemanden überraschte. Nick sprach als Erster weiter.

      »Ich weiß, ihr fragt euch, wieso der Mann ausgerechnet mich angegriffen hat«, seufzte er. »Ich kann nur wiederholen, was ich Jamie schon gesagt habe. Ich kenne – kannte den Mann nicht, habe ihn nie gesehen, nie von ihm gehört. Das Ganze ist ein verdammtes Rätsel.«

      Es klang überzeugend. Chris war geneigt, ihm die Ahnungslosigkeit abzukaufen. Andererseits musste der arme Kerl einen guten Grund gehabt haben, Nick vor versammelten Kollegen anzugreifen. Mit Verwirrung allein war sein Auftritt in Festsaal kaum zu erklären. Der Täter konnte kein gewöhnlicher Spinner gewesen sein wie die grölenden Demonstranten, die allein beim Wort Genetik ausflippten.

      Der Chef de Service nahm die Bestellung auf, gefolgt vom begeisterten Monolog des Sommeliers über die exklusiven Tropfen, die zu den nicht weniger extravaganten Gerichten passten. Es würde wohl das teuerste Essen werden, das Nick je bezahlt hatte.

      »Ich dachte, Sie trinken keinen Alkohol?«, wunderte sie sich, als Mona fröhlich mit dem Dom Pérignon Rosé Vintage ›Tête de Cuvée‹ anstieß.

      »Weil ich aus dem Iran stamme?«

      »Der Islam …«

      Unter Freunden soll man nie über Religion und Politik sprechen. An diesen Grundsatz hatte sie sich stets gehalten, aber jetzt war es raus. Mona erledigte das Thema mit drei Wörtern:

      »Nichts für mich.«

      »Vorsicht«, bemerkte Nick lachend dazu. »Mona hat schon eingefleischte Eidgenossen mit ›Kafi Luz‹ unter den Tisch gesoffen.«

      »Eine Trinkerin sind Sie also«, grinste Chris erleichtert.

      »Nachdem auch das geklärt ist, schlage ich vor, wir gehen zum Du über.«

      Nick hob sein Glas, um den Pakt zu besiegeln. Mona reichte das nicht. Sie drückte reihum jedem ein Küsschen auf die Wange. Die Kluft zwischen Erwartung und Wirklichkeit reizte Chris. Monas Verhalten passte einfach nicht zu ihrer Vorstellung von Frauen aus dem Iran.

      »Was ist ›Kafi Luz‹?«, fragte Jamie konsterniert.

      Mona lachte laut heraus. »Nick übertreibt natürlich. In Wirklichkeit kann ich das Gebräu nicht ausstehen. Es ist eine volkstümliche Spezialität in Luzern, wo unsere Klinik steht.«

      »Mit Kaffee hat das Gesöff nicht viel gemein«, ergänzte Nick. »Sehr wässriger Kaffee, viel Zucker und ein guter Schuss Träsch, Obstler. Gilt als Frühstück.«

      Lachend sahen sie zu, wie zwei Kellner die Vorspeisen in perfekter Choreografie aufdeckten. Sie hatte die erste Gabel des Carpaccios noch nicht im Mund, als ihr Handy klingelte. Haase.

      »Verzeihung, da muss ich ran.«

      »Ich habe ihr geraten, das Ding im Safe einzuschließen«, entschuldigte Jamie sich achselzuckend, während sie sich entfernte.

      »Dieser Oskar Schäfer hatte keinerlei Verbindung zu Dr. Niklaus von Matt oder der Klinik Seeblick in Luzern«, sagte Haase.

      Sie brauchte nicht nachzuhaken. Wenn er keine Verbindung fand, gab es keine. Die Nachricht ließ die Tragödie im Billrothhaus nur noch mysteriöser erscheinen. Nachdenklich kehrte sie an den Tisch zurück.

      »Ist kalt geworden«, bemerkte Jamie.

      »Carpaccio muss kalt sein. Das weißt du besser als ich.«

      »War ein Scherz.«

      Er streckte die Hand aus.

      »Was?«

      »Handy.«

      »Nur gegen Quittung.«

      Er verlangte Notizpapier vom Kellner. One mobile Phone, stand auf dem Zettel, den er ihr unter dem Gelächter der andern hinhielt. Sie vollzog den Tausch und Ruhe kehrte ein. Eine Weile widmeten sich alle dem Gedicht auf ihrem Teller und dem gefährlich mundenden Sauvignon Blanc.

      »Was wird jetzt aus dem Kongress?«, fragte Nick unvermittelt.

      Jamie legte die Gabel weg, trank einen Schluck, dann antwortete er mit gespielter Enttäuschung:

      »Geht leider morgen weiter wie geplant. Einzig der Festsaal wird vorläufig nicht mehr benutzt.«

      »Warum leider?«, fragte Mona.

      Sie kannte Jamies angeborene englische Ironie noch nicht.

      »Er redet nicht gern«, sagte Chris, um sie noch etwas mehr zu verwirren.

      Nick brach in Gelächter aus. »Vor allem nicht in Gegenwart schöner Frauen. Das war noch nie deine Stärke, stimmt‘s?«

      Die Betroffenheit war diesmal nicht gespielt. Sie erlöste ihn, gab ihm einen Kuss und stellte fest, er habe andere Qualitäten.

      Der Aufmarsch von vier Kellnern dämpfte die Heiterkeit nur unwesentlich. Die Offenbarung des Hauptgangs unter den silbernen Glocken ließ hingegen alle am Tisch in Ehrfurcht verstummen. Irrte sie, oder wischte Jamie sich heimlich eine Träne aus dem Auge nach der ersten Nase von seinem Milchferkel mit Eukalyptus? Die Tafelrunde des unfreiwillig prominenten Arztes aus der Schweiz versank in stille Andacht. Lange hörte man kaum das Besteck klappern. Erst mit der zweiten Flasche Bordeaux lösten sich die Zungen. Überrascht stellte Chris fest, dass sie Deutsch sprachen. Jamies immer noch