Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Johann Gottfried Herder

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Название Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit
Автор произведения Johann Gottfried Herder
Жанр Документальная литература
Серия Reclams Universal-Bibliothek
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783159619071



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Pyramide ward der wandelnde, sprechende Mast. Hinter der Bildnerei und Werkarbeit der Ägypter ins Große und Ungeheure spielte man jetzt so vorteilhaft mit Glas, mit zerstücktem, gezeichnetem Metall, Purpur und Leinwand, Gerätschaft vom Libanon, Schmuck, Gefäßen, Zierrat – man spielt’s fremden Nationen in die Hände – welch andre Welt von Beschäftigung! von Zweck, Nutzen, Neigung, Seelenanwendung! Nun musste natürlich aus der schweren, geheimnisreichen Hieroglyphenschrift »leichte, abgekürzte, bräuchliche [26]Rechen- und Buchstabenkunst werden: nun musste der Bewohner des Schiffs und der Küste, der expatriierte Seestreicher und Völkerläufer dem Bewohner des Zelts und der Ackerhütte ein ganz anderes Geschöpf dünken: der Morgenländer musste ihm vorwerfen können, dass er Menschliches, der Ägypter, dass er Vaterlandsgefühl geschwächt, jener, dass er Liebe und Leben, dieser, dass er Treue und Fleiß verloren: jener, dass er vom heiligen Gefühl der Religion nichts wisse, dieser, dass er das Geheime der Wissenschaften, wenigstens in Resten auf seine Handelsmärkte zur Schau getragen.« Alles wahr. Nur entwickelte sich dagegen auch etwas ganz anderes, (was ich zwar keineswegs mit jenem zu vergleichen willens bin: denn ich mag gar nicht vergleichen!), phönizische Regsamkeit und Klugheit, eine neue Art Bequemlichkeit und Wohlleben, der Übergang zum griechischen Geschmack, und eine Art Völkerkunde, der Übergang zur griechischen Freiheit. Ägypter und Phönizier waren also bei allem Kontraste der Denkart Zwillinge einer Mutter des Morgenlands, die nachher gemeinschaftlich Griechenland und so die Welt weiter hinaus bildeten. Also beide Werkzeuge der Fortleitung in den Händen des Schicksals, und wenn ich in der Allegorie bleiben darf, der Phönizier, der erwachsenere Knabe, der umherlief und die Reste der uralten Weisheit und Geschicklichkeit mit leichterer Münze auf Märkte und Gassen brachte. Was ist die Bildung Europens den betrügerischen, gewinnsüchtigen Phöniziern schuldig! – Und nun der schöne griechische Jüngling.

      *

      [27]Wie wir uns vor allem der Jünglingszeit mit Lust und Freude erinnern, Kräfte und Glieder bis zur Blüte des Lebens ausgebildet: unsre Fähigkeiten bis zur angenehmen Schwatzhaftigkeit und Freundschaft entwickelt: alle Neigungen auf Freiheit und Liebe, Lust und Freude gestimmt, und alle nun im ersten süßen Tone – wie wir die Jahre fürs güldne Alter und für ein Elysium unsrer Erinnerung halten (denn wer erinnert sich seiner unentwickelten Kindheit?), die am glänzendsten ins Auge fallen, eben im Aufbrechen der Blüte, alle unsre künftige Würksamkeit und Hoffnungen im Schoße tragend – in der Geschichte der Menschheit wird Griechenland ewig der Platz bleiben, wo sie ihre schönste Jugend und Brautblüte verlebt hat. Der Knabe ist Hütte und Schule entwachsen und steht da – edler Jüngling mit schönen gesalbten Gliedern, Liebling aller Grazien und Liebhaber aller Musen, Sieger in Olympia und all’ anderm Spiele, Geist und Körper zusammen nur eine blühende Blume!

      Die Orakelsprüche der Kindheit und Lehrbilder der mühsamen Schule waren jetzt beinahe vergessen; der Jüngling entwickelte sich aber daraus alles, was er zu Jugendweisheit und Tugend, zu Gesang und Freude, Lust und Leben brauchte. Die groben Arbeitkünste verachtete er, wie die bloß barbarische Pracht und das zu einfache Hirtenleben; aber von allem brach er die Blüte einer neuen schönen Natur. – Handwerkerei ward durch ihn schöne Kunst: der dienstbare Landbau, freie Bürgerzunft, schwere Bedeutungsfülle des strengen Ägypten, leichte, schöne griechische Liebhaberei in aller Art. Nun, welche neue schöne Klasse von [28]Neigungen und Fähigkeiten, von denen die frühere Zeit nichts wusste, zu denen sie aber Keim gab. Die Regimentsform, musste sie sich nicht vom orientalischen Vaterdespotismus durch die ägyptischen Landzünfte und halbe phönizische Aristokratien herabgeschwungen haben, ehe die schöne Idee einer Republik in griechischem Sinne, »Gehorsam mit Freiheit gepaart und mit dem Namen Vaterland umschlungen«, statthaben konnte? Die Blüte brach hervor: holdes Phänomenon der Natur! heißt »griechische Freiheit!« Die Sitten mussten sich vom orientalischen Vater- und ägyptischen Taglöhnersinn durch die phönizische Reiseklugheit gemildert haben: und siehe! die neue schöne Blüte brach hervor, »griechische Leichtigkeit, Milde und Landesfreundschaft«. Die Liebe musste den Schleier der Harems durch manche Stufen verdünnen, ehe sie das schöne Spiel der griechischen Venus, Amors und der Grazien ward. So Mythologie, Poesie, Philosophie, schöne Künste: Entwickelungen uralter Keime, die hier Jahrszeit und Ort fanden, zu blühen und in alle Welt zu duften. Griechenland ward die Wiege der Menschlichkeit, der Völkerliebe, der schönen Gesetzgebung, des Angenehmsten in Religion, Sitten, Schreibart, Dichtung, Gebräuchen und Künsten. – Alles Jugendfreude, Grazie, Spiel und Liebe!

      Es ist zum Teil genug entwickelt, was für Umstände zu dieser einzigen Produktion des Menschengeschlechts beigetragen, und ich setze diese Umstände nur ins Größere der allgemeinen Verbindung von Zeitläuften und Völkern. Siehe dies schöne griechische Klima und in ihm das wohlgebildete Menschengeschlecht mit freier Stirn und feinen Sinnen – ein rechtes Zwischenland [29]der Kultur, wo aus zwei Enden alles zusammenfloss, was sie so leicht und edel verwandelten! Die schöne Braut wurde von zweien Knaben bedient zur Rechten und Linken, sie tat nur schön idealisieren; eben die Mischung phönizischer und ägyptischer Denkart, deren eine der andern ihr Nationelles und ihren eckigten Eigensinn benahm, formte den griechischen Kopf zum Ideal, zur Freiheit. Jetzt die sonderbaren Anlässe ihrer Teilung und Vereinigungen von den frühesten Zeiten her: ihre Abtrennung in Völker, Republiken, Kolonien, und doch der gemeinschaftliche Geist derselben; Gefühl einer Nation, eines Vaterlands, einer Sprache! – Die besondern Gelegenheiten zu Bildung dieses Allgemeingeists, vom Zuge der Argonauten und dem Feldzuge gegen Troja an, bis zu den Siegen gegen die Perser und die Niederlage gegen den Mazedonier, da Griechenland starb! – Ihre Einrichtungen gemeinschaftlicher Spiele und Nacheiferungen, immer mit kleinen Unterschieden und Veränderungen, bei jedem kleinsten Erdstrich und Völkchen – alles und zehnfach mehr gab Griechenland eine Einheit und Mannigfaltigkeit, die auch hier das schönste Ganze machte. Kampf und Beihülfe, Streben und Mäßigen; die Kräfte des menschlichen Geistes kamen ins schönste Eben- und Unebenmaß – Harmonie der griechischen Leier!

      Aber dass nun nicht eben damit unsäglich vieles von der alten frühern Stärke und Nahrung verlorengehen musste, wer wollte das leugnen? Da den ägyptischen Hieroglyphen ihre schwere Hülle abgestreift ward, so kann’s immer sein, dass auch ein gewisses Tiefe, Bedeutungsvolle, Naturweise, was Charakter dieser Nation war, damit über See [30]verduftete: der Grieche behielt nichts als schönes Bild, Spielwerk, Augenweide – nennt’s gegen jenes Schwerere wie ihr wollt; gnug, er wollte nur dies! Der Religion des Morgenlandes ward ihr heiliger Schleier genommen: und natürlich, da alles auf Theater und Markt und Tanzplatz Schau getragen wurde, ward’s in kurzem »Fabel, schön ausgedehnt, beschwatzet, gedichtet und neugedichtet – Jünglingstraum und Mädchensage!« die morgenländische Weisheit, dem Vorhange der Mysterien entnommen, ein schön Geschwätz, Lehrgebäude und Zänkerei der griechischen Schulen und Märkte. Der ägyptischen Kunst ward ihr schweres Handwerksgewand entnommen, und so verlor sich auch das zu genaue Mechanische und Künstlerstrenge, wornach die Griechen nicht strebten: der Koloss erniederte sich zur Bildsäule: der Riesentempel zum Schauplatz: ägyptische Ordnung und Sicherheit ließ in dem Vielfachen Griechenlands von selbst nach. Jener alte Priester konnte in mehr als einem Betracht sagen: »Oh, ihr ewigen Kinder, die ihr nichts wisst und so viel schwatzt, nichts habt und alles so schön vorzeiget«, und der alte Morgenländer aus seiner Patriarchenhütte würde noch heftiger sprechen – ihnen statt Religion, Menschheit und Tugend nur Buhlerei mit alle dem Schuld geben können usw. Sei’s. Das menschliche Gefäß ist einmal keiner Vollkommenheit fähig: muss immer verlassen, indem es weiterrückt. Griechenland rückte weiter: ägyptische Industrie und Polizei konnte ihnen nicht helfen, weil sie kein Ägypten und keinen Nil – phönizische Handelsklugheit nicht helfen, weil sie keinen Libanus und kein Indien im Rücken hatten: zur orientalischen Erziehung war die Zeit vorbei – gnug! es ward, was es war – Griechenland! Urbild und [31]Vorbild aller Schöne, Grazie und Einfalt! Jugendblüte des menschlichen Geschlechts – o hätte sie ewig dauren können!

      Ich glaube, der Stand, in den ich Griechenland stelle, trägt auch bei, »den ewigen Streit über die Originalität der Griechen oder ihre Nachahmung fremder Nationen« etwas zu entwirren: man hätte sich wie überall, also auch hier, lange vereinigt, hätte man sich nur besser verstanden. Dass Griechenland Samenkörner der Kultur, Sprache, Künste und Wissenschaften anderswoher erhalten, ist, dünkt mich, unleugbar, und es kann bei einigen, Bildhauerei, Baukunst, Mythologie, Literatur, offenbar gezeigt werden. Aber dass die Griechen dies alles