An neuen Orten. Rainer Bucher

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Название An neuen Orten
Автор произведения Rainer Bucher
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783429061623



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darin, daß der Wert dessen, was man immer schon gesehen und erkannt hat, umgewertet wird.“

      Boris Grojs26

       1 Das Grundproblem: Das Neue im Unbekannten, das Unbekannte im Neuen

      Das verstörende Problem des Neuen liegt darin, dass zu seiner Analyse zuerst nur alte Kategorien zur Verfügung stehen. Das ist eine ebenso schlichte wie folgenreiche Konsequenz der Tatsache, dass die menschliche Zeit, zumindest unter irdischen Normalbedingungen, nur in eine Richtung verläuft und Menschen nicht, wie etwa Gott, in der Lage sind, aus der Zukunft in die Vergangenheit zu schauen oder gar in einer ewigen Gleichschau der Zeitlichkeit zu entgehen.

      Die Entdeckung von Neuem verläuft normalerweise in drei Phasen:

      • in der schieren Entdeckung von etwas, das einen irritiert,

      • in seiner Entdeckung als wirklich Neues, es könnte sich ja auch als Altbekanntes in tarnend neuem Gewand herausstellen, und

      • in der grundsätzlich nie abgeschlossenen Entdeckung des Entdeckten unter neuen, erst zu entwickelnden Kategorien.27

      Das Neue als Phänomen, das Phänomen als etwas Neues und neue begriffliche Konzepte zur Neuentdeckung des Neuen, das sind wohl die normalen Erkenntnisschritte von Neuem – wenn es gut läuft.

      Die vorliegende Studie zur „Unbekannten Mehrheit“ könnte sehr dabei helfen, dass es bei der Entdeckung der neuen Situation der katholischen Kirche in Deutschland (und religionssoziologisch ähnlich strukturierten Gesellschaften) gut läuft. Denn schon der Titel dieser Studie behauptet (mindestens) zwei provozierende und ganz und gar unselbstverständliche Thesen:

      • erstens, dass die Mehrheit der Mitglieder der katholischen Kirche bestenfalls noch „Kasualienfromme“ sind, und

      • zweitens, dass sie der Wissenschaft und überhaupt der katholischen Kirche weitgehend unbekannt sind.

      Das sind beides ebenso neue wie starke Behauptungen. Vieles spricht freilich für sie, nicht zuletzt diese Studie. Irritationen über das gewandelte Verhalten erwachsener Katholiken und Katholikinnen in Großstädten und anderswo gibt und gab es ja schon länger, vor allem an der professionellen pastoralen Basis der Kirche.28 Ein immer größerer Teil ihrer eigenen Mitglieder erfüllt offenkundig die für Katholiken und Katholikinnen bestehende, auch noch im CIC 1983 can 124729 normierte und in der Nr. 2181 des „Katechismus der katholischen Kirche“30 eingeschärfte Sonntagspflicht nicht mehr oder immer seltener. Diese Mehrheit der Katholiken und Katholikinnen betrachtet ausweislich ihres Handelns die Eucharistie offenkundig nicht als „Quelle“ und „Höhepunkt“31 ihres eigenen religiösen Lebens, noch hält sie überhaupt kontinuierlichen Kontakt zum kirchlichen Sozialraum.

      Das ist tatsächlich ein ziemlich neues Phänomen, zumindest für die letzten 150 Jahre der katholischen Kirchengeschichte Deutschlands, galten hier doch Anfang der 1950er Jahre noch Kirchgangsquoten von 50 Prozent32 innerhalb eines zwar in sich differenzierten, aber doch auch klar abgegrenzten „katholischen Milieus“33. Noch überwiegt das Erstaunen und Erschrecken über dieses Phänomen.

      Dass die Gläubigen den kirchlichen Anspruch immer nur ungenügend erfüllen und am kirchlichen Leben nie ganz so engagiert teilnehmen, wie die Kirche es gerne hätte, das ist ein altbekanntes Phänomen, sonst hätte es über die Jahrhunderte nicht immer die Aufforderung zu Sonntagsbesuch, Beichte und Kommunionempfang und entsprechende Sanktionierungen gebraucht. Neu aber ist die Erkenntnis, dass der Rückgang der Sonntagskirchgänger Symptom eines fundamentalen Wandels des Verhältnisses der Kirche zu ihren eigenen Mitgliedern oder besser der Mitglieder zu ihrer Kirche darstellt. Damit ist es weder mehr möglich, die radikal gewandelte Partizipationspraxis einfachhin zu übersehen noch als „volkskirchliche Laxheit“ in altbekannte Deutungsmuster einzuordnen.

      Die vorliegende Untersuchung könnte ein Schritt sein in die Neuentdeckung des Neuen unter neuen Erkenntnisperspektiven. Dazu ist vor allem notwendig, die bisherigen, quasi-selbstverständlichen Wahrnehmungsmuster zu überschreiten. Deren Gemeinsamkeit aber ist es auch im Falle der aktuellen Transformationskrise der kirchlichen Sozialformen, das Neue vom Gewohnten her zu begreifen und als dessen Abweichung zu definieren. Die neuen Realitäten sind so noch kein Grund, die eigenen Wahrnehmungsmuster umzubauen.

      Damit dies gelingt, braucht es eine Perspektivenverschiebung, deren zentrale Dynamik vom Neuen selber ausgeht. In der vorliegenden Untersuchung zeigt sich diese neue Sicht der Dinge darin, dass die Studie nicht von der Institution her fragt und von ihren – an sich ja durchaus berechtigten – Interessen an Partizipation und Integration ihrer Mitglieder her, sondern von jenen Mitgliedern und deren Selbstwahrnehmungen selber ausgeht. Dann aber zeigt sich jenseits aller nahe liegenden defizitorientierten Wahrnehmung, dass die Mehrheit der Kirchenmitglieder offenbar Partizipation und Integration auf – aus der Perspektive der Institution – ausgesprochen eigenwillige Weise realisieren, indem sie diese nämlich zugleich verweigern und aufrecht erhalten und dies aus für sie guten, geradezu „selbstverständlichen“ Gründen.

       2 Die Ausgangsprovokationen

      Im Detail signalisieren das Thema der Studie und der Titel, unter dem sie vorgestellt wird, drei neue Thesen. Es handelt sich dabei um wirkliche Provokationen für die gängigen kirchlichen Selbstwahrnehmungsmuster.

      Eine erste Herausforderung liegt bereits in der Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes. Die Wirklichkeit liegt bekanntlich nicht einfach vor, sondern bedarf ihrer begrifflichen Erschließung, wissenschaftlich definierte Wirklichkeit gar einer begrifflich kontrollierten und nachvollziehbaren Erschließung. Indem die Studie jene in den Blick nimmt, die „nur“ Kasualien in Anspruch nehmen, ansonsten aber von der Kirche praktisch nichts wollen, definiert sie eine Untersuchungsgruppe, die bislang tatsächlich merkwürdig ununtersucht und unentdeckt geblieben ist.

      Dies, obwohl das Leiden der Verantwortlichen in der Pastoral am Auszug der Gläubigen, am zurückgehenden Sonntagskirchgang und überhaupt an der schwindenden Reichweite des eigenen Handelns allüberall mit Händen zu greifen ist34 und viele Priester, pastorale Mitarbeiter und engagierte Gemeindemitglieder unter den enormen inneren Unstimmigkeiten einer Sakramentenpastoral leiden, die in Zeiten nach jeder volkskirchlichen Selbstverständlichkeit immer noch unter volkskirchlicher Fiktion abläuft.

      Der Titel der vorliegenden Untersuchung behauptet in diesem Zusammenhang im Übrigen implizit auch, dass der Kirche von sich selbst viel verborgen bleibt, insofern ihr eine große Gruppe ihrer eigenen Mitglieder unbekannt ist. Was Forschungslage und allgemeines kirchliches Bewusstsein betrifft, dürfte dies tatsächlich zutreffen, zu neu ist diese Situation und zu lang sind die Feedback-Schleifen kirchlichen (Leitungs-)Handelns und bisweilen leider auch pastoraltheologischer Aufmerksamkeit.35

      Zweitens erkennt die Studie, wiewohl sie methodisch qualitativ arbeitet, mit einiger Plausibilität in der von ihr untersuchten Gruppe der Kasualienfrommen die Mehrheit aller Gläubigen. Jenseits der halbwegs regelmäßigen Partizipanten36 und diesseits der Austretenden bzw. Austrittswilligen,37 die man beide auf ungefähr 25 Prozent wird schätzen können, wird eine Gruppe von mindestens 50 Prozent der Kirchenmitglieder anzusetzen sein, die zu dieser „unbekannten Mehrheit“ der Kasualienfrommen gehört, selbstverständlich bei fließenden Übergängen.38

      Damit wird nicht mehr und nicht weniger behauptet, als dass die katholische Kirche in Deutschland in der Mehrheit ihrer Gläubigen sich allen kirchlichen Partizipationsappellen konstant und konsequent verweigert, gleichzeitig aber an spezifischen biografischen Verdichtungspunkten auf kirchliche Ritenangebote (vorerst) ebenso konstant und verlässlich zurückgreift. Dass diese markante Abstinenz einer Mehrheit der Gläubigen von kirchlichem Leben kirchengeschichtlich durchaus keinen Sonderfall darstellt, ändert nichts an der Tatsache, dass sie dem Selbstverständnis und der Selbstwahrnehmung der katholischen Kirche der älteren Pianischen wie auch der jüngeren gemeindetheologischen Epoche markant widerspricht, wenn