Wohltöter. Hansjörg Anderegg

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Название Wohltöter
Автор произведения Hansjörg Anderegg
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783967526912



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DCI nickte schmunzelnd, enthielt sich aber eines Kommentars. Erst als sie wieder auf der M11 Richtung London fuhren, hörte sie ihn murmeln: »Rufen Sie mich jederzeit an.«

      Sie stellte sich taub, versuchte nur, Dr. Roberts Gesicht zu ignorieren, das sie ständig von der Windschutzscheibe her anlächelte.

      South Kensington, London

      Ihre Ermittlungen steckten fest. Nirgends sah Chris die brutale Wahrheit klarer als abends unter der Dusche. Die Suche nach der mysteriösen Klinik musste auf immer größere Gebiete ausgedehnt werden. Die Wahrscheinlichkeit, sie zu finden, nahm entsprechend rapide ab. Alle Indizien deuteten darauf hin, dass das Gebäude an der Küste stehen musste, doch die Durchsuchung der siebzehn Häuser, die dafür infrage kamen, war ergebnislos verlaufen. Ein buchstäblicher Schlag ins Wasser. Also doch ein Schiff? Dann würde der Fall kaum je aufgeklärt werden. Ron kam bei seinen Ermittlungen im undurchdringlichen Dschungel der pakistanischen Parallelgesellschaft auch keinen Schritt weiter. Die Familien und Clans hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Wo sie auch ansetzten, stießen sie auf eine Mauer des Schweigens. Nicht feindselig, meist durchaus freundlich, gar beredt, wortreiches Schweigen. Niemand schien den Mann in der Gerichtsmedizin und das unbekannte erste Opfer zu vermissen. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Sie hatte ähnliche Tiefpunkte in fast jedem Fall ihrer jungen Karriere erlebt. Allmählich sollte sie sich daran gewöhnen, aber diesmal fiel es ihr besonders schwer. Sie war nicht nach England gekommen, um mit wehenden Fahnen unterzugehen. Das Schlimmste an der Situation war, dass das einzige konkrete Verdachtsmoment ausgerechnet auf den netten Dr. Roberts fiel.

      »Was heißt schon nett«, spottete die Dusche.

      Sie war nicht in der Stimmung, sich auf diese Diskussion einzulassen. Noch einmal und noch intensiver spülte sie sich das Haar, dann drehte sie der vorlauten Dusche den Hahn zu. Sie richtete den warmen Strahl des Föhns zuerst aufs Gesicht, um die düsteren Gedanken aus ihrem Hirn zu blasen, dann begann sie seufzend mit dem umständlichen Trocknen ihrer langen Haare.

      Ein neuer Ton überlagerte plötzlich das ermüdende Rauschen. Der Bildschirm des Telefons auf dem Fenstersims leuchtete. Die Nummer kannte sie nicht. Sie legte den Fön beiseite und drückte auf die Empfangstaste.

      »Detective Sergeant Hegel?«, fragte eine warme Stimme, die ihr sogleich die Schamröte ins Gesicht trieb, denn sie stand nackt wie die Venus vor dem Spiegel und sprach mit Dr. Roberts.

      »Ja?«, antwortete sie vorsichtig.

      »Jamie Roberts hier. Sie haben mich in Cambridge befragt.«

      »Ah, ja, ich erinnere mich.« Sie schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse ob der albernen Bemerkung. Seit dem Besuch in Cambridge waren noch keine sechsunddreißig Stunden vergangen.

      »Sie sagten, ich könne Sie jederzeit anrufen …«

      »Ja – auch daran erinnere ich mich.«

      »Mir ist noch etwas eingefallen, das Sie wissen müssten.«

      »Ausgezeichnet, ich höre.«

      »Nicht am Telefon. Ich bin zufällig in London.«

      Beinahe ließ sie ihr Handy fallen. Es fühlte sich plötzlich heiß an. »In London?«, wiederholte sie erschrocken.

      Er lachte. »Hin und wieder kommt es vor, dass mich meine Arbeit in die große Stadt führt.«

      »Natürlich. Wenn das so ist, können wir uns in meinem Büro treffen. Sagen wir, um …«

      »Ich dachte eigentlich eher an einen gemütlicheren Ort«, unterbrach er. »Haben Sie schon gegessen?«

      Sie konnte sich an eine Schüssel Cornflakes zum Frühstück erinnern. Mit einem Mal spürte sie einen unbändigen Appetit und gleichzeitig einen Knoten im Magen. Sie wusste, wo das Gespräch hinführte, und der Gedanke gefiel ihr viel zu gut. Trotzdem antwortete sie mit einem ehrlichen Nein.

      »Wunderbar, dann lade ich Sie zum Essen ein.«

      »Das werden Sie schön bleiben lassen, oder wollen Sie mich bestechen?«

      »Um Gottes willen, niemals. Ich finde nur, es wäre ganz angenehm, wenn wir beide unser Problem gemeinsam lösen würden. Wenn Sie wollen, können Sie natürlich auch mich einladen.«

      Sie glaubte, sein betroffenes Schmunzeln in ihrem Spiegel zu sehen und wandte sich ab. »Soweit kommt’s noch.«

      »Also, Detective Sergeant, was halten Sie davon, wenn wir uns bei sauber getrennter Kasse bei einem neutralen Italiener treffen?«

      »Ich hatte eigentlich nicht vor, auszugehen.«

      »Ich fahre Sie.«

      »Sie geben nicht so schnell auf, wie?«

      »Sind Sie denn gar nicht an meinen Informationen interessiert?«

      »Doch, ich könnte Sie vorladen.«

      »Das wäre schön«, lachte er, »dann müssten Sie mich treffen.«

      Allmählich begriff sie, worum es hier ging. Dr. Diagnose-Blick mit der warmen Stimme wollte sie unbedingt sehen. Gut möglich, dass sie sich das nur einbildete. Solche Wunschvorstellungen waren ihr nicht neu. Vielleicht hatte er auch einfach Hunger und wollte seine Information loswerden. Die Antwort auf diese Frage war durchaus bedeutsam für ihr Verhalten, hielt sie sich doch bisher an die eiserne Regel, Berufliches von Privatem zu trennen. Auch wenn es da nicht viel zu trennen gab.

      »Sind Sie noch dran?«, fragte er besorgt.

      »Wie – ja – kennen Sie ›Orsini’s‹?«

      Herausgerutscht, einfach so. Klar und deutlich hatte sie das Restaurant in ihrer Nähe vorgeschlagen. Entscheid des Unterbewusstseins. Wie sollte sie sich dagegen wehren?

      »›Orsini‹, South Kensington? Klar, kenne ich. Wann?«

      »Um acht«, antwortete sie mechanisch.

      Die Uhr bestätigte ihr: Sie hatte genau 56 Minuten. Zuwenig, um ein privates Treffen vorzubereiten, also würde es eine rein dienstliche Besprechung werden beim gemütlichen Italiener. In aller Eile flocht sie ihre blonden Strähnen zu einem dicken Zopf, zog frische Arbeitskleidung an, Jeans, weißes Shirt. Viel anderes gab ihr Kleiderschrank auch nicht her. Bevor sie die Lederjacke anzog, warf sie einen letzten Blick in den Spiegel. So lupenrein dienstlich war das Treffen doch nicht, meinte ihr blasses Spiegelbild. Etwas Rouge und Wimperntusche würde ihr Gesicht schon vertragen, ohne wichtige Regeln zu brechen. Sorgfältig zog sie die Lippen nach, rieb sie, beugte sich ganz nah an den Spiegel, schüttelte unzufrieden den Kopf, tupfte etwas Rot weg, strich nochmals mit dem Stift über die Lippen, kontrollierte, tupfte, strich, bis sie halbwegs zufrieden war mit ihrem dienstlichen Äußeren.

      Sie traf wie geplant zehn Minuten zu spät ein. Dr. Roberts wartete an der Bar auf sie.

      »Drink?«, fragte er mit einem besorgten Blick, als fürchtete er, sie würde gleich wieder verschwinden.

      Sie schüttelte den Kopf. Ihr Magen knurrte, und sie wollte die dienstliche Besprechung nicht mit gefährlichem Smalltalk an der Bar beginnen. Der Kellner schien sich an sie zu erinnern. Seinem Gesicht nach zu schließen, freute er sich außerordentlich, dass sie diesmal nicht allein zum Dinner erschien. Sie dankte ihm für die Speisekarte, hinter der sie sich unauffällig verstecken konnte.

      »Sie haben ja wirklich Hunger«, meinte er schmunzelnd.

      »Sie nicht?«

      »Doch, natürlich.«

      Wieder der besorgte Blick. Sie entschied sich für die große Variante: Salat, Linguine und die würzigen Scaloppine al Marsala mit grünen Bohnen, die sie schon kannte. Drei Gänge, genug mechanische Arbeit, um sich auf den Fall zu konzentrieren und weniger auf ihr Gegenüber. Den Wein schlug sie aus.

      »Sie sind immer im Dienst«, bemerkte er bedauernd und bestellte sich ein Glas Brunello, wie sie es, weiß Gott, auch benötigt hätte.

      »Was führt Sie denn so häufig nach London?«, fragte sie