Unentrinnbar. Hansjörg Anderegg

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Название Unentrinnbar
Автор произведения Hansjörg Anderegg
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783967526929



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lachte laut auf. »Nicht auf dieses Theater, glaub mir.«

      Er schien beinahe wieder nüchtern zu sein. Umso mehr freute ihn die reiche Auswahl alkoholischer Getränke an der Selbstbedienungs-Bar, die das halbe Foyer einnahm.

      »Schlag zu. Alles inklusive«, rief er gut gelaunt und goss sich ein Wasserglas prall voll mit eisgekühltem ›Smirnoff‹. Den Tomatensaft daneben rührte er nicht an.

      Jonas schüttelte leicht angewidert den Kopf. »Willst du mir nicht endlich erklären …«

      Weiter kam er nicht. Zwei Mittvierzigerinnen nahmen ihn in die Zange, dass er kein Glied mehr zu rühren vermochte, ohne sie nicht irgendwo unanständig zu berühren.

      »Was haben wir denn da?«, sagte die eine, die Hagere, mit rauchiger Stimme zur andern, drallen, die glatt Rubens Muse hätte sein können, wäre der Gute nicht längst verstorben und sie ein paar Jahre jünger. Die beiden trugen bis ins Detail identische Kleider, als wären sie missratene eineiige Zwillinge.

      »Originell«, grinste Jonas, weil ihm in der Eile nichts Originelleres einfiel.

      »Es kann sprechen«, versicherte die Dralle der Hageren.

      Vielleicht gehörte der Auftritt zum absurden Theater, dachte Jonas. Er hasste diese Art moderner Kultur, bei der man das Publikum nicht in Ruhe ließ.

      »Meint ihr mich?«, fragte er vorsichtshalber.

      »Es spricht mit uns«, wunderte sich die Hagere und zeigte zwei Reihen makellos weißer Zähne zwischen blutroten Lippen.

      »Hört mal ihr beiden Holden. Wäre es nicht einfacher, direkt miteinander zu kommunizieren? Ich spreche sogar fließend Deutsch. Auch wenn es vielleicht nicht so aussieht: Ich bin kein Wesen vom andern Stern. Ich bin ein ganz normaler Mann.«

      »Und was für einer«, platzten beide gleichzeitig heraus.

      Sie kicherten eine Weile, bis die rauchige Stimme die erste Frage an ihn richtete: »Wie heißt du denn?«

      »Captain Hook.«

      »Originell«, fand diesmal die Hagere.

      Das Kichern ging weiter. Wie auf ein geheimes Kommando hakten sich die Damen bei ihm unter und zogen ihn vom sicheren Büfett weg.

      »Die Show beginnt gleich. Die will sich unser Captain Hook sicher nicht entgehen lassen.«

      Er sah sich hilfesuchend nach Patrick um, doch der war im düsteren Saal verschwunden.

      »Wie heißt denn das Stück?«

      Er wollte es wirklich wissen, doch seine Begleiterinnen fassten die Frage als gelungenen Scherz auf, ihrem Gelächter nach zu urteilen.

      »Wie heißt denn dein Stück, Captain Hook?«, keuchte Rubens Muse, nachdem sie zu Atem gekommen war, um gleich wieder loszuprusten.

      Noch ein gelungener Scherz. Es war zwecklos, weiter zu fragen. Ohne Widerstand ließ er sich von den beiden in die vorderste Reihe an eine Art Reling manövrieren. Der Raum war viel kleiner als angenommen, eher eine intime Kellerbühne für ein Einmannkabarett als ein Theatersaal. Dafür sprach auch der rote Schimmer, der nur die kreisrunde Bühne und die erste Zuschauerreihe schummrig beleuchtete. Sitzplätze gab es keine, jedenfalls nicht an der Reling. Der enge Zuschauerraum mutete an wie das steile Auditorium eines alten Anatomiehörsaals. Schweißperlen traten auf Jonas’ Stirn. Nicht die Enge und der schwere, süßliche Duft, der ihn an eine Leichenhalle erinnerte, waren die Auslöser seiner inneren Wallungen. Auch nicht seine Begleiterinnen, die spürbar und unverrückbar dafür sorgten, dass er nicht fliehen konnte. Ihn beunruhigte vielmehr die Tatsache, dass er im roten Lichtschein stand, genau wie die Bühne. Schon jetzt glaubte er, alle unsichtbaren Augenpaare wären einzig und allein auf ihn, den Neuling gerichtet.

      »Die Musik – es geht los«, flüsterte die Muse erregt und zwickte ihn zur Sicherheit kräftig in den Arm.

      Aus dem Nichts materialisierte sich eine schwarz gekleidete Gestalt in der Mitte der Bühne. Schwarze Stiefel, schwarze Hose, schwarzes Jackett, schwarzer Strohhut. Alles glänzte wie frisch gewichst im gleißenden Strahl der Spots, die nun die Szene ausleuchteten, als ginge es um ein Fotoshooting für die nächste ›Vogue‹. Die schwarze Gestalt war eine Frau, das sah er deutlich, obwohl sie ihm den Rücken zukehrte. Die Arme zerrte vergeblich an der Kette, die ihre hoch erhobenen Hände an die Decke fesselte. Ein paar Augenblicke geschah nichts weiter, als dass der Musikpegel bedrohlich anstieg. Das Drama erreichte den Höhepunkt in einem Tusch. Das Licht ging aus, dann blitzte und donnerte es, und die Finsternis hatte ein Ende. Vier giftgrüne Warane mit rotem Kamm krochen über den Bühnenrand hinauf und auf die Wehrlose zu, die verzweifelt an der Kette zerrte. Keine echten Reptilien natürlich. Dick geschminkte Frauen waren es, die sich breitbeinig auf allen Vieren der schwarzen Gestalt näherten, nackt bis auf die Farbe und den lächerlichen Plastikkamm, soweit er beurteilen konnte. Die Bühne begann sich langsam zu drehen. Das Profil der schwarzen Gestalt wurde sichtbar und damit mehr und mehr nackte Haut, denn Hose und Jackett bestanden nur aus der hinteren Hälfte. Die bizarre Szene übte eine unwillkürliche Anziehungskraft auf Jonas aus. Er war ein Mann, und vor ihm auf der Bühne agierten fünf nackte Frauen. Gespannt verfolgte er, wie sich die züngelnden Reptilien an der gefesselten Frau aufrichteten. Die Erkenntnis schoss ihm wie ein Blitz durch den verwirrten Kopf, als sich zwei der Warane an den Brüsten der Gefangenen festsaugten. Das war keine gewöhnliche Striptease-Show mehr. Er vergaß für einen Moment die beiden reifen Blondinen an seiner Seite, die übrigen Zuschauer, die Augen in seinem Rücken, und hielt den Atem an. Alles schien möglich auf der Bühne des ›Forstschlösschens‹. Wie zur Bestätigung dieser unerhörten Vermutung drängte der dritte Waran seinen grünen Kopf zwischen die Beine der Gefangenen, während die Hände des vierten Reptils unter der Hülle über ihrem Hintern verschwanden. Die Bedrängte fand hörbaren Gefallen an ihren Peinigern, genauso wie das Publikum. Jonas ertappte sich dabei, den Hals zu recken, um genau zu sehen, was da im Schoß der Frau geschah. Männer tun so was. Beschämt wagte er einen kurzen Seitenblick auf die Muse neben ihm. Auch sie verfolgte das Geschehen auf der Bühne konzentriert mit Argusaugen und einem seligen Lächeln auf den Lippen. Hätte sein Verstand noch funktioniert, er hätte nichts mehr verstanden. So aber wandte er sich schnell wieder der schamlosen Vorstellung ohne Worte zu und wunderte sich über gar nichts mehr. Wieder setzte das Licht aus. Blitz, Donner, Tusch. Als die Spots wieder aufflammten, bot sich den begeisterten Zuschauern ein ganz anderes Bild auf der verruchten Bühne. Nur noch ein Reptil beschäftigte sich mit der Gefangenen, deren halbe Kleider verschwunden waren. Sie lag mit angewinkelten Beinen auf dem Boden, das Tier auf ihr, die Zunge in ihrer Scheide, den Kamm lustvoll aufgestellt – aber das bildete er sich vielleicht nur ein in der Hitze. Er brauchte den Hals nicht mehr zu recken. Auch für den Fantasielosesten unter den Zuschauern blieb kein Zweifel mehr darüber, was sich da ganz genau abspielte. So sehr nahmen ihn die rhythmischen Bewegungen und Gesänge der beiden in Anspruch, dass er die drei andern Warane komplett vergaß. Bis es zu spät war. Ein grüner Kopf tauchte plötzlich vor ihm auf. Flinke Hände öffneten mit geübtem Griff seinen Hosenschlitz und legten sich um seine prächtig aufgeblühte Männlichkeit, bevor er wusste, wie ihm geschah. Die Schockstarre dauerte so lange, bis er die Lippen des Reptils spürte. Dann endlich kehrte sein Verstand mit einem heißen Schwall Blut im Hirn zurück.

      »Heiliges Kanonenrohr«, rief Captain Hook entsetzt.

      Er riss sich unsanft von den verzauberten Blondinen los, hechtete über die Reling und floh aus dem Saal, als wäre der alte Helbling persönlich hinter ihm her. Erst draußen merkte er, dass er vergessen hatte, sein Glied wieder in die Hose zu stecken. Er glaubte, genug gesehen zu haben, wollte nur noch an die frische Luft. Nur der Druck auf die Blase hinderte ihn daran, auf kürzestem Weg zur Tür hinauszurennen. Mit Scheuklappen irrte er durch die schummrig beleuchteten Gänge, bis er die Tafel mit der Aufschrift ›Hygienebereich‹ entdeckte. Eine ungewöhnliche Bezeichnung fürs Klo, aber was war hier schon normal. Tatsächlich fand er die Kabinen mit den vertrauten Schüsseln. Ein Pissoir sah er nicht, auch keine Türen mit dem eindeutigen Symbol für Männlein oder Weiblein. Er schlüpfte in eine der offenen Kabinen, hielt mit einer Hand die Tür zu, da der Riegel fehlte, ließ mit der andern die Hose runter und