Reise zum Mittelpunkt der Erde. Jules Verne

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Название Reise zum Mittelpunkt der Erde
Автор произведения Jules Verne
Жанр Научная фантастика
Серия
Издательство Научная фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783868209532



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versuchte die Buchstaben so zu gruppieren, dass sie Worte bildeten. Unmöglich. Man mochte sie zu zwei, drei, fünf oder sechs zusammenstellen, es kam durchaus nichts Verständliches dabei heraus. Doch ließ sich aus dem 14., 15. und 16. Buchstaben das englische Wort ›ice‹ bilden, aus dem 84., 85. und 86. das Wort ›Sir‹. Endlich erkannte ich mitten in dem Dokument auf der 30. Zeile die lateinischen Worte ›rota‹, ›mutabile‹, ›ira‹, ›nec‹, ›atra‹.

      ›Teufel‹, dachte ich, ›diese letzten Worte könnten meinem Onkel wohl Auskunft über die Sprache des Dokuments geben! Und da sehe ich sogar auf der vierten Zeile noch das Wort ›luco‹, das ›heiliger Hain‹ bedeutet. Zwar ist auf der dritten Zeile das Wort ›tabiled‹ zu lesen, das ganz hebräisch aussieht, und auf der letzten die Worte ›mer‹, ›arc‹, ›mère‹, die rein französisch sind.‹

      Darüber konnte man den Kopf verlieren: vier verschiedene Sprachidiome in einer sinnlosen Phrase! In welchem Zusammenhang konnten die Wörter ›Eis‹, ›Herr‹, ›Zorn‹, ›grausam‹, ›heiliger Hain‹, ›wechselnd‹, ›Mutter‹, ›Bogen‹, ›Meer‹ stehen? Das letzte und erste allein ließen sich leicht aneinander reihen. Es wäre nicht zu verwundern, wenn in einem auf Island geschriebenen Dokument von ›Eismeer‹ die Rede wäre. Aber den übrigen Teil des Geheimschriftstücks zu begreifen, war doch eine andere Aufgabe. Ich rang also mit einer unlösbaren Schwierigkeit; mein Gehirn erhitzte sich, meine Augen blinzelten bei dem Blick auf das Blatt; die 132 Buchstaben schienen um mich herumzuhüpfen, wie die Silbertropfen, die in der Luft unseren Kopf umflimmern, wenn das Blut stark dahin dringt. Es wandelten mich Phantasiegesichte an; der Atem ging mir aus, ich brauchte Luft. Unwillkürlich fächelte ich mir mit dem Blatt Papier zu, sodass mir seine Vorder- und Rückseite abwechselnd vor die Augen kamen. Wie war ich überrascht, als ich bei einem solchen raschen Umwenden vollkommen lesbare Wörter zu erkennen glaubte, lateinische Wörter, z. B. ›craterem‹, ›terrestre‹. So bekam ich auf einmal einen Geistesblitz, diese einzigen Spuren führten mich auf den Weg der Wahrheit; ich hatte den Schlüssel der Chiffre herausgefunden. Um das Dokument zu verstehen, brauchte man nicht einmal quer über auf die Rückseite des Blattes zu lesen! Nein. Gerade so, wie es war, gerade so, wie es mir diktiert wurde, konnte es flüssig buchstabiert werden. Alle geistreichen Gedanken des Professors verwirklichten sich. Hinsichtlich der Aneinanderreihung der Buchstaben hatte er Recht gehabt, ebenso hinsichtlich der Sprache. Um dieses lateinische Schreiben von Anfang bis Ende lesen zu können, bedurfte es nur noch ›Etwas‹, und dieses ›Etwas‹ wurde mir vom Zufall gegeben. Natürlich war ich sehr im Gemüt ergriffen. Meine Augen wurden trübe, sodass sie mir den Dienst versagten. Ich hatte das Papier auf dem Tisch ausgebreitet. Ich brauchte nur einen Blick darauf zu werfen, um das Geheimnis zu lüften. Endlich wurde ich meiner Bewegung mit Mühe Herr. Um meine Nerven zu beruhigen, befahl ich mir, zweimal durch das Zimmer zu gehen, darauf wiegte ich mich wieder in dem großen Lehnstuhl.

      »So will ich lesen!«, rief ich aus, nachdem ich aus tiefer Brust geatmet hatte. Ich neigte mich über den Tisch, verfolgte mit dem Finger der Reihe nach jeden Buchstaben, und las, ohne anzuhalten, ohne einen Augenblick zu stocken, mit lauter Stimme den ganzen Satz. Aber welche Bestürzung, welcher Schrecken überfiel mich! Anfänglich stand ich wie vom Schlag gerührt. Wie! Was ich eben gelernt hatte, war schon am Ziel! Ein Mensch war kühn genug, dahin zu dringen!

      »Ah!«, rief ich hüpfend aus. »Nein! Nein! Mein Onkel soll es nicht erfahren! Er würde unfehlbar eine solche Reise unternehmen! Er würde auch diesen Genuss haben wollen! Nichts würde ihn abhalten können! Ein so entschlossener Geologe! Er würde auf jeden Fall hinreisen, trotz allem! Und er würde mich mitnehmen, um nimmer heimzukehren! Niemals! Nie!«

      Ich war in unbeschreiblicher Aufregung.

      »Nein! Nein! Das wird nicht geschehen«, sagte ich mit Nachdruck. »Und da es in meiner Macht steht, zu verhindern, dass meinem Tyrannen eine solche Idee in den Sinn komme, so will ich es tun. Wenn er das Dokument auch hin und her wendet, könnte er zufällig den Schlüssel desselben entdecken! So will ich es lieber vernichten.«

      Im Kamin war noch ein wenig Feuer. Ich ergriff nicht allein das Blatt Papier, sondern auch das Pergament des Saknussemm; mit fieberhaft zitternder Hand war ich im Begriff, es miteinander auf die Kohlen zu werfen, und so das gefährliche Geheimnis zu vernichten. Da öffnete sich die Tür des Zimmers und mein Onkel trat ein.

      5. Die Entschlüsselung des Dokuments

      FÜNFTES KAPITEL Die Entschlüsselung des Dokuments

      I

      ch hatte nur noch Zeit, das unglückselige Dokument wieder auf den Tisch zu legen. Der Professor Lidenbrock schien gänzlich erschöpft. Der ihn beherrschende Gedanke ließ ihm keinen Augenblick Ruhe; er hatte während seines Spaziergangs offenbar die Sache überdacht, zergliedert, alle Hilfsquellen seines Geistes erschlossen, und er kam zurück, einen neuen Gedanken zu verfolgen. In der Tat setzte er sich in seinen Lehnstuhl, ergriff die Feder und fing an, Formeln niederzuschreiben, die einem algebraischen Rechenexempel glichen. Meine Blicke begleiteten seine zitternde Hand; ich ließ mir nicht eine einzige seiner Bewegungen entgehen. Sollte sich wohl unversehens ein unverhofftes Resultat ergeben? Ich zitterte, doch ohne Grund, denn da die einzig richtige Verbindungsweise bereits aufgefunden war, so musste jedes weitere Nachforschen wohl oder übel vergeblich sein. Drei Stunden lang arbeitete mein Onkel, ohne zu reden, ohne den Kopf zu heben, tilgte aus, schrieb weiter, radierte, fing tausendmal von neuem an. Ich wusste wohl, dass, wenn er es schaffen würde, diese Buchstaben in alle möglichen Verbindungen miteinander zu bringen, die Phrase dabei herauskäme. Aber, ich wusste auch, dass sich aus nur 20 Buchstaben 2 Quintillionen, 432 Quadrillionen, 902 Trillionen, 8 Milliarden, 176 Millionen, 614.000 Verbindungen bilden lassen. Nun waren in der Phrase 132 Buchstaben vorhanden, und diese 132 ergaben eine Anzahl verschiedener Phrasen, die mindestens aus 133 Ziffern bestanden, eine Zahl, die fast zu zählen unmöglich ist, und über alle Schätzungen hinausgeht. Bezogen auf diese unermesslich hohe Zahl an Möglichkeiten war ich beruhigt.

      Inzwischen verfloss die Zeit; es wurde Nacht; der Lärm der Straßen verstummte; mein Onkel, stets über seiner Aufgabe, sah nichts, selbst die gute Martha nicht, als sie die Tür öffnete; er hörte nichts, selbst die Stimme dieser guten Dienerin nicht, als sie sagte:

      »Wird der Herr diesen Abend speisen?«

      Auch Martha musste sich ohne Antwort zurückziehen. Ich für meinen Teil, nachdem ich einige Zeit standgehalten hatte, verfiel in einen unausweichlichen Schlaf, und ich schlief an einem Ende des Kanapees ein, während mein Onkel Lidenbrock immer weiterrechnete und stets ausstrich.

      Als ich am folgenden Morgen wieder erwachte, war der unermüdliche Forscher immer noch bei der Arbeit. Seine roten Augen, seine bleifarbige Haut, seine verwirrten Haare unter seiner fieberhaften Hand, seine geröteten Wangen, gaben hinlänglich seinen Kampf mit dem Unmöglichen zu erkennen, und in welcher Erschöpfung des Geistes, welcher Anstrengung des Gehirns ihm die Stunden verfließen mussten. Wahrlich, er dauerte mich. Trotz der Vorwürfe, die ich glaubte ihm machen zu dürfen, war ich einigermaßen gerührt. Der arme Mann war dermaßen von seiner Idee eingenommen, dass er sich zu erzürnen vergaß. Alle seine Lebenskräfte konzentrierten sich auf einen einzigen Punkt, und da sie nicht ihren gewöhnlichen Ableitungsweg hatten, so konnte man fürchten, ihre Spannung werde ihm jeden Augenblick den Kopf zersprengen. Ich konnte den eisernen Schraubstock, in dem sein Schädel eingespannt zu sein schien, mit einer Handbewegung, mit einem einzigen Wort lockern! Aber ich tat es nicht. Doch war ich gutmütig. Weshalb blieb ich denn unter solchen Umständen stumm? Einzig und allein im Interesse meines Onkels.

      ›Nein, nein‹, dachte ich immerzu. ›Nein, ich werde nicht reden! Er würde hinreisen wollen, ich kenne ihn, nichts würde ihn zurückhalten können. Es ist ein vulkanischer Gedanke, und um zu tun, was andere Geologen nicht getan haben, würde er sein Leben riskieren. Ich will schweigen; ich will das Geheimnis, in dessen Besitz mich der Zufall gesetzt hat, für mich behalten! Es ihm mitzuteilen wäre sein Tod. Er mag es erraten, wenn er kann. Ich will mir nicht einen einzigen Tag den Vorwurf aufbürden, ihn in sein Verderben geführt zu haben!‹

      Nachdem ich diesen Entschluss gefasst hatte, kreuzte ich die