Название | Zwischen Sehnsucht und Schande |
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Автор произведения | Lisbeth Herger |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039198634 |
Die vergleichende Lektüre der Gerichtsakten zeigt, wie der Enkel feststellt, dass die Behörden ihren deutenden Blick auf das Verhalten der straffälligen Anna Maria immer mehr verändern. Wurde früher die Armut als Ursache ihres Fehlverhaltens zumindest noch erwähnt und mit bedacht, wird neuerdings mehr grundsätzlich qualifiziert, wird immer häufiger von «Minderwertigkeit» und «Geringwertigkeit» der Angeklagten gesprochen. Anna Maria wird zunehmend zu einem Menschen zweiter Klasse mit charakterlichen Mängeln, die auch biologisch begründet sind. Da sickert ganz langsam eugenisches Denken ( → Eugenik), seit Beginn des Jahrhunderts von Medizinern vorangetrieben, in die Köpfe der Justiz und Behörden. Abweichendes Verhalten wird genetisch verankert, das entsprechende Erbgut ist minderwertig, es gilt, dessen Weitergabe zu verhindern. Diese Denkart findet sich nun vermehrt auch in der behördlichen Wahrnehmung der Straftäterin Anna Maria. Zum Beispiel bei der Bemessung der Schuld des Abtreibungshelfers Peter H.: Die Richter erwägen für ihn eine Strafmilderung, weil seine Hilfe eine sittlich so tief stehende Person wie die Looser betrifft. Im Klartext heisst dies, dass nicht jeder Fötus gleichwertig ist und man auf den Nachwuchs, wie ihn eine Anna Maria Boxler hervorbringt, nur zu gerne verzichtet hätte.
Es gibt im selben Urteil noch eine kleine Geschichte, die dasselbe Denkmuster entlarvt. Es geht um eine seltsam anrührende Sonderbarkeit im Verhalten von Anna Maria, die selbst ihren Enkel irritiert. Seine Grossmutter hat nämlich den abgetriebenen Fötus nicht einfach weggeworfen, etwa ins Plumpsklo gespült oder im Ofen verbrannt, sondern sie hat die abgegangene Leibesfrucht in einem Papier aufbewahrt, mit sich herumgetragen und dieselbe verschiedenen Personen vorgezeigt. Für die Herren Richter war dieses Verhalten ein einziger widerwärtiger Beweis ihrer verkommenen Abartigkeit. Weitere Nachfragen waren für sie nicht nötig. Das Verdikt des sittlichen Mangels ersetzte jede andere Interpretation.
Der Enkel erzählt seiner Frau vom merkwürdigen Verhalten seiner Grossmutter, und abends, bei einem Glas Wein zu Hause auf der Couch, suchen sie nach möglichen Erklärungen. Man kann das eigentümliche Konservieren und Mittragen eines abgetriebenen Fötus ja auch ganz anders lesen denn als Ausdruck biologischer Dekadenz. Mag sein, dass die sechsfache Mutter und in Fehlgeburten Erfahrene sich tatsächlich freute an diesem kleinen Sieg über ihre inzwischen lästige Fruchtbarkeit, der sie seit fünfzehn Jahren, seit ihrer Heirat, schutzlos ausgeliefert ist und die sie in den Würgegriff brutaler Armut trieb. Mag sogar sein, dass sie im privaten Kreis ein wenig triumphierte, weil es ihr diesmal gelungen war, den unerwünschten Kindersegen, dem sie durch ihr eigenes Begehren und noch weit mehr durch jenes ihrer Männer unterworfen war, für einmal zu stoppen. Es kann aber auch sein, und das scheint mit Blick auf spätere Quellen sogar wahrscheinlicher, dass der in Papier gewickelte Fötus ein Fetisch der Trauer war. Gehütet von einer Mutter, die wider ihren Willen von all ihren Kindern getrennt lebte und die, so sehr sie sich ein neues Kind von ihrem neuen Geliebten auch wünschen mochte, keinen andern Weg sah, als sich von diesem Kind, das da in ihrem Bauch zu werden begann, wieder zu trennen. Zu verfahren war dieses Leben, zu aussichtslos die Situation, zu gross die Gefahr, dass ihr auch dieses Kind wieder genommen werde. Zu düster also ihre Vorahnungen, zu realistisch und hellsichtig, wie die Geschichte ihr noch bestätigen wird. Der tote Fötus also als Teil eines ganz privaten Rituals von Abschied und Trauer, von einer, der man Gefühle, und schon gar nicht solche, gar nicht mehr zugesteht.
Zurück zum Prozess im St. Galler Bezirksgericht. Denn es lohnt sich, hier noch einen Blick auf den einzigen Freispruch in diesem Sammelprozess zu werfen. Auch er ist ein interessantes Zeugnis für diskrete Eugenik im juristischen Betrieb. Freigesprochen wird Rosa Sch., die Wirtin vom «Schöntal». Sie ist, wie bereits vermerkt, wegen fortgesetzter Gehilfenschaft angeklagt. Man kann es sich gut vorstellen: Im Schutz ihres Wirtshauses an der Schwertgasse wird logiert und gearbeitet, werden Bekanntschaften gemacht, Informationen ausgetauscht, Medikamente verkauft. Am Stammtisch sitzt zuverlässig der stadtbekannte Engelmacher Peter H., alle wissen Bescheid, auch die Wirtin, das versteht sich von selbst. So beschreiben es die Mitangeklagten, es leuchtet ein, auch den Herren Richtern: Es kann als sehr unwahrscheinlich bezeichnet werden, dass der Wirtin von der Schwangerschaftsbeseitigung bzw. dem Plane hiezu nichts bekannt war, zumal nicht nur die J., sondern vorübergehend auch die Looser im Hause zum «Schöntal» Aufnahme fand. Die Mitangeklagten, die gleichzeitig auch Zeugen sind, belasten die Wirtin weiter: Sie habe nicht nur gewusst, sondern auch vermittelt und aktiviert, habe also an den Süppchen mitgekocht und so natürlich auch Kundschaft ins Wirtshaus geholt. Auch diese Aussagen werden zu Protokoll genommen. Doch im Gegensatz zu vorher verlieren sie nun plötzlich ihre Glaubwürdigkeit. Die Looser ist eine verkommene Person, auch die J. weist nach den polizeilichen Berichten keinen guten Leumund auf, ebenso kann dem als Zeugen befragten Liebhaber der Looser, Julius Müller, nicht die Qualität eines vollwertigen Zeugen zuerkannt werden. Eine bemerkenswerte Wende. Personen, die eben noch als rechtsgültige Zeugen vernommen wurden, sind in ihrer Integrität plötzlich fragwürdig, gelten nicht mehr als ernst zu nehmende Zeugen. Ein willfähriger, schroffer Wechsel, in ein und demselben Prozess, in klarer Absicht: Es fehlt angesichts der offenbaren Geringwertigkeit der Belastungszeugen an einem rechtsgenüglichen Beweise […], denn ausser dem als minderwertig bezeichneten Beweismaterial, den Aussagen Looser, J. und Müller, sind Belastungsmomente nicht vorhanden. Was nichts anderes bedeutet, als dass Rosa Sch., die Wirtin vom «Schöntal», freigesprochen werden muss.
Aber warum gerade sie, grübelt der Enkel, warum diese fast schon schamlose Willkür, wenn es um die Wirtin geht? Vielleicht hat einer der Richter noch eine kleine Zeche offen bei ihr, fantasiert er vor sich hin, vielleicht gibt es gar eine kleine geheime Liaison, was weiss man schon. Später, zu Hause, beim Wiederlesen des Urteils, entdeckt er den klärenden Schlüssel. Da steht es ja, vorne, ganz am Schluss des mit Staatswappen und Ornamenten geschmückten Rubrums des Urteils, nach der Auflistung der Namen der Richter und der Angeklagten mit ihren Delikten, da steht neben der Rosa Sch., gleichmütig dazugesetzt, sowie des Verteidigers von Frau Sch., Dr. A. Kaier, St. Gallen. Die Wirtin hat also als einzige der Angeklagten einen Anwalt in die Verhandlung gebracht, einen, der ihr professionell zur Seite steht in der Beteuerung ihrer Unschuld. Das klärt die Sache, denkt sich der Enkel, da hat einer gute Arbeit geleistet, der Einsatz hat sich gelohnt, die Rechnung ist, zumindest für die Wirtin, aufgegangen.
Ob die fünf andern, die Verurteilten, das kleine Ränkespiel bemerkt haben, weiss man nicht. Dass ihr Wort nicht viel gilt, dass das Recht kaum je auf ihrer Seite steht, ist ja nicht neu in ihrem Leben. Und so ist denn ihr Interesse am Wortlaut des Urteils gering, sie verzichten allesamt auf die offizielle Zustellung der schriftlichen Fassung. Und Anna Maria ist vielleicht einfach nur erleichtert, dass die Strafe nicht höher ausfällt und dass sie nicht ins Zuchthaus, sondern «nur» ins Arbeitshaus weggesperrt wird. Dort ist das Haftregiment nämlich ein bisschen weniger hart.
Bei Eintritt in die Anstalt wird im Stammbuch nebst dem unauslöschbaren Vermerk ihrer illegitimen Herkunft noch immer eine Anämie festgehalten. Diese ist also noch nicht ausgeheilt. Weiter erfährt man, dass sie diesmal in die Wäscherei eingeteilt wird und dass ihr Betragen nun als mittelmässig beurteilt wird. Und – ein doch bemerkenswertes Detail – es wird klar, dass ihr die zwei Monate Untersuchungshaft, die sie bis zum Prozess schon abgesessen hat, nicht, wie man erwarten würde, angerechnet werden. Erst auf den Tag genau vier Monate nach offiziellem Strafantritt wird sie wieder entlassen.
Die nächsten Monate sind erneut eine Zeit des unsteten Wanderns ohne festen Wohnsitz. In St. Gallen notiert man auf der Meldekarte am Rand, sie sei nach Winden bei Häggenschwil abgeschoben worden. Was sie gerade dort, im kleinen Kaff an der Kantonsgrenze, gemacht haben soll, bleibt unklar. Einen Monat später kommt sie zurück nach St. Gallen, wird wenig später in ihren Bürgerort heimgeschafft, landet vermutlich in der Armenanstalt, was Arbeitszwang, Aufsicht und Verlust jeder Autonomie bedeutet.
Lange hat sie es dort nicht ausgehalten. Jedenfalls wird sie bald danach wieder in St. Gallen registriert, an der Kirchgasse, bei ihrem Julius. Und sie hat gute Gründe, sich für die nächste Zeit ein Nest zu suchen. Sie ist wieder schwanger und gebiert – just neun Monate nach ihrer Haftentlassung